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POETISCHE WENDE: DAS VORWORT ZUM BUCH СТИХИ О ЛЮБВИ

Im Dokument 33 3 (Seite 196-200)

5. KÜNSTLERISCHE NEUAUSRICHTUNG: FEINDBILDER UND VORBILDER 569

5.1. POETISCHE WENDE: DAS VORWORT ZUM BUCH СТИХИ О ЛЮБВИ

Das Autorvorwort in Versen, das den zum Buch Стихи о любви angeordneten Gedichten ursprünglich vorangeht, ist ein für die Einteilung von Kibirovs Œuvre zentraler Text (vgl. Kapitel 2.2). Dass die Forschung – mit Ausnahme des er-wähnten fehlerhaften Bezugs im Artikel von Andrej Nemzer und Mark Lipoveckij (vgl. S. 54f.) – von diesem От автора betitelten Manifest bislang keine Kenntnis genommen hat, liegt an der Publikationssituation. Das Gedicht fehlt in den Gesamtausgaben der 2000er Jahre; es findet sich nur in der ersten größeren Edition Сантименты. Восемь книг (1994) sowie zwei Jahre früher in der 1990–1995 erscheinenden Zeitschrift Вестник новой литературы, die sich als Alternative zu den sowjetischen Periodika und als Fortsetzung der Tradition der inoffiziellen Literatur positionierte.574

Während Manifeste der neuen Autorengeneration wie Viktor Erofeevs be-kannter Artikel Поминки по советской литературе, der der russischen Litera-tur „Hypermoralismus“ bescheinigte und auch die liberale Perestrojka-LiteraLitera-tur für überholt erklärte,575 in der Regel über Prosa und aus der Perspektive von Prosaikern sprechen, geht es bei Kibirov um die Sicht eines Dichters. Die Kritik trifft zwar ähnliche Autoren des offiziellen Literaturbetriebs und richtet sich ebenfalls gegen deren politisch-gesellschaftliche Ambitionen, unterscheidet sich jedoch hinsichtlich der Vorstellungen, in welche Richtung die Literatur bzw. das eigene Werk entwickelt werden soll. Erofeev wählt de Sade576 und Baudelaires Fleurs du mal als Leitsterne577 und widmete sich als Schriftsteller in der Tat den düsteren Seiten des menschlichen Verhaltens. Kibirov hingegen will v. a. Nabo-kov nachfolgen und beschreibt seine literarische Alternative über Referenzen auf den Klassizismus.

574 Кибиров, Тимур: Из книги «Стихи о любви». // Вестник новой литературы (1992) 4.

69–76. 69–71. Zum Profil der Zeitschrift siehe Irlenkäuser, Olaf: Die russischen Literaturzeit-schriften seit 1985, 74–78. Textgrundlage ist im Weiteren Кибиров, Тимур: Сантименты.

Восемь книг, 207–209.

575 Ерофеев, Виктор: Поминки по советской литературе. // ЛГ 04.07.1990. 8.

576 Siehe auch seinen frühen Aufsatz: Ерофеев, Виктор: Метаморфоза одной литературной репутации. Маркиз де Сад, садизм и ХХ век. // ВЛ (1973) 6. 135–168.

577 Ерофеев, Виктор: Русские цветы зла. // Московские новости 27.06.1993. B 4–5. Eine umfangreichere Version diente als Vorwort zu einem Band mit Erzählungen neuer Autorinnen und Autoren: Ерофеев, Виктор (сост.): Русские цветы зла. М.: Подкова 1997. 6–30.

180 5. KÜNSTLERISCHE NEUAUSRICHTUNG: FEINDBILDER UND VORBILDER aller Munde. Paradox ist allerdings, dass Kibirovs Neuausrichtung parallel zum Einsetzen der Rezeption seiner sowjetkritischen Gedichte durch eine breitere Öffentlichkeit vor sich ging. Während Werke wie Когда был Ленин маленьким, Жизнь К. У. Черненко und Л. С. Рубинштейну für Aufsehen sorgten und als Teil der Perestrojka-Literatur wahrgenommen wurden, hatte der Dichter selbst sich alternativen Themen zugewandt.

