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Die christliche Alternative

Im Dokument 33 3 (Seite 142-150)

4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN 420

4.1. AUSWEGE AUS DER SOWJETISCHEN GEGENWART:

4.1.1. Die christliche Alternative

424 Der Zyklus erschien erstmals in dem Band mit Texten von vier jungen Autoren Общие места (1990), wo er ebenfalls als strukturierendes Gerüst dient. Ged. 4 mit seiner christlichen Utopie schließt den Teil mit Kibirovs Texten ab.

425 Gorbatschow, Michail: Überzeugung als Grundfeste der Umgestaltung. Rede bei dem Treffen mit den Leitern der Massenmedien und der Propaganda im Zentralkomitee der KPdSU. 11. Februar 1987. In: Gorbatschow, Michail: Ausgewählte Reden und Aufsätze. Ber-lin: Dietz 1987–1990, Bd. 4. 408–416.

4.1. Auswege aus der sowjetischen Gegenwart: Рождественские аллегории 127

4.1. AUSWEGE AUS DER SOWJETISCHEN GEGENWART:

РОЖДЕСТВЕНСКИЕ АЛЛЕГОРИИ

Die mit dem Namen Gorbačev verbundenen Reformen verfolgten eigentlich das Ziel, die Sowjetunion in eine bessere Zukunft zu führen, die wieder von den ur-sprünglichen, Lenin’schen Idealen geprägt sein sollte. Bei Kibirov wird eine ganz andere reformerische Perspektive entworfen. Der Buchtitel Рождествен-ская песнь квартиранта sowie der Zyklustitel Рождественские аллегории426 verweisen auf Weihnachten und rücken das christliche Thema ins Zentrum.427 Die am Ende der vierten Allegorie präsentierte christliche Lösung wird durch vier Krankheitsbilder der Gesellschaft vorbereitet. Diesen Fallbeispielen liegen repräsentative Figuren- und Problemkonstellationen zugrunde, auch in den Mot-tos ist eine Generalisierung angelegt. Zentral für die Wirkung der Allegorien sind die Erzählperspektiven, die die emotionale Wirkung der Gedichte tragen.

Sie lassen sich mit Hilfe narratologischer Kategorien beschreiben. Allerdings finden sich in den Texten auch komische Akzente, die die Aufrichtigkeit der vermittelten „Nachricht“ etwas reduzieren.

4.1.1. Die christliche Alternative

Die christliche Botschaft der Weihnachtsallegorien gerät vor allem aus der Per-spektive des Gesamtwerks in den Blick, zu dem auch ein Buch mit Gedichten über Gott und den Glauben gehört, Греко- и римско-кафолические песенки и потешки (publ. 2009, siehe Kap. 8.5). Was die in Рождественские аллегории entwickelte christlich-utopische Perspektive betrifft, ist zu berücksichtigen, dass die kulturelle Bedeutung von Рождество sich von dem westlichen Konzept unterscheidet. In der Sowjetunion war Weihnachten kein konsumorientiertes Familienfest – diese Funktion erfüllte und erfüllt Neujahr –, sondern ein inoffi-zieller Feiertag einer gläubigen Minderheit. Darüber hinaus begeht die russisch-orthodoxe Kirche die Geburt Jesu am 7. Januar, also nach der Jahreswende. Aus diesem Grund schildern Kibirovs Allegorien Momente, die vor Weihnachten

426 Textgrundlage: Кибиров, Тимур: Сантименты. Восемь книг, 69–70; 83–84; 95–96;

105–106.

427 Zu Рождественские аллегории siehe den Aufsatz Багрецов, Д. Н.: Духовный реализм и творческая индивидуальность, der ein Unterkapitel von Bagrecovs Dissertation weiter-führt (Багрецов, Д. Н.: Тимур Кибиров. Интертекст и творческая индивидуальность, 30–

33). Theoretische Basis ist das Konzept „spiritueller Realismus“ (духовный реализм, 367–

368), das die Literatur letztlich auf die Rolle eines moralischen Instruments festlegt und in einer entsprechenden Bewertung der verglichen Autoren resultiert. Bagrecov erkennt die Re-levanz von Kibirovs Zyklus sowie sein Thema – die Darstellung der Sinnkrise und der (christ-liche) Ausweg. Die in meiner Analyse zentralen Aspekte Perspektivierung und Emotionalisierung werden nicht berücksichtigt, auch nicht die Verbindung zu Сквозь прощальные слезы.

