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Die Abrechnung mit der Sowjetliteratur

Im Dokument 33 3 (Seite 136-140)

3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN 305

3.3. DIE PRÄGUNG EINER MYTHOSPARODIE: ЖИЗНЬ К. У

3.3.5. Die Abrechnung mit der Sowjetliteratur

Kapitel V nimmt eine Rede als intertextuelle Grundlage, die Černenko offenbar anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des Schriftstellerverbandes hielt (bei Kibirov datiert sie auf den 25.01.1984).417 Černenkos Vortrag wird von szeni-schen Beschreibungen gerahmt, die an die Rahmenhandlungen erinnern, mit der etwa Lenin-Reden in fiktionale Texte eingebunden wurden, um sie rudimentär zu motivieren und / oder über die beschriebenen Reaktionen die gewünschte Wertung anzuzeigen (vgl. Kap. 3.3.2, S. 112f.). Allerdings ist Černenkos Vor-tragstext selbst belanglos – Kibirov könnte ihn genauso gut erfunden haben. Es handelt sich um eine stereotype Laudatio auf die Errungenschaften der Sowjetli-teratur, die den Spuren der Begründer Gor’kij, Majakovskij, Fadeev und

416Dass dies als Problem gesehen wurde, zeigen die Gegendarstellungen in Прибытков, Виктор: Черненко, 47–49; 77–80.

417 Die Rede soll laut dem Titel von Kap. V – РЕЧЬ ТОВАРИЩА К. У. ЧЕРНЕНКО на Юбилейном Пленуме Союза писателей СССР 25 января 1984 года (по материалам журнала «Агитатор») – ebenfalls in Agitator veröffentlicht worden sein, jedoch ließ sich das Original nicht auffinden. Evtl. ist die Datierung fehlerhaft; Прибытков, Виктор:

Черненко, 47 erwähnt eine Rede anlässlich des 50-jährigen Bestehen des Schriftstellerver-bands im September 1984.

3.3. Die Prägung einer Mythosparodie: Жизнь К. У. Черненко 121 lochov nachfolge. In Kibirovs Kapitel finden sich nur drei Sprechpassagen (V.

2–5, 8–14, 23–26), die gegen Anfang des Gedichts stehen. Trotz des wenig be-merkenswerten Inhalts reagieren die anwesenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit euphorischem Applaus („взорвался / аплодисментами при-тихший зал“, V. 14–15). Allein Sergej Michalkov, als Autor u. a. der National-hymne in einer besonderen Machtposition, wagt sich vor und unterbricht das Rede-Zitat in V. 6–8 durch die doppelbödige Bemerkung, dass Černenko trotz anderslautender Gerüchte erstaunlich gesund aussehe.

Der größte Teil des Kapitels besteht aus der namentlichen Nennung der be-geisterten Schriftsteller und Schriftstellerinnen und ihrer Charakterisierung. Eine Ausnahme stellt Andrej Voznesenskij dar, der namenlos bleibt, wohl eine ge-zielte Invektive. Er ist jedoch durch den Propagandatext Лонжюмо zu identifi-zieren. Vom positiven Image des Sprachexperimentators lässt ihm Kibirovs

„Poem“ nur das Halstuch, mit dem er der Macht zuwinkt:

[…] Автор «Лонжюмо»

платок бунтарский с шеи снял в экстазе,

размахивая им над головой. [V. 39–41]

Es zieht ein ganzes Pantheon sowjetischer Literat/innen vorbei, in der Reihen-folge ihres Auftretens:

Michalkov, Sergej (1913–2009)

Proskurin, Petr (1928–2001)

Markov, Georgij (1911–1991)

Gamzatov, Rasul (1923–2003)

Evtušenko, Evgenij (*1933) Kugul’tinov, David (1922–2006) Rasputin, Valentin (1937–2015)

Nagibin, Jurij (1920–1994)

Šukšin, Vasilij (1929–1974) Berggol’c, Ol’ga (1910–1975)

Inber, Vera (1890–1972)

Aliger, Margarita (1915–1992) Roždestvenskij, Robert (1932–1994)

Samojlov, David (1920–1990)

Voznesenskij, Andrej (1933–2010) Simonov, Konstantin (1915–1979)

Die Aufzählung im Text nivelliert potentielle Unterschiede in der Haltung der einzelnen Personen zum sowjetischen System: Evtušenko, der sich auch kritisch zum Stalinkult oder dem Einmarsch in die Tschechoslowakei äußerte, steht ne-ben Literaturfunktionären wie Markov, der 1977–1989 den Schriftstellerverband leitete.

