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Fünf Konfliktfelder der Sowjetgeschichte

Im Dokument 33 3 (Seite 168-180)

4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN 420

4.2. KATHARTISCHE RETROSPEKTIVE: СКВОЗЬ ПРОЩАЛЬНЫЕ СЛЕЗЫ

4.2.4. Fünf Konfliktfelder der Sowjetgeschichte

477 Большая советская энциклопедия [3], т. 13. 418–419 (Sp. 1242–1243: Кржижанов-ский Глеб Максимилианович).

478 Nach Песенник анархиста и подпольщика gibt es Zweifel an seiner Autorschaft.

479 Эстрада России. Двадцатый век. Лексикон. Отв. ред.: Е. Д. Уварова. М.: РОССПЭН 2000. 459–461 (Покрасс, братья); Большая советская энциклопедия [3], т. 20. 166 (Sp.

484–485: Покрасс, семья музыкатнов).

480 Эстрада России, 672–674 (Шульженко Клавдия Ивановна).

481 Эстрада России, 48 (Бабаджанян Арно Арутюнович).

482 So Babadžanjans Sohn im Gespräch Кусов, Олег: Кавказские хроники Армянский композитор Арно Бабаджанян. // Радио Свобода 18.06.2003, http://www.svoboda.org/content/transcript/24196663.html. Die Sowjetenzyklopädie nennt ihn ebenfalls als Beispiel für die Verwendung von Twist-Rhythmen in der sowjetischen Musik:

Большая советская энциклопедия [3], т. 25. 330 (Sp. 976: Твист).

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 153 Kibirovs Abriss der sowjetischen Populärmusik endet mit Vladimir Šainskij (*1927) als Vertreter der Stagnationszeit.483 Zwar schrieb er auch Armeelieder und Hits für die junge Alla Pugačeva, hier scheinen jedoch eher die Kinderlieder („Шаинский веселый“) gemeint zu sein, die er u. a. für die in Str. V,10 erwähn-te Trickfilm-Produktion Незнайка в Солнечном городе verfasserwähn-te. Die sowjeti-sche Musik taugt in der Brežnev-Epoche offenbar nur noch für Kinder, entsprechend ist die Anrede an Šainskij in Str. V,1 auffallend unfreundlich:

„Впрочем, ну тебя на фиг! Молчи!“

Diese in den Kapitelanfängen komprimierte Erzählung von Aufstieg und Nie-dergang der sowjetischen Populärmusik lässt sich verallgemeinern und steht in Сквозь прощальные слезы für das Schicksal der kommunistischen Idee. Die zunehmende Entfremdung der Menschen vom utopischen Projekt und die Dege-neration der sowjetischen Staatskultur sind Themen, die insbesondere in den Kapiteln IV und V entwickelt werden.

4.2.4. Fünf Konfliktfelder der Sowjetgeschichte

Eine alle Einzelaspekte berücksichtigende Analyse und Interpretation der um-fangreichen und intertextuell dichten Kapitel ist an dieser Stelle zwar nicht mög-lich, jedoch sollen einige Spezifika angesprochen werden. Eine zentrale Rolle spielen die Kapitelmottos, die jedem der fünf Epochenbilder von Сквозь про-щальные слезы vorangehen und den jeweiligen Grundkonflikt repräsentieren.

Kap. I: Revolutionsutopie und Brudermord

Das erste Kapitel behandelt Revolution und Bürgerkrieg. Das gewählte Motto

„Купим мы кровью счастье детей“ stammt aus Petr Lavrovs Bearbeitung der französischen Marseillaise von 1875.484 Der Titel Arbeiter-Marseillaise (Рабо-чая марсельеза) passt insofern, als der russische Text sich vom französischen Original unterscheidet. Richtet dieses sich ursprünglich gegen einen äußeren Feind (die österreichische Monarchie), so ruft die russische Bearbeitung zum inneren Klassenkampf auf. Beiden Texten gemeinsam sind die entmenschli-chenden Darstellungen des Kontrahenten und der Aufruf zur Gewalt („На воров, на собак – на богатых! / Да на злого вампира-царя! / Бей, губи их, злодеев проклятых!“). Kibirovs Motto greift aus Lavrovs Text die These her-aus, dass das Blutvergießen notwendig und gerechtfertigt sei, und zitiert:

483 Эстрада России, 669 (Шаинский Владимир Яковлевич).

484 Betitelt als Рабочая марсельеза oder „Отречемся от старого мира…“: Песенник анархиста и подпольщика. Zitate nach Песни русских рабочих (XVIII – начало XX века).

Вст. статья, подг. текста и прим. А. И. Нутрихина. М.; Л.: Советский писатель 1962.

190–191.

152 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

Diese Kapitelanfänge setzen sich zu einer komprimierten Geschichte von Auf-stieg und Niedergang der sowjetischen Populärmusik zusammen.

