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Kollektives Erinnern, individuelle Kommentierung, persönliches Einfühlen

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4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN 420

4.2. KATHARTISCHE RETROSPEKTIVE: СКВОЗЬ ПРОЩАЛЬНЫЕ СЛЕЗЫ

4.2.5. Kollektives Erinnern, individuelle Kommentierung, persönliches Einfühlen

531 „Ехал Грека через реку / видит Грека – в реке рак! / Сунул Грека РУКУ в реку, / Рак за РУКУ Греку цап!“ (im Internet finden sich diverse Belege).

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 165

4.2.5. Kollektives Erinnern, individuelle Kommentierung, persönliches Einfühlen

Ähnlich wie bei dem Zyklus Рождественские аллегории handelt es sich bei Сквозь прощальные слезы um einen Verstext mit komplexer Gestaltung der Erzählperspektive. Сквозь прощальные слезы ist ein Versuch, eine Form der literarischen Memoria zu konzipieren, die sowohl kollektive Erinnerungen ab-bildet als auch individuelle Bezüge herstellt, die auf den Autor verweisen.

Den Eindruck von Kollektivität verdankt Сквозь прощальные слезы vor al-lem der Dichte an intertextuellen Referenzen in den historischen Kapiteln. Die Zitate und Anspielungen machen sich im Text als semantische Anomalien be-merkbar, als scheinbar unklare Stellen und assoziative Sprünge, die nur kundige Leserinnen und Leser nachvollziehen können. Ohne eine aktive Mitwirkung ist der Text unfertig.532 Dabei ist davon auszugehen, dass der einzelne Textrezipient bzw. die Textrezipientin vor dem Hintergrund der jeweiligen individuellen Er-fahrung unterschiedliche Referenzen wahrnimmt, sie unterschiedlich versteht und jeweils anders auf Kibirovs Text rückprojiziert. Durch die ausgeprägte In-tertextualität gewinnt der Text also eine grundsätzliche Bedeutungsunschärfe und -offenheit, ohne allerdings in intertextuelle Splitter zu zerfallen, die willkür-lich gedeutet werden könnten. Strukturen wie der musikgeschichtwillkür-liche Abriss der Kapitelanfänge oder die Mottos dienen als zentripetale Stabilisatoren, die Interpretationslinien vorgeben und der zentrifugalen intertextuellen Dezentrie-rung entgegenarbeiten.533 Dabei wird der idealen zeitgenössischen Leserschaft bei der Rezeption bewusst, wie präsent die eingearbeiteten Kulturzitate und wie groß die eigene Teilhabe an diesem kollektiven Erinnerungsbestand ist. Dass es sich bei auffallend vielen der in Kibirovs intertextueller Collage aufscheinenden Zitate um Lieder – die populärste Darbietungsform von Dichtung – handelt, ver-stärkt den kollektiven Nachhall.534

Die Liedkomponente manifestiert sich in den leitmotivischen Appellen, die zum Singen auffordern. Sie finden sich nicht nur im jeweils ersten Vers der

532 Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 71 verwendet die Metapher einer Partitur: „Поэма, таким образом, становится партитурой, которую читатель должен разыграть в своем сознании, по-своему воспринимая концепты эпохи, данные в поэме, и, основываясь на своем эстетическом опыте, выстроить свой текст этой поэмы.“

533 Vgl. Rutz, Marion: Die Bändigung der kulturellen Vielfalt, 212. Нурмухамедова, P. А.:

Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 120 verwendet die Metaphern der zentri-petalen und zentrifugalen Kräfte in Bezug auf die intertextuelle Dezentrierung des „lyrischen Ich“ und die Konzentration „lyrischer“ Emotion.

534 Übrigens wurden Teile von Сквозь прощальные слезы (Вступление, Глава II und Лирическая Интермедия) von Petr Košelev vertont. Im Netz finden sich diverse Versionen.

