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Die generalisierenden nationalen Mottos

Im Dokument 33 3 (Seite 150-154)

4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN 420

4.1. AUSWEGE AUS DER SOWJETISCHEN GEGENWART:

4.1.3. Die generalisierenden nationalen Mottos

440 Багрецов, Д. Н.: Духовный реализм и творческая индивидуальность, 369.

441 Ebd.: „Следовательно, суть конфликта – в бессмысленности жизни ради материаль-ных благ, без духовной наполненности. Однако конфликт не ограничивается этим. Т.

Кибиров смотрит глубже: было бы правильнее сказать, что речь идет о пустоте и оши-бочности материалистического мировоззрения.“

442 Ignatow, Assen: Die mühsame Entdeckung des Individuums, 10: „Für zahlreiche Kommu-nisten der heroischen Zeit war die von einem finsteren Fanatismus durchdrungene Bereit-schaft charakteristisch, auf den eigenen seelischen Reichtum zu verzichten, ihn ‚aufzuopfern‘

– ad majorem Dei gloriam.“

4.1. Auswege aus der sowjetischen Gegenwart: Рождественские аллегории 135 Christentum, das Kibirov - wenn auch mit leichter Ironie – als Alternative kon-zipiert, in den Texten immer mit einer erfüllten Liebesbeziehung zusammenge-dacht, d. h. in seiner lebenspraktischen Anwendung gezeigt. Entsprechend wird am Ende der vierten Allegorie, die das Evangelium als Ausweg anpreist, die Perspektive einer realen Gemeinschaft entwickelt. Lehrerin Jul’ja Petrovna soll die gekaufte Torte teilen (eine amüsante Variation des Brotbrechens) und zu-sammen mit dem Sprecher in der Bibel lesen (Hervorhebungen von mir; M. R.):

Ну пойми же, пойми! Угости нас тортóм!

Или тóртом! Не надо сердиться!

Ну давай же о Лазаре вместе прочтем,

как когда-то убийца с блудницей. [Str. 12]

Bagrecov weist auf die hier inbegriffene Dostoevskij-Reminiszenz hin, der Mörder und die Sünderin sind Raskol’nikov und Sonja.443 In der Tat gehen auch bei Dostoevskij Umkehr und Liebe Hand in Hand, allerdings sind bei Kibirov die Gender-Marker vertauscht und die Raskol’nikov-Rolle wird von einer Frau gespielt. Die Allusion auf einen derart bekannten Bezugstext und der Vergleich der recht harmlosen Probleme von Kibirovs Lehrerin mit den dort geschilderten dramatischen Ereignissen mischt dem Appell erneut einen komischen Stilbruch bei, da mit Pathos über etwas Alltägliches gesprochen wird.

4.1.3. Die generalisierenden nationalen Mottos

Die vier Personen sind trotz ihrer individuellen Schicksale als Typen zu verste-hen, die tiefliegende Probleme der Gesellschaft verkörpern. Eine solche genera-lisierende Ausdeutung wird durch die Bezeichnung als „Allegorien“

eingefordert und durch die den Gedichten jeweils vorangestellten Mottos ver-stärkt, die aus recht bekannten Prätexten mit Russland-Thematik stammen.

Das allen vier Epigraphen gemeinsame nationale Thema schiebt sich dabei gegenüber den eher schwachen Verbindungen mit dem jeweiligen Einzeltext in den Vordergrund.

Das Motto der ersten Allegorie spielt eine besondere Rolle, da es gleich-zeitig eine Gesamtperspektive auf den Zyklus entwirft. Es handelt sich um einen Vers aus Vladimir Nabokovs 1939 in Paris geschriebenem Gedicht К России, das den Abschied vom Vaterland schildert444 (der Autor selbst verließ Russland direkt nach der Revolution, 1940 ging die Familie in die USA). Wie den übrigen Strophen zu entnehmen ist, vollzieht sich die Trennung bewusst und

443 Багрецов, Д. Н.: Духовный реализм и творческая индивидуальность, 369–370.