Unter den genannten Personen ist Rasputin mit unter 50 Jahren der jüngste.

Die erwähnten Šukšin, Berggol’c, Inber, Simonov lebten 1984 schon nicht mehr.

Die Anachronismen verstärken sich gegen Ende des Textes, wo noch weiter zu-rückgegriffen wird: Ilʼja Ėrenburg (1891–1967), Boris Pasternak (1890–1960)

120 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

war bei Dienstreisen zwar Usus, jedoch wohl nicht bei derart hochrangigen Per-sönlichkeiten. Brežnev weckt den Freund, der verschlafen hat, und zieht ihm die Decke weg. Černenko bindet Brežnev die Krawatte. Die beiden Spitzenpolitiker wirken wie sich neckende Kinder oder Vater und Sohn:

«Вставай-ка, соня! Петушок пропел!» [V. 1]

А ну вставай, лентяй! [V. 15]

Ну, Леня, не балуйся! [V. 17]

Вставай, засоня! [V. 18]

Mit der Szene zwischen Stalin und Chruščev aus Sorokins Голубое сало (publ.

1999) im Sinn, möchte man auch die Interpretation als homosexuelles Paar nicht ausschließen. In jedem Falle wird hier – wie bei der Nichtteilnahme am Welt-krieg – ein Moment angesprochen, das Černenko realiter zu Ungunsten ausge-legt wurde: Er habe nur dank Brežnevs Protektion Karriere gemacht.416 Aufmerksamkeit verdienen auch die letzten Worte des Kapitels: Černenko macht sich daran, Brežnev die Krawatte zu binden, und sagt zu ihm „Учись, пока я жив.“ Hier handelt es sich um ein zeitliches Paradoxon, denn Brežnev ist der Vorgesetzte und um vier Jahre Ältere, er müsste eigentlich belehren. Analog war in Teil III die Rede von Sambo-Unterricht, den Černenko Brežnev erteilt habe. Ähnlich wie Stalin Lenins Bedeutung zu seinen Gunsten minderte, drängt Kibirovs Černenko-Epos Brežnev in eine unterlegene Position. Der Text legt damit einen weiteren Propagandamechanismus offen.

3.3.5. Die Abrechnung mit der Sowjetliteratur

Kapitel V nimmt eine Rede als intertextuelle Grundlage, die Černenko offenbar anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des Schriftstellerverbandes hielt (bei Kibirov datiert sie auf den 25.01.1984).417 Černenkos Vortrag wird von szeni-schen Beschreibungen gerahmt, die an die Rahmenhandlungen erinnern, mit der etwa Lenin-Reden in fiktionale Texte eingebunden wurden, um sie rudimentär zu motivieren und / oder über die beschriebenen Reaktionen die gewünschte Wertung anzuzeigen (vgl. Kap. 3.3.2, S. 112f.). Allerdings ist Černenkos Vor-tragstext selbst belanglos – Kibirov könnte ihn genauso gut erfunden haben. Es handelt sich um eine stereotype Laudatio auf die Errungenschaften der Sowjetli-teratur, die den Spuren der Begründer Gor’kij, Majakovskij, Fadeev und

416 Dass dies als Problem gesehen wurde, zeigen die Gegendarstellungen in Прибытков, Виктор: Черненко, 47–49; 77–80.

417 Die Rede soll laut dem Titel von Kap. V – РЕЧЬ ТОВАРИЩА К. У. ЧЕРНЕНКО на Юбилейном Пленуме Союза писателей СССР 25 января 1984 года (по материалам журнала «Агитатор») – ebenfalls in Agitator veröffentlicht worden sein, jedoch ließ sich das Original nicht auffinden. Evtl. ist die Datierung fehlerhaft; Прибытков, Виктор:

Черненко, 47 erwähnt eine Rede anlässlich des 50-jährigen Bestehen des Schriftstellerver-bands im September 1984.