164 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

Die Haltung des Sprechers angesichts des sich vollziehenden Zusammenbruchs wirkt ambivalent. Die beschriebene Implosion weckt keine spontane Schaden-freude, sondern Traurigkeit und Besorgnis („Как-то грустно, и как-то ужасно“), v. a. hinsichtlich der Zukunftsperspektive. Am Ende von Str. 29 ist von Tränen die Rede, die den Lachreflex behindern. Das Bild der verstopften Nase bringt zwar vordergründige Komik mit sich und signalisiert – wie schon erwähnt – Distanz zur staatsbürgerlichen Dichtung, jedoch durchzieht das Motiv des Weinens, das schon im Titel Сквозь прощальные слезы präsent ist, den Ge-samttext und charakterisiert einen zentralen Aspekt des Umgangs mit der sowje-tischen Vergangenheit. Spott und Abschiedsschmerz, Ironie und Ernst sind vermischt.

Kapitel V schließt mit Nonsensversen, die die Katastrophe repräsentieren. Die hier anklingenden Verweise auf die ferne Vergangenheit (Realien der petrini-schen Zeit, Stammesnamen, Landschaftsmotive) zeichnen eine kulturelle tabula rasa, auf der neu aufgebaut werden muss. Am Ende steht ein Vers aus einem Kinder-Zungenbrecher, der den absoluten Nullpunkt darstellt, vielleicht aber auch als Keimzelle für eine neue Literatur dienen kann.

Все ведь кончено. Значит – сначала.

Все сначала – Ермак да кабак, Чудь да меря, да мало-помалу Петербургский, голштинский табак.

Чудь да меря. Фома да Емеля.

Переселок. Пустырь. Буерак.

Все ведь кончено. Нечего делать.

Руку в реку. А за руку – рак.531 [Str. 30–31]

531„Ехал Грека через реку / видит Грека – в реке рак! / Сунул Грека РУКУ в реку, / Рак за РУКУ Греку цап!“ (im Internet finden sich diverse Belege).

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 165

4.2.5. Kollektives Erinnern, individuelle Kommentierung, persönliches Einfühlen

Ähnlich wie bei dem Zyklus Рождественские аллегории handelt es sich bei Сквозь прощальные слезы um einen Verstext mit komplexer Gestaltung der Erzählperspektive. Сквозь прощальные слезы ist ein Versuch, eine Form der literarischen Memoria zu konzipieren, die sowohl kollektive Erinnerungen ab-bildet als auch individuelle Bezüge herstellt, die auf den Autor verweisen.

Den Eindruck von Kollektivität verdankt Сквозь прощальные слезы vor al-lem der Dichte an intertextuellen Referenzen in den historischen Kapiteln. Die Zitate und Anspielungen machen sich im Text als semantische Anomalien be-merkbar, als scheinbar unklare Stellen und assoziative Sprünge, die nur kundige Leserinnen und Leser nachvollziehen können. Ohne eine aktive Mitwirkung ist der Text unfertig.532 Dabei ist davon auszugehen, dass der einzelne Textrezipient bzw. die Textrezipientin vor dem Hintergrund der jeweiligen individuellen Er-fahrung unterschiedliche Referenzen wahrnimmt, sie unterschiedlich versteht und jeweils anders auf Kibirovs Text rückprojiziert. Durch die ausgeprägte In-tertextualität gewinnt der Text also eine grundsätzliche Bedeutungsunschärfe und -offenheit, ohne allerdings in intertextuelle Splitter zu zerfallen, die willkür-lich gedeutet werden könnten. Strukturen wie der musikgeschichtwillkür-liche Abriss der Kapitelanfänge oder die Mottos dienen als zentripetale Stabilisatoren, die Interpretationslinien vorgeben und der zentrifugalen intertextuellen Dezentrie-rung entgegenarbeiten.533 Dabei wird der idealen zeitgenössischen Leserschaft bei der Rezeption bewusst, wie präsent die eingearbeiteten Kulturzitate und wie groß die eigene Teilhabe an diesem kollektiven Erinnerungsbestand ist. Dass es sich bei auffallend vielen der in Kibirovs intertextueller Collage aufscheinenden Zitate um Lieder – die populärste Darbietungsform von Dichtung – handelt, ver-stärkt den kollektiven Nachhall.534

Die Liedkomponente manifestiert sich in den leitmotivischen Appellen, die zum Singen auffordern. Sie finden sich nicht nur im jeweils ersten Vers der

532 Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 71 verwendet die Metapher einer Partitur: „Поэма, таким образом, становится партитурой, которую читатель должен разыграть в своем сознании, по-своему воспринимая концепты эпохи, данные в поэме, и, основываясь на своем эстетическом опыте, выстроить свой текст этой поэмы.“

533Vgl. Rutz, Marion: Die Bändigung der kulturellen Vielfalt, 212. Нурмухамедова, P. А.:

Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 120 verwendet die Metaphern der zentri-petalen und zentrifugalen Kräfte in Bezug auf die intertextuelle Dezentrierung des „lyrischen Ich“ und die Konzentration „lyrischer“ Emotion.