444 Nabokov, Vladimir: Poems and Problems. New York et al.: McGraw-Hill 1970. 96–99 (russ. mit Übers. des Autors). Мартынов, Г. Г.: В. В. Набоков. Библиографический указа-тель произведений и литературы о нем, опубликованных в России и государствах быв-шего СССР (1920–2006). СПб.: Альфарет 2007 verzeichnet erste offizielle sowjetische Publikationen des Gedichts für 1987.

134 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN КСП и Айтматов, и сердце горит –

Сальвадор, Никарагуа, Ольстер...

Старший прапорщик будет ей снова звонить.

Только он бездуховный и толстый. [Str. 6–7]

Die Leere im Privatleben, die die Lehrerin durch Kulturkonsum zu füllen ver-sucht, wird von ihr durch Selbstbeschwichtigungen kleingeredet:

На каникулах будет печально чуть-чуть.

Впрочем, театры, концертные залы

приглашают тебя… Ничего. Как-нибудь. [Str. 8]

Kibirovs Weihnachtsallegorien skizzieren also Normalbürger und -bürgerinnen, die im System mitlaufen und es mittragen: Literat, Veteran, Lehrerin. Allein die erste Protagonistin stellt eine gewisse Ausnahme dar, da sie mit den Normen kollidierte und am Rande der Gesellschaft steht. Sie passt aber insofern ins Bild, dass ihre Sozialisation ebenfalls in sowjetischen Erziehungs- und Bildungsan-stalten stattfand. Keine der Figuren weist eine anti-sowjetische Haltung auf.

Alle vier werden in Krisensituationen geschildert. Anders als Bagrecov meint, bestehen ihre Probleme bzw. Fehler nicht in einem Leben für das Materielle und fehlender „Geistigkeit“. Er hat zwar recht, wenn er auf einen Kontrast zwischen der Lebensmittelfülle (Allegorie 1, 3, 4) und der inneren Leere hinweist.440 Al-lerdings haben sich zumindest drei der vier Personen für ideelle Ziele engagiert:

im Krieg gegen die Klassenfeinde, durch das Schreiben, durch das ideologisch konforme Unterrichten. Dies als Pseudo-Geistigkeit („своего рода духовность“) zu bezeichnen und aus einer „materialistischen“ Weltsicht zu er-klären,441 trifft das Problem nicht. Es handelt sich eher um Ideen und Idealismus, die nicht bzw. falsch auf die konkrete Umwelt der Personen zurückwirken.

Durch das Engagement in der Schule oder den Kulturkonsum ändert sich im Privatleben der Lehrerin nichts zum Besseren; der Veteran wurde zu Kriegsver-brechen angeleitet und der Staat kann ihm die fehlende Familie nicht ersetzen;

der ältere Dichter findet keine gemeinsame Sprache mit den pubertierenden Teenagern; die einsame Trinkerin scheitert in ihrem Wunsch nach Gesellschaft.

Diese Schicksale stehen für die Konsequenzen der sowjetischen Werteord-nung, die in der Tat eine Unterordnung des eigenen Lebensglücks unter gesell-schaftliche Ziele und abstrakte Ideale verlangte.442 Im Gegensatz dazu wird das

440 Багрецов, Д. Н.: Духовный реализм и творческая индивидуальность, 369.

441 Ebd.: „Следовательно, суть конфликта – в бессмысленности жизни ради материаль-ных благ, без духовной наполненности. Однако конфликт не ограничивается этим. Т.

Кибиров смотрит глубже: было бы правильнее сказать, что речь идет о пустоте и оши-бочности материалистического мировоззрения.“

442 Ignatow, Assen: Die mühsame Entdeckung des Individuums, 10: „Für zahlreiche Kommu-nisten der heroischen Zeit war die von einem finsteren Fanatismus durchdrungene Bereit-schaft charakteristisch, auf den eigenen seelischen Reichtum zu verzichten, ihn ‚aufzuopfern‘

– ad majorem Dei gloriam.“

4.1. Auswege aus der sowjetischen Gegenwart: Рождественские аллегории 135 Christentum, das Kibirov - wenn auch mit leichter Ironie – als Alternative kon-zipiert, in den Texten immer mit einer erfüllten Liebesbeziehung zusammenge-dacht, d. h. in seiner lebenspraktischen Anwendung gezeigt. Entsprechend wird am Ende der vierten Allegorie, die das Evangelium als Ausweg anpreist, die Perspektive einer realen Gemeinschaft entwickelt. Lehrerin Jul’ja Petrovna soll die gekaufte Torte teilen (eine amüsante Variation des Brotbrechens) und zu-sammen mit dem Sprecher in der Bibel lesen (Hervorhebungen von mir; M. R.):

Ну пойми же, пойми! Угости нас тортóм!

