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Vergleichstext im Stil Prigovs: Любовь, комсомол и весна

Im Dokument 33 3 (Seite 188-194)

4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN 420

4.2. KATHARTISCHE RETROSPEKTIVE: СКВОЗЬ ПРОЩАЛЬНЫЕ СЛЕЗЫ

4.2.6. Vergleichstext im Stil Prigovs: Любовь, комсомол и весна

559 Vgl. Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 357. Sie erklärt Kibirovs große Popularität Anfang der 1990er folgendermaßen: „Возможно, какую-то роль сыграло введение в соц-артовские тексты лирического «я», о котором хочется сказать:

«свой парень». В нем многие, несомненно, узнают себя, точнее, обстоятельства, в кото-рых пришлось побывать […].“

560 Vgl. die rege Kommentierung im Blog Лекманов, Олег & Team LJ: Опыт коллективно-го комментария.

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 173 Rubinštejn, letztere offenbar mitsamt Gattin (oder auch als Repräsentanten eines bestimmten Typus):

Господь, благослови мою Россию, Спаси и сохрани мою Россию, В особенности – Милу и Шапиро.

И прочую спаси, Господь, Россию.

Дениску, и Олежку, и Бориску, Сережку и уролога Лариску,

Всех Лен, и Айзенбергов с Рубинштейнами, И злую продавщицу бакалейную.

In Сквозь прощальные слезы gibt es also zwei Schichten, eine kollektiv-überindividuelle, die in den Kapiteln dominiert, und eine individuelle, auf den Autor rückbezogene, die in Intermedium, Prolog und v. a. im Epilog hervor-tritt.561

Dieses Hineinschreiben der eigenen Person in den Text bringt das Moment des authentischen Erlebens oder zumindest die (familiäre) Verstrickung in die Geschichte in den Blick. Momente des Nacherlebens finden sich auch in den Szenen am Ende von Kapitel I und II, in denen die Sprecher-Instanz sich als Teilnehmer am Bürgerkrieg oder Häftling „verkleidet“. Dies sind Hinweise da-rauf, dass Сквозь прощальные слезы nicht nur auf die rationale Analyse histo-rischer Fakten bzw. textueller Spuren von Geschehnissen zielt, sondern dem emotionalen Einleben in die Vergangenheit eine wichtige Rolle zuweist.

4.2.6. Vergleichstext im Stil Prigovs: Любовь, комсомол и весна

Diese Besonderheit von Сквозь прощальные слезы tritt umso klarer hervor, wenn man den Text mit einem zweiten Geschichtspanorama Kibirovs vergleicht, nämlich mit Любовь, комсомол и весна (Три послания), ebenfalls aus dem Jahr 1987.562 Inhaltlich und auch in gewisser formaler Hinsicht ähneln sich die beiden Werke: Auch hier wird in fünf Teilen ein Gesamtbild entworfen, das eine große Zahl historischer und kulturgeschichtlicher Details katalogisiert. Es gibt in Любовь, комсомол и весна ebenfalls Strukturen, die eine sinnhafte Ordnung und analytische Kommentierung leisten: An fixierten Positionen entstehen durch Äquivalenzen Längsschnitte, die Veränderungen sichtbar machen: die

561 Ähnlich spricht Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибиро-ва, z. B. 144 davon, dass Kibirovs lyrisches Subjekt eine typische und eine individuelle Di-mension verbinde. In Prolog und Epilog gehe es um die persönlichen Vergangenheit (127, 135–136). Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 366 sieht im Epi-log eine Hinwendung zum privaten Bereich.

562 So die Datierung in der Auswahlpublikation Кибиров, Тимур: Избранные послания.

Textgrundlage ist Кибиров, Тимур: Сантименты. Восемь книг, 185–191.

172 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

rizont, also als Teil der Wir-Gruppe, wahrgenommen und als glaubwürdig ak-zeptiert.559 Die Chronologie der autobiographischen Bezüge (Großvater – Onkel – eigene Person) entspricht dabei dem ungefähren Alter des Poeten.

Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass die fünf historischen Kapitel sich in ihrer Kommunikationsstruktur grundsätzlich von Einleitung, Lyrischem Intermedium und Epilog unterscheiden. Im Intermedium findet sich weniger ein Durchspielen von Prätexten und Rollen, als vielmehr ein Dialog eines klassisch

„lyrischen“ Sprechers (1. Person Singular) mit der konkreten Figur Mozart. Es klingen einige intertextuelle Bezüge auf die europäische und russische Literatur an, die sich dem Gespräch jedoch unterordnen. Diese Spezifik steht wohl auch hinter der Betitelung als lyrisches Intermedium, da hier das Ich als weder inter-textuell noch figural gebrochene Stimme konzipiert ist.