534 Übrigens wurden Teile von Сквозь прощальные слезы (Вступление, Глава II und Лирическая Интермедия) von Petr Košelev vertont. Im Netz finden sich diverse Versionen.

166 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

pitel, wo sie – wie schon erläutert – Stationen der Musikgeschichte markieren, sondern wiederholen sich im Kapiteltext in unterschiedlichsten Adressierungen, in Kapitel I z. B. gut ein Dutzend Mal:

I,1 Спой же песню мне, Глеб Кржижановский!

I,2 Спой мне песню, парнишка кудрявый, I,10 Пой же, пой, обезумевший Павка,

I,11f. Пой же, пой о лазоревых зорях, / […] Пой же, пой, мое горькое горе, I,13f. Пой, селькор, при лучине своей, / Пой, придуманный, пой, настоящий I,29 Спой мне тихо, а я подпою.

I,30f. Спой мне песню: Гренада, Гренада, / Спойте, мертвые губы: Грена…

Man kann nach konkreten Prätexten suchen, auf die dieses Motiv zurückgehen könnte, etwa auf das Lied Песня о первом пионерском отряде (1964; T.:

Sakko Runge, M.: Aleksandr Doluchanjan)535 oder Веселый ветер (1936; T.:

Vasilij Lebedev-Kumač, M.: Isaak Dunaevskij).536 Nurmuchamedova nennt mit Esenins „Пой же пой на проклятой гитаре...“ und Michail Isakovskijs

„Спой мне, спой Прокошина...“ weitere mögliche Bezüge.537 Man kann sogar bei den Wurzeln des Epos ansetzen,538 Gnedičs kanonische Übersetzung der Illi-as beginnt bekanntlich mit „Гнев, богиня, воспой Ахиллеса“.539 Einen konkre-ten Referenztext zu eruieren, erweist sich als unmöglich (es könnte jeder oder auch alle zusammen sein) und ist wohl auch nicht notwendig. Die Funktion des Appells besteht vorrangig in der Schaffung einer lockeren Struktur, die die asso-ziativ zusammengesetzten Textsplitter verbindet, sowie in der Betonung der all-gemeinen Liedhaftigkeit des Textes im Sinne einer intertextuellen Präsenz von populärem Kulturgut.

Kibirov führt die ursprüngliche Idee zu Сквозь прощальные слезы übrigens auf ein sowjetisches Liederbuch (песенник) zurück.540 Die einzelnen Kapitel sollten die Gliederung der Vorlage abbilden. Das Intermedium war ursprünglich als Pendant zu dem Liederbuchkapitel mit Volksliedern und Romanzen des 19.

Jahrhunderts gedacht und sollte den Text im Sinne einer Reintegration in die prärevolutionäre Kultur abschließen.

535 Песенник анархиста и подпольщика: „Спой песню, как бывало, / Отрядный запева-ла, / А я ее тихонько подхвачу.“

536 Песенник анархиста и подпольщика; Русские советские песни (1917–1977), 176–177:

„А ну-ка, песню нам пропой, веселый ветер, / Веселый ветер, веселый ветер!“. Siehe Лекманов, Олег & Team LJ: Опыт коллективного комментария, 04.04.2005.

537 Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 72.

538 Nach Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 68;

133.

539 Siehe den in Fn.536 genannten Blog-Eintrag.

540 So im persönlichen Gespräch am 13.05.2007 in Moskau.

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 167 Neben Сквозь прощальные слезы gibt es ein weiteres Gedicht Kibirovs, das über das Motiv des Singens und populäre intertextuelle Referenzen eine histori-sche Retrospektive entwirft: „Спой мне песню, про все что угодно ...“ aus dem Buch Общие места stellt eine Protoversion von Сквозь прощальные слезы dar.541 Strophen, Reime, Metrum sind identisch mit der Form der histori-schen Kapitel, es finden sich ähnliche Topoi und Zitate. Das Gedicht umfasst allerdings nur 14 Strophen, die primär aus der Stalinzeit schöpfen.