Или тóртом! Не надо сердиться!

Ну давай же о Лазаре вместе прочтем,

как когда-то убийца с блудницей. [Str. 12]

Bagrecov weist auf die hier inbegriffene Dostoevskij-Reminiszenz hin, der Mörder und die Sünderin sind Raskol’nikov und Sonja.443 In der Tat gehen auch bei Dostoevskij Umkehr und Liebe Hand in Hand, allerdings sind bei Kibirov die Gender-Marker vertauscht und die Raskol’nikov-Rolle wird von einer Frau gespielt. Die Allusion auf einen derart bekannten Bezugstext und der Vergleich der recht harmlosen Probleme von Kibirovs Lehrerin mit den dort geschilderten dramatischen Ereignissen mischt dem Appell erneut einen komischen Stilbruch bei, da mit Pathos über etwas Alltägliches gesprochen wird.

4.1.3. Die generalisierenden nationalen Mottos

Die vier Personen sind trotz ihrer individuellen Schicksale als Typen zu verste-hen, die tiefliegende Probleme der Gesellschaft verkörpern. Eine solche genera-lisierende Ausdeutung wird durch die Bezeichnung als „Allegorien“

eingefordert und durch die den Gedichten jeweils vorangestellten Mottos ver-stärkt, die aus recht bekannten Prätexten mit Russland-Thematik stammen.

Das allen vier Epigraphen gemeinsame nationale Thema schiebt sich dabei gegenüber den eher schwachen Verbindungen mit dem jeweiligen Einzeltext in den Vordergrund.

Das Motto der ersten Allegorie spielt eine besondere Rolle, da es gleich-zeitig eine Gesamtperspektive auf den Zyklus entwirft. Es handelt sich um einen Vers aus Vladimir Nabokovs 1939 in Paris geschriebenem Gedicht К России, das den Abschied vom Vaterland schildert444 (der Autor selbst verließ Russland direkt nach der Revolution, 1940 ging die Familie in die USA). Wie den übrigen Strophen zu entnehmen ist, vollzieht sich die Trennung bewusst und

443 Багрецов, Д. Н.: Духовный реализм и творческая индивидуальность, 369–370.

444 Nabokov, Vladimir: Poems and Problems. New York et al.: McGraw-Hill 1970. 96–99 (russ. mit Übers. des Autors). Мартынов, Г. Г.: В. В. Набоков. Библиографический указа-тель произведений и литературы о нем, опубликованных в России и государствах быв-шего СССР (1920–2006). СПб.: Альфарет 2007 verzeichnet erste offizielle sowjetische Publikationen des Gedichts für 1987.

136 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

nimmt Opfer in Kauf; der Abschied wird als notwendig empfunden, geschah jedoch unfreiwillig. In der ersten Strophe, aus der das Motto stammt, wird das schmerzliche Wegstoßen der (geliebten) Heimat beschrieben, die Nabokovs Sprecher nicht loslassen will:

Отвяжись – я тебя умоляю!

Вечер страшен, гул жизни затих.

Я беспомощен. Я умираю от слепых наплываний твоих.

Dieser Mottovers (von mir fett hervorgehoben) wird in Str. 9 von Kibirovs erster Allegorie noch einmal variiert und auf die Protagonistin übertragen:

Что ж, сучара, ты ждешь, что, блядища, глядишь, улыбаешься, дура такая?

Ну-ка, выкуси шиш, отвяжись, отвяжись, не дыши на меня, умоляю!..