126 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

len die weiteren Gedichte zu Blöcken angeordnet sind.424 Dieser Рожде-ственские аллегории betitelte Zyklus führt als neues Thema den Blick auf die Menschen ein. Es wird keine Ideologie dekonstruiert, sondern es werden Einzel-schicksale geschildert, denen eine symptomatische Funktion zukommt. Dabei appellieren die Gedichte, im Unterschied zu den in Kapitel 3 behandelten Tex-ten, an die Gefühle der Leserschaft, obgleich ein ironischer Unterton bleibt.

Das zweite Unterkapitel beschäftigt sich mit dem umfangreichen Textensem-ble Сквозь прощальные слезы, das die Gesamtausgaben als autonome Textein-heit, d. h. als Buch, führen. Es handelt sich um einen aus acht Komponenten zusammengesetzten Verstext: fünf historische Kapitel sowie Prolog, In-termedium, Epilog. Er zeichnet ein Panorama der sowjetischen Geschichte, das die Sichtungen der Vergangenheit, die spätestens seit Gorbačevs Zustimmung zur Klärung der „weißen Flecken“425 die ganze Gesellschaft beschäftigten, im poetischen Medium umsetzt. Diese Gesamtschau ist von unzähligen intertextuel-len Referenzen durchzogen, die vertraute Bilder aufrufen, wobei verschiedene interpretative Muster die Materialfülle organisieren. Obwohl gerade die intertex-tuelle Dichte Сквозь прощальные слезы den Charakter eines kollektiven Textes verleiht, sind auch Bezüge auf die Person des Autors vorhanden. Ähnlich wie die Weihnachtsallegorien zielt der Text auf eine emotionale Verarbeitung. Diese Spezifik zeigt sich insbesondere im Vergleich mit Kibirovs Konzeptualismus-Stilisierung Любовь, комсомол и весна.

Die Textensembles Рождественские аллегории und Сквозь прощальные слезы sind neben der zeitlichen Nähe auch durch Bezüge auf den gleichen Prä-text – Nabokovs Gedicht Родина – miteinander verbunden, was eine verglei-chende Betrachtung nahelegt. Gegenüber den in Kap. 3 untersuchten Texten zeigt sich dabei eine Veränderung der Betrachtungsweise – an die Stelle von Solov’evs Modus Komödie tritt die Tragödie. Die Misstände und die Mitschuld werden bewusst.

424 Der Zyklus erschien erstmals in dem Band mit Texten von vier jungen Autoren Общие места (1990), wo er ebenfalls als strukturierendes Gerüst dient. Ged. 4 mit seiner christlichen Utopie schließt den Teil mit Kibirovs Texten ab.

425 Gorbatschow, Michail: Überzeugung als Grundfeste der Umgestaltung. Rede bei dem Treffen mit den Leitern der Massenmedien und der Propaganda im Zentralkomitee der KPdSU. 11. Februar 1987. In: Gorbatschow, Michail: Ausgewählte Reden und Aufsätze. Ber-lin: Dietz 1987–1990, Bd. 4. 408–416.

4.1. Auswege aus der sowjetischen Gegenwart: Рождественские аллегории 127

4.1. AUSWEGE AUS DER SOWJETISCHEN GEGENWART:

РОЖДЕСТВЕНСКИЕ АЛЛЕГОРИИ

Die mit dem Namen Gorbačev verbundenen Reformen verfolgten eigentlich das Ziel, die Sowjetunion in eine bessere Zukunft zu führen, die wieder von den ur-sprünglichen, Lenin’schen Idealen geprägt sein sollte. Bei Kibirov wird eine ganz andere reformerische Perspektive entworfen. Der Buchtitel Рождествен-ская песнь квартиранта sowie der Zyklustitel Рождественские аллегории426 verweisen auf Weihnachten und rücken das christliche Thema ins Zentrum.427 Die am Ende der vierten Allegorie präsentierte christliche Lösung wird durch vier Krankheitsbilder der Gesellschaft vorbereitet. Diesen Fallbeispielen liegen repräsentative Figuren- und Problemkonstellationen zugrunde, auch in den Mot-tos ist eine Generalisierung angelegt. Zentral für die Wirkung der Allegorien sind die Erzählperspektiven, die die emotionale Wirkung der Gedichte tragen.