In den intertextuell dichten Kapiteln von Сквозь прощальные слезы fungiert die in der 1. Person Singular auftretende Sprecherinstanz als eine Art Medium, durch das die jeweilige Epoche sich artikuliert. Nurmuchamedova spricht pas-send von einem „proteischen Bewusstsein“ (протеическое сознание),542 nach dem Gestaltwandler aus der griechischen Mythologie. Weiterhin sieht sie in Сквозь прощальные слезы ein „lyrisches Wir“, das sie als chorhaftes Bewusst-sein der jeweiligen Epoche versteht. Vor dem Hintergrund von Erkenntnissen der sogenannten Historischen Poetik (als Begründer gilt Aleksandr Veselovskij, 1838–1906)543 zieht sie Parallelen zur frühen griechischen Lyrik (der Literatur der sog. „synkretistischen Epoche“), die noch keinen individuellen Autor kannte und ein Kollektiv als Ich sprechen ließ,544 sowie zum Volkslied, das sowohl Sängerin und Sänger als auch den Zuhörerinnen und Zuhörern etwas über sich selbst mitteile.545

Die Idee, dass in Сквозь прощальные слезы eine Dimension des gemeinsam sprechenden und fühlenden Chors vorhanden ist, lässt sich nicht nur aus den synkretistischen Anfängen der Lyrik, sondern auch aus den Tragödien-Bezügen herleiten.546 Bekanntlich entstand die Tragödie durch das Hinzutreten des Prota-gonisten zu Chorliedern (Dithyramben). Сквозь прощальные слезы ließe sich also als eine Urform (bzw. innovative Variante) der Tragödie lesen, in der abge-trennte Schauspieler-Parts fehlen. In der klassischen Tragödie konnte der Chor als Handlungsträger sowie auch als Erzähler oder „lyrisches Ich“ fungieren;

Käppel spricht vom Chor sogar explizit als einem in die dramatische Gattung

541 Кибиров, Тимур: Стихи, 615–617.

542 Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 72, 105, 130.

543 Nurmuchamedovas Ausgangspunkt ist S. N. Brojtmans Überblicksdarstellung Историче-ская поэтика (2001), neu aufgelegt als: Бройтман, С. Н.: ИсторичеИсториче-ская поэтика. (=Теория литературы. Под ред. Н. Д. Тамарченко. Т. 2.) 3-е изд., стереоти. М.: Academia 2008.

544 Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 126–131.

545 Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 137: „Рус-ская народная лирика не столько «создается», сколько исполняется. Место автора за-ступает в ней исполнитель. […] Певец поет о себе, слушатель слушает о себе же.“

546 Erste Überlegungen in Rutz, Marion: Die Bändigung der kulturellen Vielfalt, 213–214.

166 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

pitel, wo sie – wie schon erläutert – Stationen der Musikgeschichte markieren, sondern wiederholen sich im Kapiteltext in unterschiedlichsten Adressierungen, in Kapitel I z. B. gut ein Dutzend Mal:

I,1 Спой же песню мне, Глеб Кржижановский!

I,2 Спой мне песню, парнишка кудрявый, I,10 Пой же, пой, обезумевший Павка,

I,11f. Пой же, пой о лазоревых зорях, / […] Пой же, пой, мое горькое горе, I,13f. Пой, селькор, при лучине своей, / Пой, придуманный, пой, настоящий I,29 Спой мне тихо, а я подпою.