Während in den fünf Kapiteln biographische Bezüge nur sporadisch einge-streut sind, ist in den Prolog- und Epilog-Teilen der Sprecher über weite Stre-cken mit dem realen Autor verknüpft. Es werden Personen genannt, die als Fakten von Kibirovs Biographie anzusehen sind, z. B. wird die Einleitung am Ende zum intimen Zwiegespräch mit Ljudmila (Kibirova):

Пахнет дело мое, пахнет тело,

Пахнут слезы, Людмила, мои. [Str. 20]

Der gesamte Prolog besteht aus einer Aufzählung von Gerüchen bzw. olfakto-risch geprägten Lokalitäten, denen zwar eine allgemeine Dimension zu-kommt,560 die aber auch Lebensphasen des Autors zu spiegeln scheinen, etwa Momente der Kindheit:

[Пахнет] Свежеглаженым галстуком алым, Звонким штандыром на пустыре,

И вокзалом, и актовым залом,

И сиренью у нас на дворе. [Str. 5]

Der Epilog klingt in der Fürbitte für reale (Freunde, Dichterkollegen, Alltagsbe-kanntschaften) und historische Personen (Puškin, Nikolaj Nekrasov, Černenko) sowie für Orte (der Moskauer Wohnbezirk, England, Italien, Amerika, Russland / Sowjetunion) aus. Einige der Adressaten sind aus anderen Texten Kibirovs be-kannt, so dass man den Eindruck gewinnt, dass alle Namen in einer Beziehung zu dem Autor stehen. Man identifiziert in Str. 1–2 beispielsweise (Ljud-)Mila, Denis (Novikov), Sergej (Gandlevskij), sowie (Michail) Ajzenberg und (Lev)

559 Vgl. Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 357. Sie erklärt Kibirovs große Popularität Anfang der 1990er folgendermaßen: „Возможно, какую-то роль сыграло введение в соц-артовские тексты лирического «я», о котором хочется сказать:

«свой парень». В нем многие, несомненно, узнают себя, точнее, обстоятельства, в кото-рых пришлось побывать […].“

560 Vgl. die rege Kommentierung im Blog Лекманов, Олег & Team LJ: Опыт коллективно-го комментария.

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 173 Rubinštejn, letztere offenbar mitsamt Gattin (oder auch als Repräsentanten eines bestimmten Typus):

Господь, благослови мою Россию, Спаси и сохрани мою Россию, В особенности – Милу и Шапиро.

И прочую спаси, Господь, Россию.

Дениску, и Олежку, и Бориску, Сережку и уролога Лариску,

Всех Лен, и Айзенбергов с Рубинштейнами, И злую продавщицу бакалейную.

In Сквозь прощальные слезы gibt es also zwei Schichten, eine kollektiv-überindividuelle, die in den Kapiteln dominiert, und eine individuelle, auf den Autor rückbezogene, die in Intermedium, Prolog und v. a. im Epilog hervor-tritt.561

Dieses Hineinschreiben der eigenen Person in den Text bringt das Moment des authentischen Erlebens oder zumindest die (familiäre) Verstrickung in die Geschichte in den Blick. Momente des Nacherlebens finden sich auch in den Szenen am Ende von Kapitel I und II, in denen die Sprecher-Instanz sich als Teilnehmer am Bürgerkrieg oder Häftling „verkleidet“. Dies sind Hinweise da-rauf, dass Сквозь прощальные слезы nicht nur auf die rationale Analyse histo-rischer Fakten bzw. textueller Spuren von Geschehnissen zielt, sondern dem emotionalen Einleben in die Vergangenheit eine wichtige Rolle zuweist.

4.2.6. Vergleichstext im Stil Prigovs: Любовь, комсомол и весна

Diese Besonderheit von Сквозь прощальные слезы tritt umso klarer hervor, wenn man den Text mit einem zweiten Geschichtspanorama Kibirovs vergleicht, nämlich mit Любовь, комсомол и весна (Три послания), ebenfalls aus dem Jahr 1987.562 Inhaltlich und auch in gewisser formaler Hinsicht ähneln sich die beiden Werke: Auch hier wird in fünf Teilen ein Gesamtbild entworfen, das eine große Zahl historischer und kulturgeschichtlicher Details katalogisiert. Es gibt in Любовь, комсомол и весна ebenfalls Strukturen, die eine sinnhafte Ordnung und analytische Kommentierung leisten: An fixierten Positionen entstehen durch Äquivalenzen Längsschnitte, die Veränderungen sichtbar machen: die

561 Ähnlich spricht Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибиро-ва, z. B. 144 davon, dass Kibirovs lyrisches Subjekt eine typische und eine individuelle Di-mension verbinde. In Prolog und Epilog gehe es um die persönlichen Vergangenheit (127, 135–136). Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 366 sieht im Epi-log eine Hinwendung zum privaten Bereich.