Sie lassen sich mit Hilfe narratologischer Kategorien beschreiben. Allerdings finden sich in den Texten auch komische Akzente, die die Aufrichtigkeit der vermittelten „Nachricht“ etwas reduzieren.

4.1.1. Die christliche Alternative

Die christliche Botschaft der Weihnachtsallegorien gerät vor allem aus der Per-spektive des Gesamtwerks in den Blick, zu dem auch ein Buch mit Gedichten über Gott und den Glauben gehört, Греко- и римско-кафолические песенки и потешки (publ. 2009, siehe Kap. 8.5). Was die in Рождественские аллегории entwickelte christlich-utopische Perspektive betrifft, ist zu berücksichtigen, dass die kulturelle Bedeutung von Рождество sich von dem westlichen Konzept unterscheidet. In der Sowjetunion war Weihnachten kein konsumorientiertes Familienfest – diese Funktion erfüllte und erfüllt Neujahr –, sondern ein inoffi-zieller Feiertag einer gläubigen Minderheit. Darüber hinaus begeht die russisch-orthodoxe Kirche die Geburt Jesu am 7. Januar, also nach der Jahreswende. Aus diesem Grund schildern Kibirovs Allegorien Momente, die vor Weihnachten

426 Textgrundlage: Кибиров, Тимур: Сантименты. Восемь книг, 69–70; 83–84; 95–96;

105–106.

427 Zu Рождественские аллегории siehe den Aufsatz Багрецов, Д. Н.: Духовный реализм и творческая индивидуальность, der ein Unterkapitel von Bagrecovs Dissertation weiter-führt (Багрецов, Д. Н.: Тимур Кибиров. Интертекст и творческая индивидуальность, 30–

33). Theoretische Basis ist das Konzept „spiritueller Realismus“ (духовный реализм, 367–

368), das die Literatur letztlich auf die Rolle eines moralischen Instruments festlegt und in einer entsprechenden Bewertung der verglichen Autoren resultiert. Bagrecov erkennt die Re-levanz von Kibirovs Zyklus sowie sein Thema – die Darstellung der Sinnkrise und der (christ-liche) Ausweg. Die in meiner Analyse zentralen Aspekte Perspektivierung und Emotionalisierung werden nicht berücksichtigt, auch nicht die Verbindung zu Сквозь прощальные слезы.

128 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

liegen und auf Silvester (Allegorie 1 und 3), bzw. „vor dem Feiertag“ (Allegorie 2) datiert sind. Weihnachten wird erst in Allegorie 4 erwähnt, und zwar in den beiden letzten Strophen, die über die Normlänge von je 10 Strophen hinausge-hen. In diesem angefügten Epilog wird der Protagonistin folgende Heilsbot-schaft verkündet:

Рождество приближается. Снова рожден Царь Небесный. Послушай-ка, Юля!

Слушай – Лазарь был мертв, а потом воскрешен!

Воскрешен! Понимаешь ты, дура?

Ну пойми же, пойми! Угости нас тортóм!

Или тóртом! Не надо сердиться!

Ну, давай же о Лазаре вместе прочтем,

Как когда-то убийца с блудницей. [IV, 11-12]

Weihnachten repräsentiert in den Gedichten das Versprechen einer besseren Zu-kunft. Jesu Geburt wird dabei als Ankündigung von Ostern ausgedeutet und mit der Auferstehung verbunden: So wie der von den Toten auferweckte Lazarus könne Julija Petrovna die Chance auf einen Neuanfang erhalten. Ist Weihnach-ten auf Ostern bezogen, kommt dem Neujahrsfest die Funktion des Karfreitags zu, d. h. einer Krise, ohne die der Neubeginn nicht möglich wäre. Dabei bleiben Kibirovs Allegorien allerdings literarische Texte, die Humor zulassen, etwa wenn das Ritual des Brotbrechens zum Aufteilen der Torte wird.