I,30f. Спой мне песню: Гренада, Гренада, / Спойте, мертвые губы: Грена…

Man kann nach konkreten Prätexten suchen, auf die dieses Motiv zurückgehen könnte, etwa auf das Lied Песня о первом пионерском отряде (1964; T.:

Sakko Runge, M.: Aleksandr Doluchanjan)535 oder Веселый ветер (1936; T.:

Vasilij Lebedev-Kumač, M.: Isaak Dunaevskij).536 Nurmuchamedova nennt mit Esenins „Пой же пой на проклятой гитаре...“ und Michail Isakovskijs

„Спой мне, спой Прокошина...“ weitere mögliche Bezüge.537 Man kann sogar bei den Wurzeln des Epos ansetzen,538 Gnedičs kanonische Übersetzung der Illi-as beginnt bekanntlich mit „Гнев, богиня, воспой Ахиллеса“.539 Einen konkre-ten Referenztext zu eruieren, erweist sich als unmöglich (es könnte jeder oder auch alle zusammen sein) und ist wohl auch nicht notwendig. Die Funktion des Appells besteht vorrangig in der Schaffung einer lockeren Struktur, die die asso-ziativ zusammengesetzten Textsplitter verbindet, sowie in der Betonung der all-gemeinen Liedhaftigkeit des Textes im Sinne einer intertextuellen Präsenz von populärem Kulturgut.

Kibirov führt die ursprüngliche Idee zu Сквозь прощальные слезы übrigens auf ein sowjetisches Liederbuch (песенник) zurück.540 Die einzelnen Kapitel sollten die Gliederung der Vorlage abbilden. Das Intermedium war ursprünglich als Pendant zu dem Liederbuchkapitel mit Volksliedern und Romanzen des 19.

Jahrhunderts gedacht und sollte den Text im Sinne einer Reintegration in die prärevolutionäre Kultur abschließen.

535 Песенник анархиста и подпольщика: „Спой песню, как бывало, / Отрядный запева-ла, / А я ее тихонько подхвачу.“

536 Песенник анархиста и подпольщика; Русские советские песни (1917–1977), 176–177:

„А ну-ка, песню нам пропой, веселый ветер, / Веселый ветер, веселый ветер!“. Siehe Лекманов, Олег & Team LJ: Опыт коллективного комментария, 04.04.2005.

537 Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 72.

538 Nach Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 68;

133.

539 Siehe den in Fn.536 genannten Blog-Eintrag.

540 So im persönlichen Gespräch am 13.05.2007 in Moskau.

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 167 Neben Сквозь прощальные слезы gibt es ein weiteres Gedicht Kibirovs, das über das Motiv des Singens und populäre intertextuelle Referenzen eine histori-sche Retrospektive entwirft: „Спой мне песню, про все что угодно ...“ aus dem Buch Общие места stellt eine Protoversion von Сквозь прощальные слезы dar.541 Strophen, Reime, Metrum sind identisch mit der Form der histori-schen Kapitel, es finden sich ähnliche Topoi und Zitate. Das Gedicht umfasst allerdings nur 14 Strophen, die primär aus der Stalinzeit schöpfen.

In den intertextuell dichten Kapiteln von Сквозь прощальные слезы fungiert die in der 1. Person Singular auftretende Sprecherinstanz als eine Art Medium, durch das die jeweilige Epoche sich artikuliert. Nurmuchamedova spricht pas-send von einem „proteischen Bewusstsein“ (протеическое сознание),542 nach dem Gestaltwandler aus der griechischen Mythologie. Weiterhin sieht sie in Сквозь прощальные слезы ein „lyrisches Wir“, das sie als chorhaftes Bewusst-sein der jeweiligen Epoche versteht. Vor dem Hintergrund von Erkenntnissen der sogenannten Historischen Poetik (als Begründer gilt Aleksandr Veselovskij, 1838–1906)543 zieht sie Parallelen zur frühen griechischen Lyrik (der Literatur der sog. „synkretistischen Epoche“), die noch keinen individuellen Autor kannte und ein Kollektiv als Ich sprechen ließ,544 sowie zum Volkslied, das sowohl Sängerin und Sänger als auch den Zuhörerinnen und Zuhörern etwas über sich selbst mitteile.545

Die Idee, dass in Сквозь прощальные слезы eine Dimension des gemeinsam sprechenden und fühlenden Chors vorhanden ist, lässt sich nicht nur aus den synkretistischen Anfängen der Lyrik, sondern auch aus den Tragödien-Bezügen herleiten.546 Bekanntlich entstand die Tragödie durch das Hinzutreten des Prota-gonisten zu Chorliedern (Dithyramben). Сквозь прощальные слезы ließe sich also als eine Urform (bzw. innovative Variante) der Tragödie lesen, in der abge-trennte Schauspieler-Parts fehlen. In der klassischen Tragödie konnte der Chor als Handlungsträger sowie auch als Erzähler oder „lyrisches Ich“ fungieren;

Käppel spricht vom Chor sogar explizit als einem in die dramatische Gattung

541 Кибиров, Тимур: Стихи, 615–617.