Das musikalische Narrativ beginnt in Kapitel I bei Gleb Kržižanovskij (1872–

1959), einem typischen Vertreter der Revolutionsjahre, die musikalisch von in-ternationalen Arbeiterliedern geprägt waren. Kržižanovskij als Kommunist der ersten Stunde war kein hauptberuflicher Kulturschaffender, sondern Ingenieur, und wirkte in wichtiger Position an der Elektrifizierung der UdSSR mit.477 Er soll den Text des revolutionären Marsches Варшавянка aus dem Polnischen übersetzt haben.478 Die Stalinzeit als Höhepunkt des sog. Massenliedes ist durch das Schaffen der Pokrass-Brüder repräsentiert.Dmitrij (1899–1978) und Daniil (1905–1954) Pokrass waren professionelle Musiker und Komponisten, sie schrieben die Filmmusik zu Мы из Кронштадта (1936) oder Если завтра война (1938) sowie zahlreiche populäre Lieder.479 Als Brüder sind sie weiterhin eine ideale Verkörperung des kollektiven Kunstschaffens, das die Stalinzeit fa-vorisierte.

Kapitel III wählt die Sängerin Klavdija „Klava“ Šu’lženko (1906–1984). Zum Star wurde sie im Zweiten Weltkrieg mit Liedern wie Синий платочек oder Давай закурим.480 Im Unterschied zu den triumphalen Märschen mit Orchester und Chor, mit denen das Kriegsthema in der Regel vertont wurde, sind sie leiser und lyrischer. Im Zentrum stehen das Einzelindividuum, seine Sehnsucht nach der Heimat und die Hoffnung auf ein Ende der Kämpfe. Auch der Kapitel IV repräsentierende Komponist Arno Babadžanjan (1921–1983) suchte Wege ab-seits des ideologischen Massenlieds und wurde v. a. mit Werken aus dem Be-reich der Unterhaltungsmusik bekannt.481 Er griff in den 1950ern und 60ern westliche Trends auf, sein Titel Лучший город земли (1964 T.: Leonid Derbenev) gilt als erster sowjetischer Twist.482 Genau auf solche ideologiefreien, tanzbaren Songs verweist der Vers „Сбацай твист мне, веселый Арно!“

477Большая советская энциклопедия [3], т. 13. 418–419 (Sp. 1242–1243: Кржижанов-ский Глеб Максимилианович).

478 Nach Песенник анархиста и подпольщика gibt es Zweifel an seiner Autorschaft.

479 Эстрада России. Двадцатый век. Лексикон. Отв. ред.: Е. Д. Уварова. М.: РОССПЭН 2000. 459–461 (Покрасс, братья); Большая советская энциклопедия [3], т. 20. 166 (Sp.

484–485: Покрасс, семья музыкатнов).

480 Эстрада России, 672–674 (Шульженко Клавдия Ивановна).

481 Эстрада России, 48 (Бабаджанян Арно Арутюнович).

482 So Babadžanjans Sohn im Gespräch Кусов, Олег: Кавказские хроники – Армянский композитор Арно Бабаджанян. // Радио Свобода 18.06.2003, http://www.svoboda.org/content/transcript/24196663.html. Die Sowjetenzyklopädie nennt ihn ebenfalls als Beispiel für die Verwendung von Twist-Rhythmen in der sowjetischen Musik:

Большая советская энциклопедия [3], т. 25. 330 (Sp. 976: Твист).

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 153 Kibirovs Abriss der sowjetischen Populärmusik endet mit Vladimir Šainskij (*1927) als Vertreter der Stagnationszeit.483 Zwar schrieb er auch Armeelieder und Hits für die junge Alla Pugačeva, hier scheinen jedoch eher die Kinderlieder („Шаинский веселый“) gemeint zu sein, die er u. a. für die in Str. V,10 erwähn-te Trickfilm-Produktion Незнайка в Солнечном городе verfasserwähn-te. Die sowjeti-sche Musik taugt in der Brežnev-Epoche offenbar nur noch für Kinder, entsprechend ist die Anrede an Šainskij in Str. V,1 auffallend unfreundlich:

„Впрочем, ну тебя на фиг! Молчи!“

Diese in den Kapitelanfängen komprimierte Erzählung von Aufstieg und Nie-dergang der sowjetischen Populärmusik lässt sich verallgemeinern und steht in Сквозь прощальные слезы für das Schicksal der kommunistischen Idee. Die zunehmende Entfremdung der Menschen vom utopischen Projekt und die Dege-neration der sowjetischen Staatskultur sind Themen, die insbesondere in den Kapiteln IV und V entwickelt werden.

4.2.4. Fünf Konfliktfelder der Sowjetgeschichte

Eine alle Einzelaspekte berücksichtigende Analyse und Interpretation der um-fangreichen und intertextuell dichten Kapitel ist an dieser Stelle zwar nicht mög-lich, jedoch sollen einige Spezifika angesprochen werden. Eine zentrale Rolle spielen die Kapitelmottos, die jedem der fünf Epochenbilder von Сквозь про-щальные слезы vorangehen und den jeweiligen Grundkonflikt repräsentieren.