Die in den Allegorien geschilderten Probleme der vier Protagonisten unter-scheiden sich diametral von der Lebensweise bzw. dem Ideal, die in Kibirovs Werk dem alter ego des Dichters (dem ‚lyrischen Helden‘ bzw. mit narratologi-schen Termini: dem ‚erzählten Ich‘) zugewiesen werden. In den Gedichten „В блаженном столбняке, в сияньи золотом...“, Рождество (beide aus Общие места428), Христологический диптих (Лирико-дидактические поэмы) wie auch in dem Gedicht Рождественская песнь квартиранта aus dem gleich-namigen Buch429 wird das Glück in der Gegenwart der Geliebten gefunden. In den genannten Texten weist die Liebe zu Ljuda-Ljudmila explizite christliche Konnotationen auf. Am Ende von Рождество befinden sich die beiden Lieben-den z. B. inmitten der Menschenmenge, die von allen EnLieben-den der UdSSR zum neuen Bethlehem strömt. Die Liebe zu Gott und die zur Frau stellen – zumindest im Frühwerk – Ausprägungen des gleichen Grundphänomens dar.

Kibirovs Gedichte nehmen hier einen eigenen Standpunkt innerhalb der Dis-kussion um Wertewandel und -krise der postsowjetischen Gesellschaft sowie um die Renaissance des Glaubens ein, die Soziologie,430 Politik sowie auch die

428 Кибиров, Тимур: Стихи, 599–601; 630–642.

429 Кибиров, Тимур: Сантименты. Восемь книг, 47–50; 101–104.

430 Zu nennen sind etwa Berichte des Bundesinstituts für Ostwissenschaftliche und Internatio-nale Studien aus den 1990ern: Samsonova, Tamara V.: Perestrojka der Ethik und Ethik der

4.1. Auswege aus der sowjetischen Gegenwart: Рождественские аллегории 129 Bevölkerung selbst seit mehr als zwei Jahrzehnten bewegt. Während die Stagna-tionsperiode heute oft als Zeit stabiler Werte erinnert wird und viele den morali-schen Verfall aus dem Chaos der Elʼcin-Jahre herleiten, konstatieren Kibirovs Allegorien aus der Zeitzeugenperspektive eine moralische Krise eben des homo sovieticus.

Abb. 13: Illustration in der Ausgabe Сантименты. Восемь книг; Grafik von Michail Zajcev nach einer Fotografie von Semen Faibisovič431

Perestrojka. BIOST 1990-30; Kääriäinen, Kimmo: Die Ethik-Diskussion in Rußland. BIOST 1995-56; Ignatow, Assen: Die mühsame Entdeckung des Individuums. Wertewandel und Wertekonflikte in Rußland. BIOST 1997-22; Kääriäinen, Kimmo: Moral Crisis or Immoral Society? Russian Values after the Collapse of Communism. BIOST 1997-26; Tichonowa, N.;

Scheregi, F.: Russische Identität 1998. Werte, gesellschaftliche Vorstellungen und politische Identifikationen im postsowjetischen Rußland. BIOST 1999. Die meisten Berichte sind aktu-ell online zugänglich unter http://www.ssoar.info.

Speziell mit der religiösen Renaissance beschäftigte sich das russisch-finnische Projekt Религия и ценности после падения коммунизма, siehe die Sammelbände Каариайнен, Киммо; Фурман, Дмитрий (ред.): Старые церкви, новые верующие. Религия в массовом сознании постсоветской России. М.; СПб.: Летний сад 2000; Каариайнен, Киммо;

Фурман, Дмитрий (ред.): Новые церкви, старые верующие – старые церкви, новые ве-рующие. Религия в постсоветской России. М.; СПб.: Летний сад 2007.