542 Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 72, 105, 130.

543 Nurmuchamedovas Ausgangspunkt ist S. N. Brojtmans Überblicksdarstellung Историче-ская поэтика (2001), neu aufgelegt als: Бройтман, С. Н.: ИсторичеИсториче-ская поэтика. (=Теория литературы. Под ред. Н. Д. Тамарченко. Т. 2.) 3-е изд., стереоти. М.: Academia 2008.

544 Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 126–131.

545Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 137: „Рус-ская народная лирика не столько «создается», сколько исполняется. Место автора за-ступает в ней исполнитель. […] Певец поет о себе, слушатель слушает о себе же.“

546 Erste Überlegungen in Rutz, Marion: Die Bändigung der kulturellen Vielfalt, 213–214.

168 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

übernommenen Element der Lyrik.547 Dabei führe der Tragödienchor im Unter-schied zur Lyrik eine Doppelexistenz, da er einerseits zur fiktionalen Welt gehö-re (z. B. als Gruppe alter Frauen), andegehö-rerseits von außen auf das Geschehen blicke.548 Auch diese Ansätze lassen sich auf Kibirovs Gestaltung der Sprecher-Instanz übertragen, die zwischen Rolle und Narrator / Sprecher steht bzw. wech-selt. Die kollektive Chor-Komponente kann man dabei in den intertextuell gene-rierten Stimmen im Text verorten (so Nurmuchamedova, die den

„neosynkretistischen“ Chor in der Intertextualität realisiert sieht549), oder aber bei der imaginierten Leserschaft, die die bekannten Zitate und gemeinsamen Erinnerungen nachvollzieht bzw. mitspricht. Im zweiten Fall wäre die Lektüre des Textes eine Art therapeutische (Gruppen-)Sitzung.

Dass Сквозь прощальные слезы über weite Strecken als kollektiver Text wahrgenommen wird, liegt auch daran, dass das „Ich“550 gerade in den zentralen historischen Kapiteln über weite Strecken als rein performative Instanz auftritt, die keine eigenen Erlebnisse oder Erinnerungen wiedergibt, sondern Zitate und Rollen nachspricht. Erzähltempus ist das Präsens, und das „Ich“ interagiert mit diversen (intertextuell motivierten) Personen. Es wirkt somit wie ein Teil der erzählten Welt, d. h. es tritt als diegetischer Erzähler auf. Bei dieser Teilnahme handelt es sich jedoch um eine metaliterarische Fiktion, denn es ist offensicht-lich, dass der Sprecher zumindest einige Epochen der Sowjetgeschichte nicht

547 Käppel, Lutz: Die Rolle des Chores in der Orestie des Aischylos. Vom epischen Erzähler über das lyrische Ich zur dramatis persona. In: Riemer, Peter; Zimmermann, Bernhard (Hgg.): Der Chor im antiken und modernen Drama. Stuttgart; Weimar: J. B. Metzler 1998.

61–88. 65 „[Es] kann kein Zweifel daran bestehen, daß es sich in beiden Gattungen [Chor-lyrik und Tragödie; M. R.] grundsätzlich um dasselbe Phänomen handelt, bzw. daß – schon rein phänomenologisch – der Chor der Tragödie nichts anderes ist als ein in die dramatische Gattung integriertes Element der lyrischen Gattung.“ (Hervorhebung M. R.)

548 Käppel, Lutz: Die Rolle des Chores in der Orestie des Aischylos, 66–67.

549 Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 131.