Im vorliegenden Kapitel soll untersucht werden, wie sich diese erste Zäsur in Kibirovs Werk vollzieht, welche Abgrenzungen und neuen Perspektiven in den Gedichten entwickelt werden. Behandelt werden Schlüsseltexte aus den Büchern Стихи о любви (1988) und Сантименты (1989). Im Zentrum der Analyse ste-hen drei programmatische Gedichte: In dem schon erwähnten, in Verse gesetz-ten Vorwort От автора (Стихи о любви) sowie im Versbrief Мише Айзенбергу. Эпистола о стихотворстве (Сантименты) bezieht der Unter-grunddichter gegenüber dem offiziellen sowjetischen Literaturbetrieb Position und projektiert die Richtung des eigenen Schreibens. Das dritte Teilkapitel be-schäftigt sich mit dem umfangreichen Gedicht К вопросу о романтизме (Сан-тименты), das eine Ausrichtung auf eine positive Ideologie vornimmt, die Kibirovs Werk in den 1990ern dominieren wird und – mit gewissen Transforma-tionen – bis in die Gegenwart fortwirkt. Die Tatsache, dass in den untersuchten Texten weniger der Zustand der Gesellschaft analysiert, als persönliche Positio-nen artikuliert werden, spiegelt sich in der veränderten kommunikativen Gestal-tung der Gedichte. Der als „Ich“ konzipierte Sprecher rückt ins Zentrum und wird mit biographischen Zügen ausgestattet, die sich in den weiteren Texten der Bücher noch verdichten. Kibirovs Dichtung wird „lyrischer“.

Aus literaturgeschichtlicher Perspektive sind Kibirovs Texte von großem Inte-resse, da sie die Veränderungen einfangen, die in den späten 1980er Jahren ein-setzten. Zum einen illustrieren sie die antagonistische Struktur des literarischen Feldes, auf dem sich offizielle Autoren und underground feindlich begegneten, und den Kampf der bisher Marginalisierten um die Aufwertung der eigenen Po-sition. Zum anderen entwickeln die Gedichte ein postsowjetisches weltanschau-liches Modell, das nicht mit politischen Begriffen wie sowjetisch vs. liberal / demokratisch operiert, sondern einen archetypischen Dualismus romantisch vs.

antiromantisch aufbaut.

In allen drei Texten finden sich zahlreiche intertextuelle Bezüge, die die eige-nen Positioeige-nen gestalten und plausibilisieren. Aus iheige-nen lässt sich ein literari-sches Weltbild rekonstruieren, das typisch für den literarischen underground ist, jedoch auch spezifisch Kibirov’sche Präferenzen aufweist.

5.1. Poetische Wende: Das Vorwort zum Buch Стихи о любви 181

5.1. POETISCHE WENDE: DAS VORWORT ZUM BUCH СТИХИ О ЛЮБВИ

Das Autorvorwort in Versen, das den zum Buch Стихи о любви angeordneten Gedichten ursprünglich vorangeht, ist ein für die Einteilung von Kibirovs Œuvre zentraler Text (vgl. Kapitel 2.2). Dass die Forschung – mit Ausnahme des er-wähnten fehlerhaften Bezugs im Artikel von Andrej Nemzer und Mark Lipoveckij (vgl. S. 54f.) – von diesem От автора betitelten Manifest bislang keine Kenntnis genommen hat, liegt an der Publikationssituation. Das Gedicht fehlt in den Gesamtausgaben der 2000er Jahre; es findet sich nur in der ersten größeren Edition Сантименты. Восемь книг (1994) sowie zwei Jahre früher in der 1990–1995 erscheinenden Zeitschrift Вестник новой литературы, die sich als Alternative zu den sowjetischen Periodika und als Fortsetzung der Tradition der inoffiziellen Literatur positionierte.574