431 Кибиров, Тимур: Сантименты. Восемь книг, 94f. Über diese Sammelausgabe, die acht Bücher Kibirovs aus den Jahren 1986–1991 umfasst, sind insgesamt 13 solcher schwarz-weißer Grafiken verteilt. Der Zusammenhang zwischen Bild und Text ist relativ gering, es handelt sich nicht um interpretierende Illustrationen. Allerdings passt der fotorealistischer Stil zu Kibirovs Texten, die die gesellschaftliche Realität der späten 80er und 90er abbilden.

128 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

liegen und auf Silvester (Allegorie 1 und 3), bzw. „vor dem Feiertag“ (Allegorie 2) datiert sind. Weihnachten wird erst in Allegorie 4 erwähnt, und zwar in den beiden letzten Strophen, die über die Normlänge von je 10 Strophen hinausge-hen. In diesem angefügten Epilog wird der Protagonistin folgende Heilsbot-schaft verkündet:

Рождество приближается. Снова рожден Царь Небесный. Послушай-ка, Юля!

Слушай – Лазарь был мертв, а потом воскрешен!

Воскрешен! Понимаешь ты, дура?

Ну пойми же, пойми! Угости нас тортóм!

Или тóртом! Не надо сердиться!

Ну, давай же о Лазаре вместе прочтем,

Как когда-то убийца с блудницей. [IV, 11-12]

Weihnachten repräsentiert in den Gedichten das Versprechen einer besseren Zu-kunft. Jesu Geburt wird dabei als Ankündigung von Ostern ausgedeutet und mit der Auferstehung verbunden: So wie der von den Toten auferweckte Lazarus könne Julija Petrovna die Chance auf einen Neuanfang erhalten. Ist Weihnach-ten auf Ostern bezogen, kommt dem Neujahrsfest die Funktion des Karfreitags zu, d. h. einer Krise, ohne die der Neubeginn nicht möglich wäre. Dabei bleiben Kibirovs Allegorien allerdings literarische Texte, die Humor zulassen, etwa wenn das Ritual des Brotbrechens zum Aufteilen der Torte wird.

Die in den Allegorien geschilderten Probleme der vier Protagonisten unter-scheiden sich diametral von der Lebensweise bzw. dem Ideal, die in Kibirovs Werk dem alter ego des Dichters (dem ‚lyrischen Helden‘ bzw. mit narratologi-schen Termini: dem ‚erzählten Ich‘) zugewiesen werden. In den Gedichten „В блаженном столбняке, в сияньи золотом...“, Рождество (beide aus Общие места428), Христологический диптих (Лирико-дидактические поэмы) wie auch in dem Gedicht Рождественская песнь квартиранта aus dem gleich-namigen Buch429 wird das Glück in der Gegenwart der Geliebten gefunden. In den genannten Texten weist die Liebe zu Ljuda-Ljudmila explizite christliche Konnotationen auf. Am Ende von Рождество befinden sich die beiden Lieben-den z. B. inmitten der Menschenmenge, die von allen EnLieben-den der UdSSR zum neuen Bethlehem strömt. Die Liebe zu Gott und die zur Frau stellen – zumindest im Frühwerk – Ausprägungen des gleichen Grundphänomens dar.

Kibirovs Gedichte nehmen hier einen eigenen Standpunkt innerhalb der Dis-kussion um Wertewandel und -krise der postsowjetischen Gesellschaft sowie um die Renaissance des Glaubens ein, die Soziologie,430 Politik sowie auch die

428 Кибиров, Тимур: Стихи, 599–601; 630–642.

429 Кибиров, Тимур: Сантименты. Восемь книг, 47–50; 101–104.

430 Zu nennen sind etwa Berichte des Bundesinstituts für Ostwissenschaftliche und Internatio-nale Studien aus den 1990ern: Samsonova, Tamara V.: Perestrojka der Ethik und Ethik der

4.1. Auswege aus der sowjetischen Gegenwart: Рождественские аллегории 129 Bevölkerung selbst seit mehr als zwei Jahrzehnten bewegt. Während die Stagna-tionsperiode heute oft als Zeit stabiler Werte erinnert wird und viele den morali-schen Verfall aus dem Chaos der Elʼcin-Jahre herleiten, konstatieren Kibirovs Allegorien aus der Zeitzeugenperspektive eine moralische Krise eben des homo sovieticus.