Kap. I: Revolutionsutopie und Brudermord

Das erste Kapitel behandelt Revolution und Bürgerkrieg. Das gewählte Motto

„Купим мы кровью счастье детей“ stammt aus Petr Lavrovs Bearbeitung der französischen Marseillaise von 1875.484 Der Titel Arbeiter-Marseillaise (Рабо-чая марсельеза) passt insofern, als der russische Text sich vom französischen Original unterscheidet. Richtet dieses sich ursprünglich gegen einen äußeren Feind (die österreichische Monarchie), so ruft die russische Bearbeitung zum inneren Klassenkampf auf. Beiden Texten gemeinsam sind die entmenschli-chenden Darstellungen des Kontrahenten und der Aufruf zur Gewalt („На воров, на собак – на богатых! / Да на злого вампира-царя! / Бей, губи их, злодеев проклятых!“). Kibirovs Motto greift aus Lavrovs Text die These her-aus, dass das Blutvergießen notwendig und gerechtfertigt sei, und zitiert:

483 Эстрада России, 669 (Шаинский Владимир Яковлевич).

484 Betitelt als Рабочая марсельеза oder „Отречемся от старого мира…“: Песенник анархиста и подпольщика. Zitate nach Песни русских рабочих (XVIII – начало XX века).

Вст. статья, подг. текста и прим. А. И. Нутрихина. М.; Л.: Советский писатель 1962.

190–191.

154 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

„Купим мы кровью счастье детей“. Dieser Vers485 betont den blutigen Cha-rakter der Revolution und provoziert die Frage, ob dieses Glücksversprechen eingelöst wurde und das Ziel die Mittel rechtfertigte.486

Mögliche Antworten geben zwei Szenen aus Kapitel I: In Str. I,21–22 wird das gegenseitige Abschlachten thematisiert, das „Ich“ in der Rolle des Weißgar-disten und sein imaginiertes rotgardistisches Gegenüber erschlagen sich gegen-seitig:

И, повысив звенящие шашки, Рубанем ненавистных врагов – Ты меня – от погона до пряжки,

Я тебя – от звезды до зубов. [Str. 22]

Dieses Morden erscheint sinnlos, da es die Bilanz des Krieges nicht ändert.

Außerdem relativiert der Blick auf das getötete Gegenüber den zuvor artikulier-ten Hass.

Am Kapitelende findet sich eine zweite, mit Zitaten aus Bürgerkriegsliedern angereicherte Szene, in der ein Kämpfer in den Armen des Sprechers stirbt:

Погоди, дуралей, погоди ты!

Ради Бога, послушай меня!

Вот оно, твое сердце, пробито Возле ног вороного коня.487 Пожелай же мне смерти мгновенной Или раны – хотя б небольшой!488 Угорелый мой брат, оглашенный, Я не знаю, что делать с тобой.

Погоди, я тебя не обижу, Спой мне тихо, а я подпою.

485 Kibirovs Zitat verweist auf den ursprünglichen Text von 1875, siehe die Ausgaben Песни русских рабочих (XVIII начало XX века) sowie Песни и романсы русских поэтов.

Вступ. стятья, подг. текста и прим. В. Е Гусева. М.; Л.: Советский писатель 1965. 795–

797. Später wurde der Text angepasst, siehe die kanonische Version in Большая советская энциклопедия. 2-е изд. М.: Советская энциклопедия 1949–1960. Т. 35. 429 (Рабочая марсельеза). Der ursprüngliche Vers „Купим мир мы последней борьбою, / Купим кро-вью мы счастье детей“ wurde ins Präteritum gesetzt: „Хоть купили мы страшной ценою, / Кровью нашею – счастье земли.“ Die Umformulierung fokussiert auch ausschließlich auf die eigenen Opfer („кровью нашею“).

486 So auch Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 364.

487 Lied Там, вдали за рекой (1924, T.: Nikolaj Kool’ zu einer vorhandenen Melodie):

Песенник анархиста и подпольщика.

488 Прощальная комсомольская / Прощание (1935, T.: Michail Isakovskij, M.: Dmitrij &

Daniil Pokrass): Песенник анархиста и подпольщика; Русские советские песни (1917–

1977), 82.

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 155 Я сквозь слезы прощальные вижу

Невиновную морду твою. Погоди, мой товарищ, не надо.

Мы уже расквитались сполна.

Спой мне песню: Гренада, Гренада,

Спойте, мертвые губы: Грена…489 [Str. 27–30]

Im Text dominieren die Themen Verwundung und Tod, was Mitgefühl zeigt und hervorruft. Bei dem Sterbenden handelt es sich offenbar um einen Feind, mit dem am Ende eine Versöhnung erreicht wird („Невиновную морду твою“;

„Мы уже расквитались сполна“). Kapitel I schließt somit mit einem traurigen und tragischen Moment (der Erkenntnis des Brudermordens), in dem sich das Wesen von Revolution und Bürgerkrieg konzentriert.