550 Die Übertragung von Konzepten der Erzähltextanalyse hat bei der Frage, wer genau spricht, Klarheit geschaffen, vgl. mit dem früheren Beschreibungsversuch: Rutz, Marion: Die Bändigung der kulturellen Vielfalt, 215–216. Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова untersucht das „lyrische Subjekt“ im Rahmen der Lyriktheorie. Ihr Theorieteil (9–20) basiert auf russisch- und (älterer) deutschsprachiger Sekundärliteratur. Die Idee einer Skala „lyrischer Subjektivität“, auf der Autor bzw. Erzähler‚ ‚lyrisches Ich‘, ‚lyri-scher Held‘ sowie ‚Rollen-Maske‘ (ролевая маска, in Rollengedichten) zu finden sind, geht ursprünglich auf Boris Korman zurück und wurde u. a. von Samson Brojtman, auf den sich Nurmuchamedova häufig bezieht, rezipiert (siehe Rutz, Marion: „Wohin gehört das Gedicht?“

und „Wer spricht es?“, Teil 4.1). In Bezug auf Kibirov favorisiert sie den Terminus ‚lyrische Person‘ (лирический персонаж), eine Verbindung von Rollen-Maske und lyrischem Ich (u.

a. 75, 143, 146), was jedoch nur bedingt zur begrifflichen Präzision beiträgt und nicht für alle Kapitel zutrifft.

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 169 realt miterlebt hat (s. u.) und nicht unvermittelt von eigenen Erlebnissen erzählt, sondern Kulturzitate wiedergibt.

Daher verwundert es nicht, dass das „Ich“ antagonistische Positionen bzw.

Rollen einnimmt,551 was insbesondere in Kap. I und II zu spüren ist. Hier spricht es bald als Kommunist (z. B. Str. I,2–3; I,17), bald als Weißgardist (Str. I,22) oder sich prostituierende Emigrantentochter (Str. I,16), bald als überzeugter Sta-linist (Str. II,16), bald als Gulag-Häftling (Str. II,27; Str. II,29–31).552 Einige dieser Identifikationen sind unmittelbar durch die Prätexte bedingt. So stammt in Str. I,16 das Possessivpronomen der 1. Person Singular aus einem „Ganoven-lied“ (блатная песня), in dem eine Frau ihr bitteres Los beklagt. Bei Kibirov heißt es (Hervorhebungen von mir; M. R.):

И поет, что поломаны крылья, Жгучей болью всю душу свело, Кокаина серебряной пылью Всю дорогу мою замело!553

Dass die reale Leserschaft solche Unterscheidungen vornimmt, wo eine Form nur übernommen ist oder das „ich“ oder „wir“ sich unmittelbar auf den Sprecher bezieht, ist aber nicht zu erwarten. Die 1. Person wird summarisch als Indikator für das allgemeine Anlegen intertextueller Masken wahrgenommen.

Weitaus häufiger als Identifikationen, die über die Verwendung von Prono-mina der 1. Person Singular und auch Plural erfolgen, sind jedoch Fälle, in denen ein als „du“ oder „ihr“ betiteltes Gegenüber angesprochen wird. Einige dieser Adressierungen erfolgen über die schon erwähnten Sing-Appelle z. B. in Str. IV, 33 (Kursive von mir; M. R.):

Спой же песню, стиляжка дурная, В брючках-дудочках, с конским хвостом, Ты в душе-то ведь точно такая.

Спой мне – ах, это, брат, о другом!

551 Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 120–121 geht von einer Spaltung in eine Sphäre des „lyrischen Ich“ und des „lyrischen Du“ aus. Ihre Folge-rung, dass das Du im Bereich der offiziellen Zitate verortet sei, während die Ich-Prätexte aus dem inoffiziellen Bereich stammen, ist allerdings nicht zutreffend. Gegenbeispiele finden sich z. B. in Str. I,28 (die 1. Person Singular ist mit dem offiziellen Lied Прощальная комсомольская verbunden); Str. I,19 (Weißgardisten werden in der 2. Person Plural ange-sprochen). Der Text sträubt sich gegen eine genaue Zuordnungen der Positionen, siehe Rutz, Marion: Die Bändigung der kulturellen Vielfalt, 216.

552 In Kapitel IV, insbesondere jedoch in Kapitel III und V sind die Perspektivwechsel weniger ausgeprägt. In Kapitel III spricht unmittelbar das „Ich“, statt Zitaten stehen überwiegend direkte Aussagen. Kapitel V wechselt gegen Ende komplett zur eigenen Stimme.