3.3. Die Prägung einer Mythosparodie: Жизнь К. У. Черненко 121 lochov nachfolge. In Kibirovs Kapitel finden sich nur drei Sprechpassagen (V.

2–5, 8–14, 23–26), die gegen Anfang des Gedichts stehen. Trotz des wenig be-merkenswerten Inhalts reagieren die anwesenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit euphorischem Applaus („взорвался / аплодисментами при-тихший зал“, V. 14–15). Allein Sergej Michalkov, als Autor u. a. der National-hymne in einer besonderen Machtposition, wagt sich vor und unterbricht das Rede-Zitat in V. 6–8 durch die doppelbödige Bemerkung, dass Černenko trotz anderslautender Gerüchte erstaunlich gesund aussehe.

Der größte Teil des Kapitels besteht aus der namentlichen Nennung der be-geisterten Schriftsteller und Schriftstellerinnen und ihrer Charakterisierung. Eine Ausnahme stellt Andrej Voznesenskij dar, der namenlos bleibt, wohl eine ge-zielte Invektive. Er ist jedoch durch den Propagandatext Лонжюмо zu identifi-zieren. Vom positiven Image des Sprachexperimentators lässt ihm Kibirovs

„Poem“ nur das Halstuch, mit dem er der Macht zuwinkt:

[…] Автор «Лонжюмо»

платок бунтарский с шеи снял в экстазе,

размахивая им над головой. [V. 39–41]

Es zieht ein ganzes Pantheon sowjetischer Literat/innen vorbei, in der Reihen-folge ihres Auftretens:

Michalkov, Sergej (1913–2009)

Proskurin, Petr (1928–2001)

Markov, Georgij (1911–1991)

Gamzatov, Rasul (1923–2003)

Evtušenko, Evgenij (*1933) Kugul’tinov, David (1922–2006) Rasputin, Valentin (1937–2015)

Nagibin, Jurij (1920–1994)

Šukšin, Vasilij (1929–1974) Berggol’c, Ol’ga (1910–1975)

Inber, Vera (1890–1972)

Aliger, Margarita (1915–1992) Roždestvenskij, Robert (1932–1994)

Samojlov, David (1920–1990)

Voznesenskij, Andrej (1933–2010) Simonov, Konstantin (1915–1979)

Die Aufzählung im Text nivelliert potentielle Unterschiede in der Haltung der einzelnen Personen zum sowjetischen System: Evtušenko, der sich auch kritisch zum Stalinkult oder dem Einmarsch in die Tschechoslowakei äußerte, steht ne-ben Literaturfunktionären wie Markov, der 1977–1989 den Schriftstellerverband leitete.

Unter den genannten Personen ist Rasputin mit unter 50 Jahren der jüngste.

Die erwähnten Šukšin, Berggol’c, Inber, Simonov lebten 1984 schon nicht mehr.

Die Anachronismen verstärken sich gegen Ende des Textes, wo noch weiter zu-rückgegriffen wird: Ilʼja Ėrenburg (1891–1967), Boris Pasternak (1890–1960)

122 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

und Aleksandr Blok (1880–1921). Auffällig ist, dass auch Pasternak, der unter staatlichen Repressionen zu leiden hatte, durch ein eingepasstes Zitat zum loya-len Kommunisten transformiert:

[…] И Пастернак

смотрел испуганно и улыбался робко – ведь не урод он, счастье сотен тысяч418

ему дороже. [V.45–48]

Im Weiteren vereinnahmt die Ahnenreihe neben den russischen Klassikern Puškin, Lomonosov, Kantemir auch Homer und Dante, d. h. der Kanon der Weltliteratur.

Diese Satire entfernt sich vom Thema Černenko. Kapitel V sagt wenig über die Mechanismen des Führerkults aus, sondern kritisiert den offiziellen Litera-turbetrieb. Weitere Gedichte, in denen der Untergrund-Autor Kibirov sich von den älteren Literatengenerationen abgrenzt und diese abwertet, werden folgen.