Desjatov, der die Nabokov-Rezeption in der russischen Postmoderne untersucht, sieht in diesen Beschimpfungen (v. a. блядища) eine Verbindung zu einem wei-teren Nabokov-Text, zu Pale Fire. Der Name des dort erwähnten Phantasielan-des Zemblja bestehe aus den Komponenten земля und блядь; es ließe sich auch ein Ausspruch von Sinjavskij anführen: „Россия – сука.“ Kibirovs Figur sei als Verkörperung des (weiblichen) Russlands als Hure oder Schlampe zu deuten.445 Diese Interpretation als nationale Repräsentantin macht Sinn, jedoch gilt das auch für die Protagonisten der anderen Allegorien. Für die Interpretation pro-duktiver als die genaue intertextuelle Herkunft der Figur – wobei Desjatovs Lokalisierungen nicht unbedingt zwingend erscheinen – ist der mit dem Motto intentional gesetzte Bezug auf Nabokovs Gedicht, das mit Kibirovs Allegorie die Grundstimmung teilt: den schmerzlichen Rückblick auf die eigene Vergan-genheit und die empfundene Einsamkeit. Mit Nabokovs ambivalenter Hassliebe zur Heimat kann man auch die Haltung von Kibirovs Erzähler bzw. Sprecher gegenüber seiner Figur (und der UdSSR) vergleichen.

Das Motto der zweiten Allegorie geht auf das Lied „C чего начинается Родина?..“ zurück (1967; T: Michail Matusovskij, M.: V. Basner446), das im bekannten sowjetischen TV-Mehrteiler Щит и меч (1968) erklang. Das Lied lässt retrospektiv Momente passieren, die Heimatverbundenheit suggerieren, von Bildern aus Kinderbüchern bis zum Treueschwur. Eine Verbindung zwi-schen Motto und Gedicht ergibt sich durch die Zielsetzung des Prätextes, der die Hörerinnen und Hörer in der gemeinsamen Erinnerung zu einer Art

445 Десятов, В. В.: Набоков и русские постмодернисты, 266–267. Russland als ‚Schlampe‘

tauche darüber hinaus auch in der Aufzählung von Personen im Epilogteil von Сквозь прощальные слезы auf, die Russland verkörpern. Desjatov führt eine wörtliche Parallele an:

Рождественские аллегории 1, Str. 4: „Лишь у вытачки левой осталось пятно.“; Сквозь прощальные слезы – Эпилог, Str.3: „И пьяницу с пятном у левой вытачки“.

446 Песенник анархиста и подпольщика; Русские советские песни (1917–1977), 485.

4.1. Auswege aus der sowjetischen Gegenwart: Рождественские аллегории 137 meinschaft vereinen will. In Kibirovs Allegorie ist dieses Kollektiv allerdings zerfallen, der Protagonist wird mit der ideellen Kluft zu den sich am Westen ausrichtenden und offen gegen gesellschaftliche Normen rebellierenden Jugend-lichen konfrontiert.

Das Motto zu Allegorie 3 stammt aus Aleksandr Bloks Gedicht „Грешить бесстыдно, непробудно,…“ (1914, Zyklus Родина447). Am Beispiel des ambi-valenten Verhältnisses zur Religion wird dort Russland als Kultur der Paradoxe und Extreme charakterisiert: Während in der Kirche Religiosität demonstriert werde, übervorteile man sich im Geschäftsalltag. Trotz oder vielmehr aufgrund dieser Widersprüchlichkeit endet Bloks Gedicht mit einer Liebeserklärung an das Vaterland:

Да, и такой, моя Россия, Ты всех краев дороже мне.

Dieses patriotische Motiv (bei Kibirov wird der fett gedruckte Vers zitiert) passt zur Gesinnung des in der Allegorie vorgestellten Veteranen. Weiterhin findet sich bei dem Protagonisten eine ähnliche paradoxe Verbindung von Heldentum und Verbrechen.

Der vierten Allegorie ist ein Zitat aus Trediakovskijs panegyrischem Gedicht Стихи похвальные России (1728) vorangestellt. Zitiert wird aus Str. 2:

„Россия мати! свет мой безмерный!“448 Ein Berührungspunkt zu Kibirov be-steht vielleicht darin, dass es sich bei dem Gedicht um einen bekannten Text handelt, der ein sehr frühes Beispiel patriotischer Dichtung darstellt,449 und die Protagonistin Lehrerin ist.