562 So die Datierung in der Auswahlpublikation Кибиров, Тимур: Избранные послания.

Textgrundlage ist Кибиров, Тимур: Сантименты. Восемь книг, 185–191.

174 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

selnden Namen kommunistischer Führer, verschiedene Repräsentationen des Bürgerkriegshelden Budёnnyj, ideologische Schlüsseltexte.

Das formale Gesamtgerüst in Любовь, комсомол и весна ist jedoch ausgear-beiteter und weniger flexibel. Jede der jeweils vier Strophen ist nach exakt dem gleichen Muster aufgebaut, so dass der Eindruck von Eintönigkeit entsteht.563 Das Narrativ ist zyklisch; anders als in Сквозь прощальные слезы läuft der Text nicht auf einen Endpunkt zu, sondern ließe sich beliebig um weitere Epo-chenbilder fortsetzten. An fixierten Positionen wiederholen sich in allen Teilen der Geschichtsretrospektive die gleichen Formeln, die die mechanische Aufzäh-lung der epochentypischen Einzelinformationen rahmen: Die ersten und letzten Strophen nennen jeweils einen typischen Ort, an dem sich „Junge und Mädchen“

– ein Liebespaar – aufhalten. Die zweiten Strophen zählen die jeweiligen Be-drohungen des Sowjetstaates durch Feinde auf, während die dritten Strophen die eigenen Erfolge nennen. Die Zeitbilder klingen in Strophe 4 alle mit Zukunfts-optimismus aus. Dieses Schema bleibt auch im fünften, dem Perestrojka-Teil, unverändert. Die zusätzlichen emphatischen Zeilen am Ende von Epoche V sind dabei wohl als ironischer Epilog zu lesen:

И Ленин жив. И сладок поцелуй девичьих губ. И Ленин жив! И будут колбасы в магазинах, а в сердцах любовь и пламень молодости нашей!

А Дмитрий Алексаныч тут как тут!

Wichtiger als individuelle Epochenbilder sind in Любовь, комсомол и весна die konstanten stereotypen Denkmuster. Die redundanten Formeln und die identi-sche Struktur fordern eine rationale Analyse des Textes. Erzählt wird durchge-hend in der 3. Person, ohne direkte Stellungnahmen oder subvertierende Eingriffe eines kommentierenden Sprechers.

Motto und Widmung stellen Любовь, комсомол и весна in einen expliziten Zusammenhang mit dem Konzeptualismus. Als Epigraph dient der erste Vers aus Sergej Gandlevskijs Gedicht „Отечество, предание, геройство…“

(1983),564 das die nostalgische Verklärung der sowjetischen Vergangenheit pa-rodiert und auf formelhaften Redundanzen aufbaut (was für Gandlevskijs Poetik untypisch ist). Die Widmung an D. A. Prigov, die sich ebenfalls in Gandlevskijs Gedicht findet und von Kibirov quasi mitübernommen wurde, charakterisiert beide Texte als konzeptualistisch inspiriert. Der letzte Vers von Любовь,

563 Dieses feste Gerüst aus wörtlichen Wiederholungen und vordefinierten Inhalten kompen-siert das Fehlen von Reimen und einer konstanten Anzahl von Versen, die normalerweise für die Wahrnehmung von Gedichtabschnitten als gleichförmigte Einheiten sorgen. Daher wird hier von ‚Strophen‘ gesprochen (vgl. Fn.359, S. 96).

564 Abgedruckt in Личное дело №_, 24–25; mit Datierung: Гандлевский, Сергей: Празд-ник. СПб.: Пушкинский фонд 1995. 97.

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 175 сомол и весна setzt einen weiteren Verweis auf Prigov. Der Schlusssatz „А Дмитрий Алексаныч тут как тут!“ (‘Und Dmitrij Aleksanyč ist zur Stelle!ʼ), der in der frühsten fassbaren Version des Textes in der Rigaer Samizdat-Zeitschrift Tret’ja modernizacija 1989565 fehlt und wohl später ergänzt wurde, lässt Kibirovs Gedicht kippen. Die explizite Referenz kennzeichnet es als Stilimitation, legt die von Prigov kopierten konzeptualistischen Verfahren of-fen566 und dekonstruiert quasi die Dekonstruktion.