Am Ende des Poems Жизнь К. У. Черненко steht ein – im Band Стихи (2005) durch Leerzeile abgesetzter – Nachruf auf Černenko, der zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Textes offenbar schon verstorben war. Hier tritt ein Spre-cher in der 1. Person Singular auf, der sich in diesem Epilog als Dichter konsti-tuiert und erneut eine persönliche Beziehung zwischen dem Autor und dessen Figur signalisiert. Der Ton ist versöhnlich.

Ну вот и все. Пора поставить точку / и набело переписать. Прощай же, / мой Константин Устинович! Два года, / два года мы с тобою были вместе. / Бес-сонные ночные вдохновенья / я посвящал тебе. И ныне время / проститься.

Легкомысленная муза / стремится к новому. Мне грустно, Константин / Устинович. Но таковы законы / литературы, о которой ты / пред смертью го-ворил… Покойся с миром / до радостного утра, милый прах.

Tatsächlich verabschiedet sich Kibirov hier von seinem Markenzeichen Černen-ko, der nur in Сквозь прощальные слезы V noch einmal kurz auftritt. In den 1986ff. entstandenen Büchern, die im nächsten Kapitel der Arbeit behandelt werden, verschiebt sich der thematische Schwerpunkt.

418 Aus dem Gedicht Борису Пилняку (1931) „Иль я не знаю, что, в потемки тычась, / Вовек не вышла б к свету темнота, / И я – урод, и счастье сотен тысяч / Не ближе мне пустого счастья ста?“ (Пастернак, Борис: Малое собрание сочинений. СПб.: Азбука 2011. 83.)

3.4. Kapitelresümee 123

3.4. KAPITELRESÜMEE

Kibirovs erste als kompositorische Einheiten geschaffene Einzelbücher beschäf-tigen sich vor allem mit ideologischen Dimensionen der spätsowjetischen All-tagskultur, wobei im Zentrum jeweils eine aus fünf Teilen bestehende poetische Langform steht. Diese beiden Texte – Когда был Ленин маленьким und Жизнь К. У. Черненко – sind sich thematisch ähnlich, beide leisten eine Revision bzw.

Neuinszenierung einer Führerbiographie. Diese kritische Auseinandersetzung mit ideologischen Sachverhalten und die Offenlegung von Propagandamecha-nismen war ein wichtiges Thema des literarisch-kulturellen Lebens der 1980er Jahre. Anders als viele Werke der sog. Perestrojka-Literatur bieten Kibirovs Verstexte jedoch keine Geschichtskorrekturen oder geradlinige Systemkritik.

Ironisch-spielerisch dekonstruieren sie ideologische Texte und Gattungen und höhlen den sowjetischen Wertekanon aus. Sie funktionieren dank dem intertex-tuellen Vorwissen der Leserinnen und Leser, die aus dem Verfolgen der Text-Kollisionen Lektürevergnügen ziehen.

Die beiden Langformen wie auch zahlreiche weitere Gedichte aus den Bü-chern Общие места und Лирико-дидактические поэмы weisen Parallelen zu konzeptualistischen Texten auf. Insofern führt Kapitel 3 die in 2.3 begonnene Erörterung des Verhältnisses zu den Konzeptualisten in Form eines Text-Text-Vergleiches fort. Der Lenin-Zyklus und die Černenko-Kapitel erinnern insbe-sondere an Prigovs Führermärchen: Kibirov ruft ebenfalls „Sprach“-Kollisionen hervor, wenn er Lenin-Hagiographie mit erotischer Trivialprosa kombiniert und den Greis Černenko zum Helden eines Action-Films macht. Der spielerische, und nicht etwa feindliche, Umgang mit Ideologie, erinnert an Grojs’ Definition der Soz-Art. Deutlich tritt das für das Sowjetische empfundene künstlerische Interesse in den Vorworten zu Когда был Ленин маленьким hervor. Über den Anlass für das Verfassen des Lenin-Zyklus heißt es in der in der Zeitschrift Странник publizierten Version:

В 1984 году поэт Денис Новиков, зная мое пристрастие к советскому ретро, подарил мне книжку «Детские и школьные годы Ильича» 1947 года издания, с замечательными картинками. Поэма, которую я наконец отдаю на суд читателя, родилась из многомесячного любования этой удивительной книжкой.419