Dass die vier Mottos durch die nationale Thematik miteinander verbunden sind und sich eher schwach auf das jeweilige Einzelgedicht rückbeziehen, be-wirkt zum einen eine Generalisierung der Fallbeispiele. Zum anderen wird durch das patriotische Leitmotiv die Differenz zwischen Nationalstolz und der be-schriebenen kläglichen Realität potenziert, was sowohl auf der emotionalen Ebene berührt als auch Ironie beinhaltet. Das Zitat aus Nabokovs Gedicht, das die Trennung von der mit Hassliebe betrachten Heimat vollzieht, gibt weiterhin eine Gesamtlesart vor, die auf einen Abschied von der am Beispiel der vier Protagonist/innen geschilderten lähmenden sowjetischen Gegenwart zielt.

447 Блок, А. А.: Полное собрание сочинений и писем. В 20 т. М.: Наука 1997–. Т. 3. 185.

In der ansonsten verwendeten sowjetischen Ausgabe Блок, Александр: Собрание сочинений. В 6 т. Л.: Художественная литература 1980–1983. Т. 2. 233–234 fehlt die Zyklus-Zuordnung.

448 Тредиаковский, B. K.: Избранные произведения. М.; Л.: Советский писатель 1963.

60–61.

449 Stahl, Henrieke: Wer sitzt auf dem Thron? Russland und Europa in Vasilij Trediakovskijs Stichi pochval’nye Rossii. In: Ressel, Gerhard; Stahl, Henrieke (Hgg.): Die Slaven und Euro-pa. Frankfurt a. M. et al.: Peter Lang 2008. 317–343. 317.

136 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

nimmt Opfer in Kauf; der Abschied wird als notwendig empfunden, geschah jedoch unfreiwillig. In der ersten Strophe, aus der das Motto stammt, wird das schmerzliche Wegstoßen der (geliebten) Heimat beschrieben, die Nabokovs Sprecher nicht loslassen will:

Отвяжись – я тебя умоляю!

Вечер страшен, гул жизни затих.

Я беспомощен. Я умираю от слепых наплываний твоих.

Dieser Mottovers (von mir fett hervorgehoben) wird in Str. 9 von Kibirovs erster Allegorie noch einmal variiert und auf die Protagonistin übertragen:

Что ж, сучара, ты ждешь, что, блядища, глядишь, улыбаешься, дура такая?

Ну-ка, выкуси шиш, отвяжись, отвяжись, не дыши на меня, умоляю!..

Desjatov, der die Nabokov-Rezeption in der russischen Postmoderne untersucht, sieht in diesen Beschimpfungen (v. a. блядища) eine Verbindung zu einem wei-teren Nabokov-Text, zu Pale Fire. Der Name des dort erwähnten Phantasielan-des Zemblja bestehe aus den Komponenten земля und блядь; es ließe sich auch ein Ausspruch von Sinjavskij anführen: „Россия – сука.“ Kibirovs Figur sei als Verkörperung des (weiblichen) Russlands als Hure oder Schlampe zu deuten.445 Diese Interpretation als nationale Repräsentantin macht Sinn, jedoch gilt das auch für die Protagonisten der anderen Allegorien. Für die Interpretation pro-duktiver als die genaue intertextuelle Herkunft der Figur – wobei Desjatovs Lokalisierungen nicht unbedingt zwingend erscheinen – ist der mit dem Motto intentional gesetzte Bezug auf Nabokovs Gedicht, das mit Kibirovs Allegorie die Grundstimmung teilt: den schmerzlichen Rückblick auf die eigene Vergan-genheit und die empfundene Einsamkeit. Mit Nabokovs ambivalenter Hassliebe zur Heimat kann man auch die Haltung von Kibirovs Erzähler bzw. Sprecher gegenüber seiner Figur (und der UdSSR) vergleichen.