Während Manifeste der neuen Autorengeneration wie Viktor Erofeevs be-kannter Artikel Поминки по советской литературе, der der russischen Litera-tur „Hypermoralismus“ bescheinigte und auch die liberale Perestrojka-LiteraLitera-tur für überholt erklärte,575 in der Regel über Prosa und aus der Perspektive von Prosaikern sprechen, geht es bei Kibirov um die Sicht eines Dichters. Die Kritik trifft zwar ähnliche Autoren des offiziellen Literaturbetriebs und richtet sich ebenfalls gegen deren politisch-gesellschaftliche Ambitionen, unterscheidet sich jedoch hinsichtlich der Vorstellungen, in welche Richtung die Literatur bzw. das eigene Werk entwickelt werden soll. Erofeev wählt de Sade576 und Baudelaires Fleurs du mal als Leitsterne577 und widmete sich als Schriftsteller in der Tat den düsteren Seiten des menschlichen Verhaltens. Kibirov hingegen will v. a. Nabo-kov nachfolgen und beschreibt seine literarische Alternative über Referenzen auf den Klassizismus.

574 Кибиров, Тимур: Из книги «Стихи о любви». // Вестник новой литературы (1992) 4.

69–76. 69–71. Zum Profil der Zeitschrift siehe Irlenkäuser, Olaf: Die russischen Literaturzeit-schriften seit 1985, 74–78. Textgrundlage ist im Weiteren Кибиров, Тимур: Сантименты.

Восемь книг, 207–209.

575 Ерофеев, Виктор: Поминки по советской литературе. // ЛГ 04.07.1990. 8.

576 Siehe auch seinen frühen Aufsatz: Ерофеев, Виктор: Метаморфоза одной литературной репутации. Маркиз де Сад, садизм и ХХ век. // ВЛ (1973) 6. 135–168.

577 Ерофеев, Виктор: Русские цветы зла. // Московские новости 27.06.1993. B 4–5. Eine umfangreichere Version diente als Vorwort zu einem Band mit Erzählungen neuer Autorinnen und Autoren: Ерофеев, Виктор (сост.): Русские цветы зла. М.: Подкова 1997. 6–30.

182 5. KÜNSTLERISCHE NEUAUSRICHTUNG: FEINDBILDER UND VORBILDER 5.1.1. Polemische Abgrenzungen gegen die Perestrojka-Literatur

Was Kibirovs Gegnerschaft zur sowjetischen Literatur betrifft, wird ein erster Antagonist schon über das Motto benannt, das aus dem Gedicht „Как мальчик, волнуясь, читает письмо…“ von Aleksandr Kušner (*1936) stammt:

Так ты и с политикой дружен?

– И с нею.

А. С. КУШНЕР

Die Referenz taucht erneut in Abschn. 7 von Kibirovs Gedicht auf, und zwar explizit als Gegenposition zu der des Sprechers:

Если Кушнер с политикой дружен теперь я могу возвратиться к себе.

1987 war besagter Text zusammen mit fünf weiteren Gedichten Kušners unter der Überschrift Московские новости in der Zeitschrift Ogonёk, einem Leitme-dium der Perestrojka, erschienen.578 In dem zitierten Gedicht Kušners beschreibt ein Sprecher das erwachte Interesse am politischen Geschehen und der Tages-presse:

Так долго мы жили погодой одной,

Лишь в шелесте лиственном смысл находили, Но я – человек, а не иволга, мой

Ум жаждет вестей, кроме влаги и пыли.

И Тютчева я понимаю: тесны Ему одинокие вечные темы.

Мне полночи мало, мне мало весны,

Есть область, где жизнью захвачены все мы. [Str. 3–4]

Dass ausgerechnet Kušner als Antagonist fungiert und dieser tatsächlich ein Be-kenntnis zur Tagespolitik verfasst hat, überrascht, denn er gilt nicht als politisch-publizistischer Autor, sondern als Dichter eben des Privaten.579 Der Literaturkri-tiker Michail Berg nennt Kušner u. a. den inoffiziellsten unter den offiziellen Dichtern.580 Dabei ist Kibirovs Bezugnahme insofern plausibel, dass „poetische

578 Кушнер, Александр: Московские новости. // Огонек (1987) 32. 25; ebenfalls Кушнер, Александр: Живая изгородь. Л.: Советский писатель 1988. 36. Im Original steht der zitier-te Vers ohne Zeilenumbruch: „Так ты и с политикой дружен? – И с нею.“

579 Johnson, Emily D.: Aleksandr Kushner. In: Rosneck, Karen (ed.): Russian Poets of the Soviet Era. Detroit et al: Gale 2011. 139–149. 141.