Explizit wird die Positionierung des eigenen Schreibens im Gedicht „Попытка осиновый кол пронести в Мавзолей...“, das Kibirovs erstes Buch Общие места einleitet und somit am Anfang des kanonischen Werks steht. Die Suche nach Thema und Position führt den Dichter letztendlich zur Schlange vor dem Lenin-Mausoleum. Das Expositionsgedicht Послесловие к книге «Общие места» (Лирико-дидактические поэмы) erinnert hingegen an die

419 Ähnlich auch im Vorwort der Buchausgabe von 1995.

122 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

und Aleksandr Blok (1880–1921). Auffällig ist, dass auch Pasternak, der unter staatlichen Repressionen zu leiden hatte, durch ein eingepasstes Zitat zum loya-len Kommunisten transformiert:

[…] И Пастернак

смотрел испуганно и улыбался робко – ведь не урод он, счастье сотен тысяч418

ему дороже. [V.45–48]

Im Weiteren vereinnahmt die Ahnenreihe neben den russischen Klassikern Puškin, Lomonosov, Kantemir auch Homer und Dante, d. h. der Kanon der Weltliteratur.

Diese Satire entfernt sich vom Thema Černenko. Kapitel V sagt wenig über die Mechanismen des Führerkults aus, sondern kritisiert den offiziellen Litera-turbetrieb. Weitere Gedichte, in denen der Untergrund-Autor Kibirov sich von den älteren Literatengenerationen abgrenzt und diese abwertet, werden folgen.

Am Ende des Poems Жизнь К. У. Черненко steht ein – im Band Стихи (2005) durch Leerzeile abgesetzter – Nachruf auf Černenko, der zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Textes offenbar schon verstorben war. Hier tritt ein Spre-cher in der 1. Person Singular auf, der sich in diesem Epilog als Dichter konsti-tuiert und erneut eine persönliche Beziehung zwischen dem Autor und dessen Figur signalisiert. Der Ton ist versöhnlich.

Ну вот и все. Пора поставить точку / и набело переписать. Прощай же, / мой Константин Устинович! Два года, / два года мы с тобою были вместе. / Бес-сонные ночные вдохновенья / я посвящал тебе. И ныне время / проститься.

Легкомысленная муза / стремится к новому. Мне грустно, Константин / Устинович. Но таковы законы / литературы, о которой ты / пред смертью го-ворил… Покойся с миром / до радостного утра, милый прах.

Tatsächlich verabschiedet sich Kibirov hier von seinem Markenzeichen Černen-ko, der nur in Сквозь прощальные слезы V noch einmal kurz auftritt. In den 1986ff. entstandenen Büchern, die im nächsten Kapitel der Arbeit behandelt werden, verschiebt sich der thematische Schwerpunkt.

418 Aus dem Gedicht Борису Пилняку (1931) „Иль я не знаю, что, в потемки тычась, / Вовек не вышла б к свету темнота, / И я – урод, и счастье сотен тысяч / Не ближе мне пустого счастья ста?“ (Пастернак, Борис: Малое собрание сочинений. СПб.: Азбука 2011. 83.)

3.4. Kapitelresümee 123

3.4. KAPITELRESÜMEE

Kibirovs erste als kompositorische Einheiten geschaffene Einzelbücher beschäf-tigen sich vor allem mit ideologischen Dimensionen der spätsowjetischen All-tagskultur, wobei im Zentrum jeweils eine aus fünf Teilen bestehende poetische Langform steht. Diese beiden Texte – Когда был Ленин маленьким und Жизнь К. У. Черненко – sind sich thematisch ähnlich, beide leisten eine Revision bzw.

Neuinszenierung einer Führerbiographie. Diese kritische Auseinandersetzung mit ideologischen Sachverhalten und die Offenlegung von Propagandamecha-nismen war ein wichtiges Thema des literarisch-kulturellen Lebens der 1980er Jahre. Anders als viele Werke der sog. Perestrojka-Literatur bieten Kibirovs Verstexte jedoch keine Geschichtskorrekturen oder geradlinige Systemkritik.