Abb. 13: Illustration in der Ausgabe Сантименты. Восемь книг; Grafik von Michail Zajcev nach einer Fotografie von Semen Faibisovič431

Perestrojka. BIOST 1990-30; Kääriäinen, Kimmo: Die Ethik-Diskussion in Rußland. BIOST 1995-56; Ignatow, Assen: Die mühsame Entdeckung des Individuums. Wertewandel und Wertekonflikte in Rußland. BIOST 1997-22; Kääriäinen, Kimmo: Moral Crisis or Immoral Society? Russian Values after the Collapse of Communism. BIOST 1997-26; Tichonowa, N.;

Scheregi, F.: Russische Identität 1998. Werte, gesellschaftliche Vorstellungen und politische Identifikationen im postsowjetischen Rußland. BIOST 1999. Die meisten Berichte sind aktu-ell online zugänglich unter http://www.ssoar.info.

Speziell mit der religiösen Renaissance beschäftigte sich das russisch-finnische Projekt Религия и ценности после падения коммунизма, siehe die Sammelbände Каариайнен, Киммо; Фурман, Дмитрий (ред.): Старые церкви, новые верующие. Религия в массовом сознании постсоветской России. М.; СПб.: Летний сад 2000; Каариайнен, Киммо;

Фурман, Дмитрий (ред.): Новые церкви, старые верующие старые церкви, новые ве-рующие. Религия в постсоветской России. М.; СПб.: Летний сад 2007.

431 Кибиров, Тимур: Сантименты. Восемь книг, 94f. Über diese Sammelausgabe, die acht Bücher Kibirovs aus den Jahren 1986–1991 umfasst, sind insgesamt 13 solcher schwarz-weißer Grafiken verteilt. Der Zusammenhang zwischen Bild und Text ist relativ gering, es handelt sich nicht um interpretierende Illustrationen. Allerdings passt der fotorealistischer Stil zu Kibirovs Texten, die die gesellschaftliche Realität der späten 80er und 90er abbilden.

130 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN 4.1.2. Vier Fallbeispiele

Vor dem christlichen Plädoyer, das den Zyklus Рождественские аллегории abschließt, werden in den Allegorien Probleme der Gesellschaft anhand von Momentaufnahmen aufgezeigt, die das Schicksal von vier Figuren beleuchten.

Die inhaltliche Einheit der Gedichte spiegelt sich in ihrer formalen Homogeni-tät: Sie umfassen jeweils zehn Strophen, die aus durch Kreuzreim verbundenen Quartetten bestehen (in Allegorie 4 bilden, wie schon erwähnt, zwei überzählige Strophen eine Art Epilog). In allen Gedichten steht das gleiche Metrum, ein vier-/dreifüßig alternierender Anapäst.

Die vier Fallbeispiele sind systematisch gewählt und angeordnet. Dass es sich um zwei Frauen und zwei Männer handelt – die Gedichte stehen in der Reihen-folge Frau / Mann / Mann / Frau –, signalisiert Repräsentativität. Weitere Ver-knüpfungen ergeben sich dadurch, dass Frau 1 und Mann 1 in der eigenen Wohnung porträtiert werden, Mann 2 und Frau 2 ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen und „intellektuellen“ Berufen nachgehen. Das erste Paar steht auf ei-nem niedrigeren sozialen und kulturellen Niveau; eine Verbesserung ihrer Le-bensumstände erscheint unwahrscheinlich. Was das Alter angeht, scheint es sich bei allen um Sowjetbürgerinnen und -bürger über 40 zu handeln.