Während Любовь, комсомол и весна Prigovs Arbeit mit sowjetischen Kli-schees nachvollzieht und durch die metaliterarische Referenz auf ihn die Grenze der konzeptualistischen Retrospektive absteckt, geht Сквозь прощальные слезы trotz der Zitatdichte in eine nicht-konzeptualistische Richtung. Über die Analyse der Vergangenheit hinaus, die durch das reine Arrangieren von Referenzen ge-leistet wird, werden Eingriffe, d. h. explizite Kommentierungen, vorgenommen.

Weiterhin gibt es einen expliziten Sprecher, der als pseudo-diegetische Instanz auch tragische Parts bekleidet (Kap. I, II) und / oder emotionale Involviertheit signalisiert (Kap. III, IV, V). Gerade in Prolog und Epilog erfolgt eine Rückbin-dung an den Autor. Derartige persönliche Spuren sind in Любовь, комсомол и весна nicht zu finden. Hier greift Prigovs Beschreibung des ursprünglichen Konzeptualismus, der Autor und Text trennt, während es später um Möglichkei-ten der Präsenz des Autors im Text gehe.567

Любовь, комсомол и весна blickt aus einer unbeteiligten, analytischen Be-obachterperspektive auf die Epochen; Ziel ist das Erkennen der Denkklischees und ihre kritische Hinterfragung. Dagegen kann man Сквозь прощальные сле-зы eine therapeutische Funktion zuweisen, welche auch eine emotionale Verar-beitung verlangt. Die verschiedenen Metaerzählungen vereinigen sich nicht zufällig unter dem Dach der Tragödie, die nach Aristoteles eine Reinigung durch emotionales Miterleben anstrebt. Eine solche Ausrichtung auf die Erweckung von Gefühlen ist dem Konzeptualismus fremd (vgl. die Aussagen von Kosuth und LeWitt in Kap. 2.3, S. 66f.).

565 Кибиров, Тимур: Когда был Ленин маленьким. // Митин журнал (1989) 25. [17–24]

(РГБ 22 34/59-8); online: http://kolonna.mitin.com/archive/mj25/kibirov.shtml.

566 Strukturell ähnliche Prosaminiaturen finden sich etwa in: Пригов, Д. А.: Советские тексты. Описание предметов (89–99) definiert neun Gegenstände unter Verwendung von sich wiederholenden Formeln, die absurde Aussagen produzieren; in Некрологи (137–143) wird stereotyp das Verscheiden großer Schriftsteller beklagt.

567 Vgl. Пригов, Д. А.: Что надо знать, 419–420; siehe Kap. 2.3.3, S. 73f. Anders als in Rutz, Marion: Timur Kibirovs Ljubov’, Komsomol i vesna, 150–151 sehe ich die persönlichen Bezüge auf Prigov sowie Kibirov selbst inzwischen nicht mehr als prinzipiellen Bruch mit dem gesamten Konzeptualismus, da auch in Texten Prigovs ähnliche Erwähnungen der eigenen Person oder konkreter Menschen aus dem Bekanntenkreis zu finden sind.

174 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

selnden Namen kommunistischer Führer, verschiedene Repräsentationen des Bürgerkriegshelden Budёnnyj, ideologische Schlüsseltexte.

Das formale Gesamtgerüst in Любовь, комсомол и весна ist jedoch ausgear-beiteter und weniger flexibel. Jede der jeweils vier Strophen ist nach exakt dem gleichen Muster aufgebaut, so dass der Eindruck von Eintönigkeit entsteht.563 Das Narrativ ist zyklisch; anders als in Сквозь прощальные слезы läuft der Text nicht auf einen Endpunkt zu, sondern ließe sich beliebig um weitere Epo-chenbilder fortsetzten. An fixierten Positionen wiederholen sich in allen Teilen der Geschichtsretrospektive die gleichen Formeln, die die mechanische Aufzäh-lung der epochentypischen Einzelinformationen rahmen: Die ersten und letzten Strophen nennen jeweils einen typischen Ort, an dem sich „Junge und Mädchen“

– ein Liebespaar – aufhalten. Die zweiten Strophen zählen die jeweiligen Be-drohungen des Sowjetstaates durch Feinde auf, während die dritten Strophen die eigenen Erfolge nennen. Die Zeitbilder klingen in Strophe 4 alle mit Zukunfts-optimismus aus. Dieses Schema bleibt auch im fünften, dem Perestrojka-Teil, unverändert. Die zusätzlichen emphatischen Zeilen am Ende von Epoche V sind dabei wohl als ironischer Epilog zu lesen:

И Ленин жив. И сладок поцелуй девичьих губ. И Ленин жив! И будут колбасы в магазинах, а в сердцах любовь и пламень молодости нашей!