580 Берг, Михаил: Его поэзию любили инженеры и женщины. Вышла новая книга Алек-сандра Кушнера. // Коммерсантъ 07.10.1998 http://www.kommersant.ru/

doc/206479?stamp=634587886865831596; = Смысл выдыхается, строчки мертвеют. //

[Homepage Michail Berg], http://www.mberg.net/kushnewr/: „В застойную эпоху Кушнер был самым несоветским поэтом среди советских, самым свободным среди несвобод-ных, неразрешенным среди разрешенных и неофициальным среди официальных.“

5.1. Poetische Wende: Das Vorwort zum Buch Стихи о любви 183 Publizistik“ tatsächlich zum Mainstream geworden ist, wenn auch ein genuin apolitischer Lyriker sich dem Trend anschließt.

Die Polemik in От автора richtet sich allerdings nicht primär gegen Kušner und seinen einmaligen politisch-publizistischen Exkurs, sondern gegen ein all-gemeiner gefasstes Gegenüber, das im Text als anonymes „Du“ in Erscheinung tritt, während auf Kušner in der 3. Person Bezug genommen wird. Abschn. 1 stellt einen Zusammenhang mit der Perestrojka her, die Kritik richtet sich somit gegen die Personen, die die neue Politik mittragen (ob nur Literaten gemeint sind oder Politiker, wird nicht konkretisiert, jedoch erscheint ersteres plausibler).

Dabei wird die Ablehnung sehr expressiv formuliert:

В общем так – начинай перестройку с себя,581 А меня ты в покое оставь!

Sie artikuliert sich im Weiteren über drastische Metaphern des Bespuckens, Sich-Übergebens und üblen Geruchs:

Но, слюну тошнотворную не удержав, я плевал на тебя, я плевал на Устав,

я плевал на Устав и тебя! [Abschn. 1]

Я два пальца сую в искривившийся рот. [Abschn. 3]

Я свищу. А потом меня рвет. [Abschn. 4]

дурно пахнет гражданственный стих! [Abschn. 2]

Потому что ты пахнешь, любезный жених, пахнешь, фраер, при всех дезодорах своих,

ах мсье Пьер, ты воняешь и врешь! [Abschn. 2]

ибо потом разит от лакейских потуг [Abschn. 4]

ибо потом и жиром прогорклым разит! [Abschn. 5]

An argumentativen Begründungen gegenüber der Ablehnung der Perestrojka findet sich der Kritikpunkt, dass die Diskussionen nach wie vor in den über-kommenen Formen geführt würden, als Ja-oder-Nein-Urteile:

Так решай без меня наболевший вопрос – Враг был Троцкий иль все-таки нет?

Гениален Высоцкий иль все-таки нет?

Обречен ли на гибель колхоз,

Госкомстат, Агропром, комбижир, корнеплод,

опорос, опорос, ВПШ и Минпрос ... [Abschn. 3]

581 „Начинать перестройку с себя“ ist eine sprichwörtlich gewordene Wendung Gorbačevs:

Душенко, К. В.: Цитаты из русской истории. Справочник. М.: Эксмо 2005. 70 (Г 61).

182 5. KÜNSTLERISCHE NEUAUSRICHTUNG: FEINDBILDER UND VORBILDER 5.1.1. Polemische Abgrenzungen gegen die Perestrojka-Literatur

Was Kibirovs Gegnerschaft zur sowjetischen Literatur betrifft, wird ein erster Antagonist schon über das Motto benannt, das aus dem Gedicht „Как мальчик, волнуясь, читает письмо…“ von Aleksandr Kušner (*1936) stammt:

Так ты и с политикой дружен?

– И с нею.