Kap. II: Die brüchige Scheinwelt der Stalinzeit

Die in Kapitel II skizzierte Stalinära wird über ein Motto aus einem Text von Boris Pasternak (1890–1960) charakterisiert. Bei Pasternak handelt es sich um einen der wenigen großen Literaten, der nicht den Verfolgungen der 1930er Jah-re zum Opfer fiel oder durch Selbstmord aus dem Leben schied. Sein Leben ver-lief zwar ebenfalls konflikthaft, er war jedoch kein Oppositioneller, der die Mitarbeit im stalinistischen System konsequent abgelehnt hätte. Es gab mehrere Integrationsversuche, so besichtigte er 1931 als Mitglied einer Schriftstellerbri-gade Bauprojekte im Ural, brach die Reise jedoch ab, da ihm die beobachtete Entindividualisierung der „neuen Menschen“ unerträglich war. Kurze Zeit da-nach, im Herbst 1931, hielt er sich in Georgien auf und fand dort im Kreis von Dichterfreunden sein Ideal der sozialistischen Gesellschaft.490 Literarisch äußer-te sich diese positive Erfahrung in dem 1932 veröffentlichäußer-ten Zyklus Волны, woraus Kibirovs Motto stammt. Das zitierte Gedicht „Ты рядом даль социа-лизма…“491 bekennt sich positiv zum „georgischen“ Sozialismus, in dem nega-tiven Gegenbild ist der Sozialismus russischer Prägung zu vermuten. In dem von Kibirov ausgewählten ersten Vers mit der paradoxen Kombination von Nähe und Ferne (рядом und даль) tritt der Hauptkontrast der Zeit zu Tage: Die Wirk-lichkeitssimulationen und Hoffnungen, dass man das Ziel in Kürze erreichen werde, kollidieren mit den Härten und Grausamkeiten des Alltags, die die Uto-pie in die Ferne verweisen.492

489 Гренада (1926, T.: Michail Svetlov, verschiedene Vertonungen): Песенник анархиста и подпольщика; Русские советские песни (1917–1977), 120–122.

490 Fleishman, Lazar: Boris Pasternak. The Poet and His Politics. Cambridge (MA); London:

Harvard UP 1990. 164–166ff.

491 Пастернак, Борис: Малое собрание сочинений, 97–98.

492 Vgl. Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 364.

154 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

„Купим мы кровью счастье детей“. Dieser Vers485 betont den blutigen Cha-rakter der Revolution und provoziert die Frage, ob dieses Glücksversprechen eingelöst wurde und das Ziel die Mittel rechtfertigte.486

Mögliche Antworten geben zwei Szenen aus Kapitel I: In Str. I,21–22 wird das gegenseitige Abschlachten thematisiert, das „Ich“ in der Rolle des Weißgar-disten und sein imaginiertes rotgardistisches Gegenüber erschlagen sich gegen-seitig:

И, повысив звенящие шашки, Рубанем ненавистных врагов – Ты меня – от погона до пряжки,

Я тебя – от звезды до зубов. [Str. 22]

Dieses Morden erscheint sinnlos, da es die Bilanz des Krieges nicht ändert.

Außerdem relativiert der Blick auf das getötete Gegenüber den zuvor artikulier-ten Hass.

Am Kapitelende findet sich eine zweite, mit Zitaten aus Bürgerkriegsliedern angereicherte Szene, in der ein Kämpfer in den Armen des Sprechers stirbt:

Погоди, дуралей, погоди ты!

Ради Бога, послушай меня!

Вот оно, твое сердце, пробито Возле ног вороного коня.487

Пожелай же мне смерти мгновенной Или раны – хотя б небольшой!488 Угорелый мой брат, оглашенный, Я не знаю, что делать с тобой.

Погоди, я тебя не обижу, Спой мне тихо, а я подпою.

485 Kibirovs Zitat verweist auf den ursprünglichen Text von 1875, siehe die Ausgaben Песни русских рабочих (XVIII начало XX века) sowie Песни и романсы русских поэтов.

Вступ. стятья, подг. текста и прим. В. Е Гусева. М.; Л.: Советский писатель 1965. 795–

797. Später wurde der Text angepasst, siehe die kanonische Version in Большая советская энциклопедия. 2-е изд. М.: Советская энциклопедия 1949–1960. Т. 35. 429 (Рабочая марсельеза). Der ursprüngliche Vers „Купим мир мы последней борьбою, / Купим кро-вью мы счастье детей“ wurde ins Präteritum gesetzt: „Хоть купили мы страшной ценою, / Кровью нашею – счастье земли.“ Die Umformulierung fokussiert auch ausschließlich auf die eigenen Opfer („кровью нашею“).

486 So auch Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 364.

487 Lied Там, вдали за рекой (1924, T.: Nikolaj Kool’ zu einer vorhandenen Melodie):

Песенник анархиста и подпольщика.

488Прощальная комсомольская / Прощание (1935, T.: Michail Isakovskij, M.: Dmitrij &

Daniil Pokrass): Песенник анархиста и подпольщика; Русские советские песни (1917–

1977), 82.

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 155 Я сквозь слезы прощальные вижу

Невиновную морду твою.

Погоди, мой товарищ, не надо.

Мы уже расквитались сполна.

Спой мне песню: Гренада, Гренада,

Спойте, мертвые губы: Грена…489 [Str. 27–30]

Im Text dominieren die Themen Verwundung und Tod, was Mitgefühl zeigt und hervorruft. Bei dem Sterbenden handelt es sich offenbar um einen Feind, mit dem am Ende eine Versöhnung erreicht wird („Невиновную морду твою“;

„Мы уже расквитались сполна“). Kapitel I schließt somit mit einem traurigen und tragischen Moment (der Erkenntnis des Brudermordens), in dem sich das Wesen von Revolution und Bürgerkrieg konzentriert.