Die Protagonistin von Allegorie 1 wird als gealterte Trinkerin mit unschönem Äußeren beschrieben, die Erwähnung einer Männerbekanntschaft, die ihr Par-füm ausgetrunken habe, sowie die von ihr gebrauchte Umgangssprache (Str. 5:

„с похмелюги“, „сволочь“) komplettieren die Milieuzuordnung. Sie leidet un-ter Einsamkeit, trotz der von ihr getroffenen Vorbereitungen ist abzusehen, dass sie am Neujahrsabend alleine bleiben wird. Es gibt keine Familie (Str. 8: „На погостье маманя, на нарах жених“). Str. 6 gibt aus der Figurenperspektive ei-nen Abriss der Lebensgeschichte, der die traurige Gegenwart erklärt:

Годы девичьи, где ж вы? Родимый детдом, ПТУ, общежитье, девчата,

СУ да СМУ, да роддом, да нарсуд, а потом ЛТП... да сама виновата.

Fajbisovič steht Konzeptualismus-Sozart fern, daher spiegelt die Entscheidung für diese Bil-der als visuelles Begleitmaterial die zunehmende Distanzierung vom literarischen Konzeptua-lismus. Auf 1987/88 datiert auch Kibirovs Versbrief Художнику Семену Файбисовичу (Три послания), der das alltägliche Moskau der Perestrojkazeit einfängt und zum Vergleich Künst-ler – Dichter einlädt. Eine Stellungnahme Kibirovs, die die Publikation des Gedichts „По-пытка осиновый кол пронести в Мавзолей...“ in Час Пик 28.01. 1991. 6 begleitet, nennt im Kontext der Distanzierung von den Konzeptualisten und Betonung anderer Kontakte übri-gens Fajbisovič als wichtigsten Einfluss: „Впрочем, самый близкий мне человек в совре-менной культуре не литератор, а художник – Семен Файбисович, к сожалению, еще не достаточно известный у нас в стране.“

4.1. Auswege aus der sowjetischen Gegenwart: Рождественские аллегории 131 Diese Kurzbiographie erwähnt keine Menschen, sondern nur Institutionen,432 emotionaler Bezugspunkt ist für die Protagonistin das Kinderheim („Родимый детдом“; Hervorhebung von mir; M. R.). Die Liste impliziert auch einen bio-graphischen Bruch, der mit der Schwangerschaft verbunden zu sein scheint (роддом – родильный дом, ʽGeburtshausʼ), woran sich Verurteilung und Ein-weisung in eine Einrichtung zur Heilung von Alkohol- und Drogenabhängigkeit anschlossen. Im Schicksal der „Schlampe“ sieht man also ein gescheitertes Le-ben, dem nichts Heroisches anhaftet. Es ist nicht von Zielen oder Idealen geprägt, sondern vom (vergeblichen) Wunsch nach privatem Glück.

Wie bei der Protagonistin aus Allegorie 1 handelt es sich bei dem alten Mann aus Allegorie 3 um einen isolierten Menschen, der sich am Neujahrsabend mit der negativen Bilanz seines Lebens konfrontiert sieht. Seine Frau ist verstorben, der Sohn ist „weggelaufen“. Gesellschaft leistet nur der Generalsekretär im Fernsehen (Str. 2) – der Halbsatz „Но этот не пьет“ kennzeichnet diesen als Gorbačev, der den Alkoholkonsum per Dekret einschränken wollte und daher als Gesellschafter nicht taugt. Vom Staat stammt das Geschenkpaket, das im Protagonisten einen inneren Konflikt auslöst. Bei den Präsenten handelt es sich um ausländische Lebensmittel, was bei ihm Assoziationen an die aus Nazi-Kollaborateuren bestehende Vlasov-Armee hervorruft (Str. 4: „Не смотри как на власовцев пленных!“). Besonders stark ist die Ablehnung gegenüber dem finnischen Schmelzkäse Viola, die Blondine auf dem Etikett transformiert zum Feind aus dem sowjetisch-finnischen Winterkrieg (1939–1940):

Но на эту «Виолу» глядит он, глядит, и рождается там, под медалью,

то ли злость, то ли что, то ли боль, то ли стыд.

Значит, жизнь. Значит, нас наебали.

Белофинская блядь, белозубая тварь, златовласая вражья подстилка!..