А. С. КУШНЕР

Die Referenz taucht erneut in Abschn. 7 von Kibirovs Gedicht auf, und zwar explizit als Gegenposition zu der des Sprechers:

Если Кушнер с политикой дружен теперь я могу возвратиться к себе.

1987 war besagter Text zusammen mit fünf weiteren Gedichten Kušners unter der Überschrift Московские новости in der Zeitschrift Ogonёk, einem Leitme-dium der Perestrojka, erschienen.578 In dem zitierten Gedicht Kušners beschreibt ein Sprecher das erwachte Interesse am politischen Geschehen und der Tages-presse:

Так долго мы жили погодой одной,

Лишь в шелесте лиственном смысл находили, Но я – человек, а не иволга, мой

Ум жаждет вестей, кроме влаги и пыли.

И Тютчева я понимаю: тесны Ему одинокие вечные темы.

Мне полночи мало, мне мало весны,

Есть область, где жизнью захвачены все мы. [Str. 3–4]

Dass ausgerechnet Kušner als Antagonist fungiert und dieser tatsächlich ein Be-kenntnis zur Tagespolitik verfasst hat, überrascht, denn er gilt nicht als politisch-publizistischer Autor, sondern als Dichter eben des Privaten.579 Der Literaturkri-tiker Michail Berg nennt Kušner u. a. den inoffiziellsten unter den offiziellen Dichtern.580 Dabei ist Kibirovs Bezugnahme insofern plausibel, dass „poetische

578 Кушнер, Александр: Московские новости. // Огонек (1987) 32. 25; ebenfalls Кушнер, Александр: Живая изгородь. Л.: Советский писатель 1988. 36. Im Original steht der zitier-te Vers ohne Zeilenumbruch: „Так ты и с политикой дружен? – И с нею.“

579 Johnson, Emily D.: Aleksandr Kushner. In: Rosneck, Karen (ed.): Russian Poets of the Soviet Era. Detroit et al: Gale 2011. 139–149. 141.

580 Берг, Михаил: Его поэзию любили инженеры и женщины. Вышла новая книга Алек-сандра Кушнера. // Коммерсантъ 07.10.1998 http://www.kommersant.ru/

doc/206479?stamp=634587886865831596; = Смысл выдыхается, строчки мертвеют. //

[Homepage Michail Berg], http://www.mberg.net/kushnewr/: „В застойную эпоху Кушнер был самым несоветским поэтом среди советских, самым свободным среди несвобод-ных, неразрешенным среди разрешенных и неофициальным среди официальных.“

5.1. Poetische Wende: Das Vorwort zum Buch Стихи о любви 183 Publizistik“ tatsächlich zum Mainstream geworden ist, wenn auch ein genuin apolitischer Lyriker sich dem Trend anschließt.

Die Polemik in От автора richtet sich allerdings nicht primär gegen Kušner und seinen einmaligen politisch-publizistischen Exkurs, sondern gegen ein all-gemeiner gefasstes Gegenüber, das im Text als anonymes „Du“ in Erscheinung tritt, während auf Kušner in der 3. Person Bezug genommen wird. Abschn. 1 stellt einen Zusammenhang mit der Perestrojka her, die Kritik richtet sich somit gegen die Personen, die die neue Politik mittragen (ob nur Literaten gemeint sind oder Politiker, wird nicht konkretisiert, jedoch erscheint ersteres plausibler).

Dabei wird die Ablehnung sehr expressiv formuliert:

В общем так – начинай перестройку с себя,581 А меня ты в покое оставь!