Das Motto der zweiten Allegorie geht auf das Lied „C чего начинается Родина?..“ zurück (1967; T: Michail Matusovskij, M.: V. Basner446), das im bekannten sowjetischen TV-Mehrteiler Щит и меч (1968) erklang. Das Lied lässt retrospektiv Momente passieren, die Heimatverbundenheit suggerieren, von Bildern aus Kinderbüchern bis zum Treueschwur. Eine Verbindung zwi-schen Motto und Gedicht ergibt sich durch die Zielsetzung des Prätextes, der die Hörerinnen und Hörer in der gemeinsamen Erinnerung zu einer Art

445 Десятов, В. В.: Набоков и русские постмодернисты, 266–267. Russland als ‚Schlampe‘

tauche darüber hinaus auch in der Aufzählung von Personen im Epilogteil von Сквозь прощальные слезы auf, die Russland verkörpern. Desjatov führt eine wörtliche Parallele an:

Рождественские аллегории 1, Str. 4: „Лишь у вытачки левой осталось пятно.“; Сквозь прощальные слезы – Эпилог, Str.3: „И пьяницу с пятном у левой вытачки“.

446 Песенник анархиста и подпольщика; Русские советские песни (1917–1977), 485.

4.1. Auswege aus der sowjetischen Gegenwart: Рождественские аллегории 137 meinschaft vereinen will. In Kibirovs Allegorie ist dieses Kollektiv allerdings zerfallen, der Protagonist wird mit der ideellen Kluft zu den sich am Westen ausrichtenden und offen gegen gesellschaftliche Normen rebellierenden Jugend-lichen konfrontiert.

Das Motto zu Allegorie 3 stammt aus Aleksandr Bloks Gedicht „Грешить бесстыдно, непробудно,…“ (1914, Zyklus Родина447). Am Beispiel des ambi-valenten Verhältnisses zur Religion wird dort Russland als Kultur der Paradoxe und Extreme charakterisiert: Während in der Kirche Religiosität demonstriert werde, übervorteile man sich im Geschäftsalltag. Trotz oder vielmehr aufgrund dieser Widersprüchlichkeit endet Bloks Gedicht mit einer Liebeserklärung an das Vaterland:

Да, и такой, моя Россия, Ты всех краев дороже мне.

Dieses patriotische Motiv (bei Kibirov wird der fett gedruckte Vers zitiert) passt zur Gesinnung des in der Allegorie vorgestellten Veteranen. Weiterhin findet sich bei dem Protagonisten eine ähnliche paradoxe Verbindung von Heldentum und Verbrechen.

Der vierten Allegorie ist ein Zitat aus Trediakovskijs panegyrischem Gedicht Стихи похвальные России (1728) vorangestellt. Zitiert wird aus Str. 2:

„Россия мати! свет мой безмерный!“448 Ein Berührungspunkt zu Kibirov be-steht vielleicht darin, dass es sich bei dem Gedicht um einen bekannten Text handelt, der ein sehr frühes Beispiel patriotischer Dichtung darstellt,449 und die Protagonistin Lehrerin ist.

Dass die vier Mottos durch die nationale Thematik miteinander verbunden sind und sich eher schwach auf das jeweilige Einzelgedicht rückbeziehen, be-wirkt zum einen eine Generalisierung der Fallbeispiele. Zum anderen wird durch das patriotische Leitmotiv die Differenz zwischen Nationalstolz und der be-schriebenen kläglichen Realität potenziert, was sowohl auf der emotionalen Ebene berührt als auch Ironie beinhaltet. Das Zitat aus Nabokovs Gedicht, das die Trennung von der mit Hassliebe betrachten Heimat vollzieht, gibt weiterhin eine Gesamtlesart vor, die auf einen Abschied von der am Beispiel der vier Protagonist/innen geschilderten lähmenden sowjetischen Gegenwart zielt.

447 Блок, А. А.: Полное собрание сочинений и писем. В 20 т. М.: Наука 1997–. Т. 3. 185.

In der ansonsten verwendeten sowjetischen Ausgabe Блок, Александр: Собрание сочинений. В 6 т. Л.: Художественная литература 1980–1983. Т. 2. 233–234 fehlt die Zyklus-Zuordnung.

448Тредиаковский, B. K.: Избранные произведения. М.; Л.: Советский писатель 1963.

60–61.

449 Stahl, Henrieke: Wer sitzt auf dem Thron? Russland und Europa in Vasilij Trediakovskijs Stichi pochval’nye Rossii. In: Ressel, Gerhard; Stahl, Henrieke (Hgg.): Die Slaven und Euro-pa. Frankfurt a. M. et al.: Peter Lang 2008. 317–343. 317.

138 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

Im Dokument 33 3 (Seite 150-154)