Kap. II: Die brüchige Scheinwelt der Stalinzeit

Die in Kapitel II skizzierte Stalinära wird über ein Motto aus einem Text von Boris Pasternak (1890–1960) charakterisiert. Bei Pasternak handelt es sich um einen der wenigen großen Literaten, der nicht den Verfolgungen der 1930er Jah-re zum Opfer fiel oder durch Selbstmord aus dem Leben schied. Sein Leben ver-lief zwar ebenfalls konflikthaft, er war jedoch kein Oppositioneller, der die Mitarbeit im stalinistischen System konsequent abgelehnt hätte. Es gab mehrere Integrationsversuche, so besichtigte er 1931 als Mitglied einer Schriftstellerbri-gade Bauprojekte im Ural, brach die Reise jedoch ab, da ihm die beobachtete Entindividualisierung der „neuen Menschen“ unerträglich war. Kurze Zeit da-nach, im Herbst 1931, hielt er sich in Georgien auf und fand dort im Kreis von Dichterfreunden sein Ideal der sozialistischen Gesellschaft.490 Literarisch äußer-te sich diese positive Erfahrung in dem 1932 veröffentlichäußer-ten Zyklus Волны, woraus Kibirovs Motto stammt. Das zitierte Gedicht „Ты рядом даль социа-лизма…“491 bekennt sich positiv zum „georgischen“ Sozialismus, in dem nega-tiven Gegenbild ist der Sozialismus russischer Prägung zu vermuten. In dem von Kibirov ausgewählten ersten Vers mit der paradoxen Kombination von Nähe und Ferne (рядом und даль) tritt der Hauptkontrast der Zeit zu Tage: Die Wirk-lichkeitssimulationen und Hoffnungen, dass man das Ziel in Kürze erreichen werde, kollidieren mit den Härten und Grausamkeiten des Alltags, die die Uto-pie in die Ferne verweisen.492

489 Гренада (1926, T.: Michail Svetlov, verschiedene Vertonungen): Песенник анархиста и подпольщика; Русские советские песни (1917–1977), 120–122.

490 Fleishman, Lazar: Boris Pasternak. The Poet and His Politics. Cambridge (MA); London:

Harvard UP 1990. 164–166ff.

491 Пастернак, Борис: Малое собрание сочинений, 97–98.

492 Vgl. Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 364.

156 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

Diese der gespaltenen Wirklichkeit der Stalinzeit immanente Spannung zeigt sich in Kapitel II darin, dass die Scheinwelten aus Komödien und optimistischen Liedern bröckeln. So werden z. B. in den Str. 5–8 die simulakren Bilder durch antagonistische Elemente gestört. In Str. 5 finden sich ideologisch konnotierte Lexeme, die Verbrechen des Systems kaschieren: Die Begriffe заключенный каналоармеец493 und перекованный494 враг verweisen auf die großen Zwangs-arbeiterprojekte der Zeit wie den Weißmeerkanal, die als Umerziehungsmaß-nahmen deklariert wurden; бедняк und с[е]редняк (‘Landloserʼ bzw.

‘Mittelbauerʼ)495 gehören ins Umfeld der Entkulakisierung und Zwangskollekti-vierung. Bei den in Str. 6 erwähnten Lieferfahrzeugen handelt es sich um getarn-te Gefangenentransporgetarn-ter, in Str. 7 bringt der fröhliche Briefträger aus einer bekannten Filmkomödie die „gute Nachricht“ von den Schauprozessen, in Str. 8 verschmilzt das Komödienidyll mit Gulag-Liedern, wobei der metaphorische Filmtitel Светлый путь sich zur Eisenbahnstrecke Richtung Sibirien konkreti-siert.

Заключенный каналоармеец, Спой и ты, перекованный враг!

Светлый путь496 все верней и прямее!

Спойте хором, бедняк и средняк!

Про счастливых детишек колонны, Про влюбленных в предутренней мгле, Про497 снующие автофургоны С аппетитною надписью «Хлеб».498 Почтальон Харитоша примчится499 По проселку на стан полевой.

Номер «Правды» – признались убийцы, Не ушли от расплаты святой!

493 Мокиенко, В. М.; Никитина, Т. Г.: Большой словарь русского жаргона. СПб.: Норинт 2001. 222 (зека).

494 Толковый словарь русского языка [Ушаков], т. 3. 140 (перековать 4) mit dem Beispiel

„Труд перековал многих бывших преступников.“

495 Толковый словарь русского языка [Ушаков], т. 1. 101: бедняк = „2. Человек, входя-щий в состав деревенской бедноты, как социальной группы, в отличие от кулака и се-редняка“; т. 4. 159: cередняк = „1. Крестьянин, владеющий средствами производства, не экспло[!]атирующий чужого труда и по социально-экономическим признакам стоящий между бедняком и кулаком“.