Ironisch-spielerisch dekonstruieren sie ideologische Texte und Gattungen und höhlen den sowjetischen Wertekanon aus. Sie funktionieren dank dem intertex-tuellen Vorwissen der Leserinnen und Leser, die aus dem Verfolgen der Text-Kollisionen Lektürevergnügen ziehen.

Die beiden Langformen wie auch zahlreiche weitere Gedichte aus den Bü-chern Общие места und Лирико-дидактические поэмы weisen Parallelen zu konzeptualistischen Texten auf. Insofern führt Kapitel 3 die in 2.3 begonnene Erörterung des Verhältnisses zu den Konzeptualisten in Form eines Text-Text-Vergleiches fort. Der Lenin-Zyklus und die Černenko-Kapitel erinnern insbe-sondere an Prigovs Führermärchen: Kibirov ruft ebenfalls „Sprach“-Kollisionen hervor, wenn er Lenin-Hagiographie mit erotischer Trivialprosa kombiniert und den Greis Černenko zum Helden eines Action-Films macht. Der spielerische, und nicht etwa feindliche, Umgang mit Ideologie, erinnert an Grojs’ Definition der Soz-Art. Deutlich tritt das für das Sowjetische empfundene künstlerische Interesse in den Vorworten zu Когда был Ленин маленьким hervor. Über den Anlass für das Verfassen des Lenin-Zyklus heißt es in der in der Zeitschrift Странник publizierten Version:

В 1984 году поэт Денис Новиков, зная мое пристрастие к советскому ретро, подарил мне книжку «Детские и школьные годы Ильича» 1947 года издания, с замечательными картинками. Поэма, которую я наконец отдаю на суд читателя, родилась из многомесячного любования этой удивительной книжкой.419

Explizit wird die Positionierung des eigenen Schreibens im Gedicht „Попытка осиновый кол пронести в Мавзолей...“, das Kibirovs erstes Buch Общие места einleitet und somit am Anfang des kanonischen Werks steht. Die Suche nach Thema und Position führt den Dichter letztendlich zur Schlange vor dem Lenin-Mausoleum. Das Expositionsgedicht Послесловие к книге «Общие места» (Лирико-дидактические поэмы) erinnert hingegen an die

419 Ähnlich auch im Vorwort der Buchausgabe von 1995.

124 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

ten Sprachfetzen aus Rubinštejns Karteikartentexten und die von ihm angespro-chene Interaktion zwischen kollektivem und individuellem Bewusstsein.

Die für Kibirovs Dichtung typische Tendenz, in der 1. Person Singular zu sprechen und Sprecher und Autor anzunähern, ist auch in den beiden dichteri-schen Langformen zu erkennen. Zwar wird das Poem Жизнь К. У. Черненко aus einer unpersönlichen und beobachtenden, nicht-diegetischen Erzählerper-spektive erzählt, am Ende steht allerdings ein Nachtrag in der 1. Person Singu-lar. Die Kommentare im Zyklus Когда был Ленин маленьким werden ebenfalls einem narratorialen „Ich“ in den Mund gelegt, das sich familiär an einen fiktiven Leser richtet. Es wird somit die klassische „lyrische“ Kommunikationssituation aufgerufen, die ein Gespräch zwischen Autor und Leserschaft suggeriert, im Gegensatz zu Prigovs Experimenten, die den Autor bald aus dem Text verban-nen, bald vermittelnde Instanzen (имидж, персонаж) kreieren, und schließlich Text und Autor wieder punktuell zusammenführen (мерцание).

Auf nicht-konzeptualistische Dimensionen des Schaffens deutet auch das dem Buch Общие места vorangestellte Motto hin. Zitiert wird Vladimir Solov’evs Definition des Komischen und des komischen Helden, die auf Kibirovs Texte zu übertragen ist. Wie Solov’ev scheint Kibirov die Kunst als Instrument zur Veränderung der Realität zu verstehen. Die auf den ersten Blick irritierende Bezugnahme auf einen Religionsphilosophen richtet den Blick auch auf die christlichen Motive in Kibirovs Gedichten, die im folgenden Kapitel eine wich-tige Rolle spielen und das Spätwerk prägen.

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