Sie artikuliert sich im Weiteren über drastische Metaphern des Bespuckens, Sich-Übergebens und üblen Geruchs:

Но, слюну тошнотворную не удержав, я плевал на тебя, я плевал на Устав,

я плевал на Устав и тебя! [Abschn. 1]

Я два пальца сую в искривившийся рот. [Abschn. 3]

Я свищу. А потом меня рвет. [Abschn. 4]

дурно пахнет гражданственный стих! [Abschn. 2]

Потому что ты пахнешь, любезный жених, пахнешь, фраер, при всех дезодорах своих,

ах мсье Пьер, ты воняешь и врешь! [Abschn. 2]

ибо потом разит от лакейских потуг [Abschn. 4]

ибо потом и жиром прогорклым разит! [Abschn. 5]

An argumentativen Begründungen gegenüber der Ablehnung der Perestrojka findet sich der Kritikpunkt, dass die Diskussionen nach wie vor in den über-kommenen Formen geführt würden, als Ja-oder-Nein-Urteile:

Так решай без меня наболевший вопрос – Враг был Троцкий иль все-таки нет?

Гениален Высоцкий иль все-таки нет?

Обречен ли на гибель колхоз,

Госкомстат, Агропром, комбижир, корнеплод,

опорос, опорос, ВПШ и Минпрос ... [Abschn. 3]

581 „Начинать перестройку с себя“ ist eine sprichwörtlich gewordene Wendung Gorbačevs:

Душенко, К. В.: Цитаты из русской истории. Справочник. М.: Эксмо 2005. 70 (Г 61).

184 5. KÜNSTLERISCHE NEUAUSRICHTUNG: FEINDBILDER UND VORBILDER Aus Sicht des in der 1. Person Sprechenden stellt die Perestrojka keinen Neuan-fang dar, sondern eine Fortsetzung des Bekannten – eine ähnliche Sicht findet sich ebenfalls z. B. in Любовь, комсомол и весна V (siehe Kapitel 4.2.6). Die Literaten werden als Unterstützer von laut Text auf Restauration zielenden Re-formen kritisch bewertet, vgl. in Abschn. 8 die Deformation von Gorbačevs Slo-gan „Vorarbeiter der Perestrojka“ („прорабы перестройки“), bzw. der ihm zugrunde liegenden Wendung „Vorarbeiter des Geistes“ („прорабы духа“) aus Andrej Voznesenskijs gleichnamigem Gedicht von 1984.582 Bei Kibirov werden daraus „Vorarbeiter des Barackengeistes“, die in der Unfreiheit (den engen Ba-racken) verharren:

Ах, прораб мой, барачного духа прораб [Abschn. 7]

5.1.2. Jenseits der staatsbürgerlichen Pflicht: von der Leier zur Hirtenflöte Kibirovs Sprecher distanziert sich aber nicht nur von den aktiven Perestrojka-Befürwortern, sondern von der Tradition der staatsbürgerlichen Dichtung insge-samt. Seine Position wird über drei intertextuelle Bezugspunkte definiert: einer-seits Nekrasov als Prototyp des politisch-engagierten Dichters, anderereiner-seits Mandelʼštam und Nabokov, die die a-politische Position legitimieren. Letztere stehen in einem besonderen Rezeptionskontext – die Werke des repressierten Dichters und des Emigrationsautors wurden Ende der 1980er nach Jahrzehnten der sowjetischen Zensur einer breiten literarischen Öffentlichkeit zugänglich.

Nekrasov verkörpert mit dem bekannten Begriffspaar гражданин – поэт bzw.

dem Zitat „Поэтом можешь ты не быть, / Но гражданином быть обязан“ das Leitbild der sowjetischen Literatur, das dem Dichter gesellschaftliche Verpflich-tungen zuweist.583 Bei Kibirov wird im Gegensatz dazu eine Trennung der Sphä-ren postuliert:

Забирай, гражданин, и владей,

лиру скорби гражданской бери, не робей, мне теперь не по чину она!

Я тебе подыграть не сумею на ней, потому что не волк я по крови своей,

и не пес я по крови своей. [Abschn. 6]

Diese Verweigerung gegenüber dem staatsbürgerlichen Literaturkonzept wird durch ein Zitat aus einem Gedicht von Mandel’štam – „За гремучую доблесть

582 Душенко, Константин: Большой словарь цитат и крылатых выражений, 152 (В 192) bzw. 213 (Г 713); Серов, Вадим: Энциклопедический словарь крылатых слов и выраже-ний. М.: Локид-Пресс 2004. 639. Das Gedicht findet sich in Вознесенский, Андрей: Про-рабы духа. М.: Советский писатель 1984. 80–82 oder Вознесенский, Андрей: Собрание сочинений [1983–1984]. Т. 3. 351–353.