496 Film Светлый путь (1940), Regisseur: Grigorij Aleksandrov, Hauptrolle: Ljubov Orlova.

497 Die gleiche Anapher findet sich im Lied Веселый ветер, siehe Fn.536 (S. 166).

498 Der Transporter am Ende von Solženicyns В круге первом trägt die Aufschrift „Мясо“.

499 Figur aus dem Film Трактористы (1939), Regisseur: Ivan Pyr’ev.

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 157 И по тундре, железной дороге

Мчит курьерский,500 колеса стучат, Светлый путь нам ложится под ноги,

Льется песня задорных девчат! [Str. 5–8]

Neben der Einarbeitung antagonistischer Referenzen fallen in dem zitierten Ab-schnitt die positiv besetzten Adjektivattribute auf (светлый, счастливый, аппетитный, святой, задорный), die den Kontrast zwischen den Textwelten verstärken und Сквозь прощальные слезы eine ironische Tiefendimension ver-leihen.

Kap. III: Tabu Weltkrieg

Von der Stalinzeit abgetrennt ist der sog. Große Vaterländische Krieg, dem ein eigenes Kapitel zugewiesen wird. Das Motto für diesen dritten Zeitabschnitt ent-stammt einem Gedicht von Michail Isakovskij (1900–1973), einem prominenten Vertreter der sozrealistischen Dichtung.501 Viele seiner Gedichte über den Krieg wurden in der Vertonung sehr populär, z. B. „Летят перелетные птицы…“

oder Катюша. Der Liedtext „Враги сожгли родную хату…“, aus dem der Mottovers stammt, entstand 1945, nach der Kapitulation Deutschlands. Dass Isakovskijs Kriegsheimkehrer keine Siegesfeiern erwarten, sondern Ruinen und die Gräber der ermordeten Angehörigen, unterschied sich diametral von den Happy Ends und fröhlichen Triumphfeiern, die die Stalinzeit bevorzugte. In der Tat verbannte die Zensur den Text in die Schublade, und erst 1960 wagte es der bekannte Sänger Mark Bernes, das Lied öffentlich vorzutragen.502 Die von Kibirov zitierten Verse „Я шел к тебе четыре года, / Я три державы покорил“

lassen außerdem die Frage aufkommen, warum der Soldat ausländische Mächte unterwarf, anstatt sein Heim zu beschützen.503

500 Lied По тундре, по железной дороге (oder: Поезд Воркута – Ленинград): Песенник анархиста и подпольщика.

501 Guski, Andreas: Die klassische Sowjetliteratur. In: Städtke, Klaus (Hg.): Russische Litera-turgeschichte, 321–348. 335; 338. Zur Biographie siehe die Einträge zu Isakovskij in Большая советская энциклопедия [3], т. 10. 453 (Sp. 1345–1346) und Русские писатели 20 века. Биографический словарь. Гл. ред. и сост.: П. А. Николаев. М.: Большая россий-ская энциклопедия; Рандеву-Ам 2000. 313–314 (А. М. Турков).

502 Песенник анархиста и подпольщика. Vgl. Бахтин, Владимир: Народ и война. // Нева (1995) 5. 186–193 [= // Песенник анархиста и подпольщика], 192: „Как же, говорили критики, страна радуется – грядет победа, а тут солдат, отдавший все, все потерявший, да еще слезы.“

503 Ähnlich Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 364–365: „Поэт обнажает их наивность [die Naivität von Isakovskijs Versen], но не считает себя вправе упрекать солдат Великой Отечественной, в массе своей не сознававших, что они не только освободили Восточную Европу от фашизма, но и принесли ей новую форму по-рабощения.“

156 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

Diese der gespaltenen Wirklichkeit der Stalinzeit immanente Spannung zeigt sich in Kapitel II darin, dass die Scheinwelten aus Komödien und optimistischen Liedern bröckeln. So werden z. B. in den Str. 5–8 die simulakren Bilder durch antagonistische Elemente gestört. In Str. 5 finden sich ideologisch konnotierte Lexeme, die Verbrechen des Systems kaschieren: Die Begriffe заключенный каналоармеец493 und перекованный494 враг verweisen auf die großen Zwangs-arbeiterprojekte der Zeit wie den Weißmeerkanal, die als Umerziehungsmaß-nahmen deklariert wurden; бедняк und с[е]редняк (‘Landloserʼ bzw.

‘Mittelbauerʼ)495 gehören ins Umfeld der Entkulakisierung und Zwangskollekti-vierung. Bei den in Str. 6 erwähnten Lieferfahrzeugen handelt es sich um getarn-te Gefangenentransporgetarn-ter, in Str. 7 bringt der fröhliche Briefträger aus einer bekannten Filmkomödie die „gute Nachricht“ von den Schauprozessen, in Str. 8 verschmilzt das Komödienidyll mit Gulag-Liedern, wobei der metaphorische Filmtitel Светлый путь sich zur Eisenbahnstrecke Richtung Sibirien konkreti-siert.

Заключенный каналоармеец, Спой и ты, перекованный враг!

Светлый путь496 все верней и прямее!

Спойте хором, бедняк и средняк!

Про счастливых детишек колонны, Про влюбленных в предутренней мгле, Про497 снующие автофургоны С аппетитною надписью «Хлеб».498 Почтальон Харитоша примчится499 По проселку на стан полевой.