Ну, ты чо, лейтенант? Ну-ка дай, ну-ка вдарь!..

Сыр в лепешку. Разбилась бутылка. [Str. 5–6]

Der Veteran wird in der Imagination wieder zum Soldaten, und wenn er die Fin-nin als „feindliche Unterlage“ („златовласая вражья подстилка“) bezeichnet, zum Vergewaltiger. Die Aggression wird im Gedicht zwar über den komischen Kontrast aufgelöst, dass nur Käse aufs Brot gestrichen wird und eine Flasche

432 Die Abkürzungen lassen sich über Словарь сокращений, http://www.sokr.ru/ auflösen:

ПТУ (профессионально-техническое училище) meint wohl eine Berufschule. СУ (строи-тельное управление oder участок) und СМУ (строительно-монтажное управление oder участок) bezeichnen Stationen des Berufslebens und verweisen auf den Bereich Bauwesen.

Нарсуд (народный суд) ist der ‘Volksgerichtshofʼ. Bei ЛТП (лечебно-трудовой профилакторий) handelt es sich um eine Anstalt zur Therapie von Alkohol- und Drogen-sucht.

130 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN 4.1.2. Vier Fallbeispiele

Vor dem christlichen Plädoyer, das den Zyklus Рождественские аллегории abschließt, werden in den Allegorien Probleme der Gesellschaft anhand von Momentaufnahmen aufgezeigt, die das Schicksal von vier Figuren beleuchten.

Die inhaltliche Einheit der Gedichte spiegelt sich in ihrer formalen Homogeni-tät: Sie umfassen jeweils zehn Strophen, die aus durch Kreuzreim verbundenen Quartetten bestehen (in Allegorie 4 bilden, wie schon erwähnt, zwei überzählige Strophen eine Art Epilog). In allen Gedichten steht das gleiche Metrum, ein vier-/dreifüßig alternierender Anapäst.

Die vier Fallbeispiele sind systematisch gewählt und angeordnet. Dass es sich um zwei Frauen und zwei Männer handelt – die Gedichte stehen in der Reihen-folge Frau / Mann / Mann / Frau –, signalisiert Repräsentativität. Weitere Ver-knüpfungen ergeben sich dadurch, dass Frau 1 und Mann 1 in der eigenen Wohnung porträtiert werden, Mann 2 und Frau 2 ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen und „intellektuellen“ Berufen nachgehen. Das erste Paar steht auf ei-nem niedrigeren sozialen und kulturellen Niveau; eine Verbesserung ihrer Le-bensumstände erscheint unwahrscheinlich. Was das Alter angeht, scheint es sich bei allen um Sowjetbürgerinnen und -bürger über 40 zu handeln.

Die Protagonistin von Allegorie 1 wird als gealterte Trinkerin mit unschönem Äußeren beschrieben, die Erwähnung einer Männerbekanntschaft, die ihr Par-füm ausgetrunken habe, sowie die von ihr gebrauchte Umgangssprache (Str. 5:

„с похмелюги“, „сволочь“) komplettieren die Milieuzuordnung. Sie leidet un-ter Einsamkeit, trotz der von ihr getroffenen Vorbereitungen ist abzusehen, dass sie am Neujahrsabend alleine bleiben wird. Es gibt keine Familie (Str. 8: „На погостье маманя, на нарах жених“). Str. 6 gibt aus der Figurenperspektive ei-nen Abriss der Lebensgeschichte, der die traurige Gegenwart erklärt:

Годы девичьи, где ж вы? Родимый детдом, ПТУ, общежитье, девчата,

СУ да СМУ, да роддом, да нарсуд, а потом ЛТП... да сама виновата.

Fajbisovič steht Konzeptualismus-Sozart fern, daher spiegelt die Entscheidung für diese Bil-der als visuelles Begleitmaterial die zunehmende Distanzierung vom literarischen

Fajbisovič steht Konzeptualismus-Sozart fern, daher spiegelt die Entscheidung für diese Bil-der als visuelles Begleitmaterial die zunehmende Distanzierung vom literarischen

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