583 So zumindest die idiomatische Bedeutung, siehe Серов, Вадим: Энциклопедический словарь крылатых слов и выражений, 620–621. Nekrasovs als Dialog gestaltetes Gedicht Поэт и гражданин ist differenzierter.

5.1. Poetische Wende: Das Vorwort zum Buch Стихи о любви 185 грядущих веков…“ (1931)584 – flankiert. Bei der metaphorisch-mehrdeutigen Aussage des Sprechers, dass er kein Wolf sei, obwohl er von einem Wolfshund-Jahrhundert angefallen werde, scheint es um eine Existenz jenseits der politi-schen Kämpfe der jeweiligen Zeit zu gehen. Die Mandelʼštam-Kenner Michail Gasparov und Oleg Lekmanov interpretieren die Distanzierung von der Wolfs-Identität so, dass Mandel’štam keine Gefahr für die neue Ordnung habe sein wollen.585 Kibirovs „Ich“, das in diesem Text erneut für den Autor zu sprechen scheint, verwehrt sich ebenfalls gegen die Wolfsmetapher, sowie auch dagegen, ein Hund zu sein; es weist die Rolle des Regimegegners sowie die des loyalen Mittäters von sich.

In Abschn. 8 taucht die Absage an die Staatsbürgerlichkeit als Wunsch zum Wechsel von Nekrasovs zu Nabokovs Metrum auf (vgl. Kap. 4.2.2):

И некрасовский скорбный анапест586 менять на набоковский тянет меня!

Die postulierte Präferenz Nabokovs für den Anapäst geht wohl auf eine Stelle in dessen Gedicht Слава (1942) zurück, das stilistisch, inhaltlich und durch den spielerischen Ton an Kibirov erinnert.587 Der konzeptuelle Antagonismus zu Nekrasov macht Nabokov zum Vertreter einer Literatur, die nur sich selbst ver-pflichtet ist. Man denkt hier v. a. an das Nachwort zu seinem Skandalroman Lolita (zitiert in russischer Übersetzung):

Для меня рассказ или роман существует, только поскольку он доставляет мне то, что попросту назову эстетическим наслаждением […]. Все остальное это либо журналистическая дребедень, либо, так сказать, Литература Больших Идей, которая, впрочем, часто ничем не отличается от дребедени обычной, но зато подается в виде громадных гипсовых кубов, которые со всеми предосторожностями переносятся из века в век, пока не явится

584 Мандельштам, Осип: Стихотворения. Проза. Cоставление Ю. Фрейдина. Предисл. и комм. М. Гаспарова. М.: Рипол классик 2002 [=2001].122–123.

585 Мандельштам, Осип: Стихотворения. Проза, 620–621. Лекманов, Олег: Осип Ман-дельштам. Жизнь поэта. Изд. 3-е, доп. и перераб. М.: Молодая гвардия 2009. 204–205.

586 Das Attribut скорбный findet sich in Abschn. 6 (лира скорби) und in Сквозь прощаль-ные слезы V („некрасовский скорбный анапест“, siehe Kap. 4.2.2, S. 147). Auch От автора steht im Anapäst, wie in Nabokovs К России alternieren vier- und dreihebige Verse.

587 Die Referenz nach Десятов, В. В.: Набоков и русские постмодернисты, 268. In besag-tem Gedicht heißt es: „И тогда я смеюсь, и внезапно с пера / мой любимый слетает ана-пест, / образуя ракеты в ночи так быстра / золотая становится запись.“ (Nabokov, Vladimir: Poems and Problems, 102–113, 110). Мартынов, Г. Г.: В. В. Набоков. Библио-графический указатель произведений и литературы о нем, опубликованных в России и государствах бывшего СССР (1920–2006). СПб.: Альфарет 2007. 69–70 verzeichnet als frühe Zeitschriftenpublikation dieses Gedichts Дружба народов (1987) 6. 170–175.

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