Номер «Правды» – признались убийцы, Не ушли от расплаты святой!

493 Мокиенко, В. М.; Никитина, Т. Г.: Большой словарь русского жаргона. СПб.: Норинт 2001. 222 (зека).

494 Толковый словарь русского языка [Ушаков], т. 3. 140 (перековать 4) mit dem Beispiel

„Труд перековал многих бывших преступников.“

495 Толковый словарь русского языка [Ушаков], т. 1. 101: бедняк = „2. Человек, входя-щий в состав деревенской бедноты, как социальной группы, в отличие от кулака и се-редняка“; т. 4. 159: cередняк = „1. Крестьянин, владеющий средствами производства, не экспло[!]атирующий чужого труда и по социально-экономическим признакам стоящий между бедняком и кулаком“.

496 Film Светлый путь (1940), Regisseur: Grigorij Aleksandrov, Hauptrolle: Ljubov Orlova.

497 Die gleiche Anapher findet sich im Lied Веселый ветер, siehe Fn.536 (S. 166).

498 Der Transporter am Ende von Solženicyns В круге первом trägt die Aufschrift „Мясо“.

499 Figur aus dem Film Трактористы (1939), Regisseur: Ivan Pyr’ev.

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 157 И по тундре, железной дороге

Мчит курьерский,500 колеса стучат, Светлый путь нам ложится под ноги,

Льется песня задорных девчат! [Str. 5–8]

Neben der Einarbeitung antagonistischer Referenzen fallen in dem zitierten Ab-schnitt die positiv besetzten Adjektivattribute auf (светлый, счастливый, аппетитный, святой, задорный), die den Kontrast zwischen den Textwelten verstärken und Сквозь прощальные слезы eine ironische Tiefendimension ver-leihen.

Kap. III: Tabu Weltkrieg

Von der Stalinzeit abgetrennt ist der sog. Große Vaterländische Krieg, dem ein eigenes Kapitel zugewiesen wird. Das Motto für diesen dritten Zeitabschnitt ent-stammt einem Gedicht von Michail Isakovskij (1900–1973), einem prominenten Vertreter der sozrealistischen Dichtung.501 Viele seiner Gedichte über den Krieg wurden in der Vertonung sehr populär, z. B. „Летят перелетные птицы…“

oder Катюша. Der Liedtext „Враги сожгли родную хату…“, aus dem der Mottovers stammt, entstand 1945, nach der Kapitulation Deutschlands. Dass Isakovskijs Kriegsheimkehrer keine Siegesfeiern erwarten, sondern Ruinen und die Gräber der ermordeten Angehörigen, unterschied sich diametral von den Happy Ends und fröhlichen Triumphfeiern, die die Stalinzeit bevorzugte. In der Tat verbannte die Zensur den Text in die Schublade, und erst 1960 wagte es der bekannte Sänger Mark Bernes, das Lied öffentlich vorzutragen.502 Die von Kibirov zitierten Verse „Я шел к тебе четыре года, / Я три державы покорил“

lassen außerdem die Frage aufkommen, warum der Soldat ausländische Mächte unterwarf, anstatt sein Heim zu beschützen.503

500 Lied По тундре, по железной дороге (oder: Поезд Воркута – Ленинград): Песенник анархиста и подпольщика.

501 Guski, Andreas: Die klassische Sowjetliteratur. In: Städtke, Klaus (Hg.): Russische Litera-turgeschichte, 321–348. 335; 338. Zur Biographie siehe die Einträge zu Isakovskij in Большая советская энциклопедия [3], т. 10. 453 (Sp. 1345–1346) und Русские писатели 20 века. Биографический словарь. Гл. ред. и сост.: П. А. Николаев. М.: Большая россий-ская энциклопедия; Рандеву-Ам 2000. 313–314 (А. М. Турков).

502 Песенник анархиста и подпольщика. Vgl. Бахтин, Владимир: Народ и война. // Нева (1995) 5. 186–193 [= // Песенник анархиста и подпольщика], 192: „Как же, говорили критики, страна радуется – грядет победа, а тут солдат, отдавший все, все потерявший, да еще слезы.“

503 Ähnlich Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 364–365: „Поэт обнажает их наивность [die Naivität von Isakovskijs Versen], но не считает себя вправе упрекать солдат Великой Отечественной, в массе своей не сознававших, что они не только освободили Восточную Европу от фашизма, но и принесли ей новую форму по-рабощения.“

158 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

Ein solcher provokanter Zugriff auf den Mythos Weltkrieg wird – im Gegen-satz zu den anderen Epochenporträts – im Kapitel selbst nur anGegen-satzweise ver-tieft. Die im Motto angelegte Frage nach dem Sinn des Krieges, der zur Festigung des Stalin-Regimes und einer Erweiterung des sowjetischen Einfluss-bereiches führte, wird in Str. 7 durch die drängende Wiederholung von „за кого?“ aufgegriffen, in Str. 8 und 9 jedoch explizit ausgesetzt (Kursive von mir;

M. R.):

Сын полка, за кого же ты дрался?