553 Lied „Перебиты, поломаны крылья…“: Песенник анархиста и подпольщика:

„Перебиты, поломаны крылья, / Дикой болью мне душу свело, / Кокаина серебряной пылью / Все дороги мои замело.“

168 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

übernommenen Element der Lyrik.547 Dabei führe der Tragödienchor im Unter-schied zur Lyrik eine Doppelexistenz, da er einerseits zur fiktionalen Welt gehö-re (z. B. als Gruppe alter Frauen), andegehö-rerseits von außen auf das Geschehen blicke.548 Auch diese Ansätze lassen sich auf Kibirovs Gestaltung der Sprecher-Instanz übertragen, die zwischen Rolle und Narrator / Sprecher steht bzw. wech-selt. Die kollektive Chor-Komponente kann man dabei in den intertextuell gene-rierten Stimmen im Text verorten (so Nurmuchamedova, die den

„neosynkretistischen“ Chor in der Intertextualität realisiert sieht549), oder aber bei der imaginierten Leserschaft, die die bekannten Zitate und gemeinsamen Erinnerungen nachvollzieht bzw. mitspricht. Im zweiten Fall wäre die Lektüre des Textes eine Art therapeutische (Gruppen-)Sitzung.

Dass Сквозь прощальные слезы über weite Strecken als kollektiver Text wahrgenommen wird, liegt auch daran, dass das „Ich“550 gerade in den zentralen historischen Kapiteln über weite Strecken als rein performative Instanz auftritt, die keine eigenen Erlebnisse oder Erinnerungen wiedergibt, sondern Zitate und Rollen nachspricht. Erzähltempus ist das Präsens, und das „Ich“ interagiert mit diversen (intertextuell motivierten) Personen. Es wirkt somit wie ein Teil der erzählten Welt, d. h. es tritt als diegetischer Erzähler auf. Bei dieser Teilnahme handelt es sich jedoch um eine metaliterarische Fiktion, denn es ist offensicht-lich, dass der Sprecher zumindest einige Epochen der Sowjetgeschichte nicht

547 Käppel, Lutz: Die Rolle des Chores in der Orestie des Aischylos. Vom epischen Erzähler über das lyrische Ich zur dramatis persona. In: Riemer, Peter; Zimmermann, Bernhard (Hgg.): Der Chor im antiken und modernen Drama. Stuttgart; Weimar: J. B. Metzler 1998.

61–88. 65 „[Es] kann kein Zweifel daran bestehen, daß es sich in beiden Gattungen [Chor-lyrik und Tragödie; M. R.] grundsätzlich um dasselbe Phänomen handelt, bzw. daß – schon rein phänomenologisch – der Chor der Tragödie nichts anderes ist als ein in die dramatische Gattung integriertes Element der lyrischen Gattung.“ (Hervorhebung M. R.)

548 Käppel, Lutz: Die Rolle des Chores in der Orestie des Aischylos, 66–67.

549 Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 131.

550 Die Übertragung von Konzepten der Erzähltextanalyse hat bei der Frage, wer genau spricht, Klarheit geschaffen, vgl. mit dem früheren Beschreibungsversuch: Rutz, Marion: Die Bändigung der kulturellen Vielfalt, 215–216. Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова untersucht das „lyrische Subjekt“ im Rahmen der Lyriktheorie. Ihr Theorieteil (9–20) basiert auf russisch- und (älterer) deutschsprachiger Sekundärliteratur. Die Idee einer Skala „lyrischer Subjektivität“, auf der Autor bzw. Erzähler‚ ‚lyrisches Ich‘, ‚lyri-scher Held‘ sowie ‚Rollen-Maske‘ (ролевая маска, in Rollengedichten) zu finden sind, geht ursprünglich auf Boris Korman zurück und wurde u. a. von Samson Brojtman, auf den sich Nurmuchamedova häufig bezieht, rezipiert (siehe Rutz, Marion: „Wohin gehört das Gedicht?“

und „Wer spricht es?“, Teil 4.1). In Bezug auf Kibirov favorisiert sie den Terminus ‚lyrische Person‘ (лирический персонаж), eine Verbindung von Rollen-Maske und lyrischem Ich (u.

a. 75, 143, 146), was jedoch nur bedingt zur begrifflichen Präzision beiträgt und nicht für alle

a. 75, 143, 146), was jedoch nur bedingt zur begrifflichen Präzision beiträgt und nicht für alle

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