Ну ответь, ну скажи – за кого?

С конармейскою шашкой бросался За кого ты на «Тигр» броневой?

Впрочем, хватит! Ну хватит! Не надо, Ну, нельзя мне об этом, земляк!..

Ты стоишь у обугленной хаты, Еле держишься на костылях.

Чарка горькая. Старый осколок.

Сталинград ведь, пойми – Сталинград!

Ты прости – мне нельзя про такое, Про такое мне лучше молчать.

Der Sprecher zieht es vordergründig vor, nicht an diesem Tabu zu rühren. Str. 8 motiviert dies in V. 3–4 durch die Präsenz des (Isakov’schen) Kriegsheimkeh-rers, dem eine schmerzhafte Erkenntnis erspart werden soll. Es passt, dass das Kapitel nach nur neun Strophen mit dem Verb „schweigen“ endet, das im Text mehrfach verwendet und lexikalisch variiert wird.

Kap. IV: Die ideologische Eklektik des Tauwetters

Die Gesamtperspektive auf die Ära Chruščev wird in Kapitel IV mit einem Zitat aus einem Gedicht von Evgenij Evtušenko (*1932/1933) angelegt, der die Wi-dersprüche der Schriftstellerexistenz im Tauwetter verkörpert. Wie andere Auto-rinnen und Autoren, die auf Privilegien und Publikum nicht verzichten wollten, war Evtušenko zu Kompromissen und Anpassung bereit. Dies ermöglichte ihm allerdings auch, den Rahmen des Möglichen auszureizen und sich zu durchaus brisanten Themen zu äußern (z. B. dem Holocaust in Бабий Яр), ohne mit dem System zu brechen. Das Gedicht Письмо к Есенину, aus dem Kibirov das Epo-chenmotto wählt, hält an einer idealisierten Vorstellung von der Existenz des sowjetischen Literaten fest. Das Hauptproblem sei, dass es „keinen Lenin“ mehr gebe; eben diese Losung „Нет Ленина. Вот это очень тяжко“ übernimmt Kibirov als Motto in seinen Text. Literarische Pendants zu Lenin sieht Evtušenko in den „wahren“ Dichtern (Puškin, Majakovskij, Esenin). Ihrer enga-gierten Dichtung will er nachfolgen und wie sie eine gesellschaftliche Vorreiter-rolle einnehmen, obwohl die zeitgenössische Situation den Schriftsteller auf die Rolle eines die Parteivorgaben ausführenden Organs beschränken wolle. Der

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 159 Glaube an die Idee des Kommunismus und an die Reformierbarkeit des Systems ist in Письмо к Есенину aber intakt.504 Mit dieser Loyalität waren Evtušenko und die sog. шестидесятники aus Sicht des underground Kollaborateure.505

Um die Rolle der systemtreuen Kritiker geht es noch einmal in Str. 6–7:

Летка-енка506 ты мой Евтушенко!

Лонжюмо ты мое, Лонжюмо!

Уберите же Ленина с денег, И слонят уберите с трюмо! Шик-модерн, треугольная груша, Треугольные стулья и стол! Радиолу веселую слушай, Буги-вуги, футбол, комсомол!

Spöttisch wird in Str. 6 der Name Evtušenko mit dem Titel eines Kinderliedes gereimt. Gleich drei Referenzen verweisen auf seinen Dichterstarkollegen Andrej Voznesenskij: Zweimal wird dessen Propaganda-Poem Лонжюмо (1962–1963507) erwähnt. In Str. 6 sowie in Str. 27 und 31 finden sich Zitate aus dem Gedicht „Я не знаю, как это сделать…“ (1965), das vor einer Profanie-rung Lenins warnt und ein ähnlich naives, idealistisches Bekenntnis beinhaltet wie Evtušenkos Письмо Есенину. Bei Kibirov heißt es: „Уберите же Ленина с трешек!“ (IV, 27) bzw. „Уберите вы Ленина только / с денег – он для сердец и знамен!“ (IV, 31). Voznesenskij wird dadurch erneut wenig schmei-chelhaft als ideologischer Panegyriker charakterisiert, dessen Kritik, obwohl der Text von den Behörden zensiert wurde, im Grunde systemtreu bleibt.508 Nach

504 Vgl. die Interpretation in Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 365: „иронизируя над иллюзиями шестидесятников по поводу святости революционных идеалов, лишь искаженных будто бы сталинизмом.“

505 Von den Behörden wurde Evtušenkos Gedicht aber offenbar kritisch bewertet, denn es fehlt in den sowjetischen Gesamtausgaben (z. B. Евтушенко, Евгений: Собрание сочинений [1983–1984]) und kursierte im Samizdat (Антология самиздата. Неподцензур-ная литература в СССР. 1950-е – 1980-е. Сост.: В. В. Игрунов. В 3 т. М.: Международ-ный институт гуманитарно-политических исследований 2005. Т. 1,2. 39–41).

506 Lied und Tanz für Kinder (M.: finnischer Komponist Rauno Lechtinen, russ. Text: Michail

506 Lied und Tanz für Kinder (M.: finnischer Komponist Rauno Lechtinen, russ. Text: Michail

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