А Дмитрий Алексаныч тут как тут!

Wichtiger als individuelle Epochenbilder sind in Любовь, комсомол и весна die konstanten stereotypen Denkmuster. Die redundanten Formeln und die identi-sche Struktur fordern eine rationale Analyse des Textes. Erzählt wird durchge-hend in der 3. Person, ohne direkte Stellungnahmen oder subvertierende Eingriffe eines kommentierenden Sprechers.

Motto und Widmung stellen Любовь, комсомол и весна in einen expliziten Zusammenhang mit dem Konzeptualismus. Als Epigraph dient der erste Vers aus Sergej Gandlevskijs Gedicht „Отечество, предание, геройство…“

(1983),564 das die nostalgische Verklärung der sowjetischen Vergangenheit pa-rodiert und auf formelhaften Redundanzen aufbaut (was für Gandlevskijs Poetik untypisch ist). Die Widmung an D. A. Prigov, die sich ebenfalls in Gandlevskijs Gedicht findet und von Kibirov quasi mitübernommen wurde, charakterisiert beide Texte als konzeptualistisch inspiriert. Der letzte Vers von Любовь,

563 Dieses feste Gerüst aus wörtlichen Wiederholungen und vordefinierten Inhalten kompen-siert das Fehlen von Reimen und einer konstanten Anzahl von Versen, die normalerweise für die Wahrnehmung von Gedichtabschnitten als gleichförmigte Einheiten sorgen. Daher wird hier von ‚Strophen‘ gesprochen (vgl. Fn.359, S. 96).

564 Abgedruckt in Личное дело №_, 24–25; mit Datierung: Гандлевский, Сергей: Празд-ник. СПб.: Пушкинский фонд 1995. 97.

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 175 сомол и весна setzt einen weiteren Verweis auf Prigov. Der Schlusssatz „А Дмитрий Алексаныч тут как тут!“ (‘Und Dmitrij Aleksanyč ist zur Stelle!ʼ), der in der frühsten fassbaren Version des Textes in der Rigaer Samizdat-Zeitschrift Tret’ja modernizacija 1989565 fehlt und wohl später ergänzt wurde, lässt Kibirovs Gedicht kippen. Die explizite Referenz kennzeichnet es als Stilimitation, legt die von Prigov kopierten konzeptualistischen Verfahren of-fen566 und dekonstruiert quasi die Dekonstruktion.

Während Любовь, комсомол и весна Prigovs Arbeit mit sowjetischen Kli-schees nachvollzieht und durch die metaliterarische Referenz auf ihn die Grenze der konzeptualistischen Retrospektive absteckt, geht Сквозь прощальные слезы trotz der Zitatdichte in eine nicht-konzeptualistische Richtung. Über die Analyse der Vergangenheit hinaus, die durch das reine Arrangieren von Referenzen ge-leistet wird, werden Eingriffe, d. h. explizite Kommentierungen, vorgenommen.

Weiterhin gibt es einen expliziten Sprecher, der als pseudo-diegetische Instanz auch tragische Parts bekleidet (Kap. I, II) und / oder emotionale Involviertheit signalisiert (Kap. III, IV, V). Gerade in Prolog und Epilog erfolgt eine Rückbin-dung an den Autor. Derartige persönliche Spuren sind in Любовь, комсомол и весна nicht zu finden. Hier greift Prigovs Beschreibung des ursprünglichen Konzeptualismus, der Autor und Text trennt, während es später um Möglichkei-ten der Präsenz des Autors im Text gehe.567

Любовь, комсомол и весна blickt aus einer unbeteiligten, analytischen Be-obachterperspektive auf die Epochen; Ziel ist das Erkennen der Denkklischees und ihre kritische Hinterfragung. Dagegen kann man Сквозь прощальные сле-зы eine therapeutische Funktion zuweisen, welche auch eine emotionale Verar-beitung verlangt. Die verschiedenen Metaerzählungen vereinigen sich nicht zufällig unter dem Dach der Tragödie, die nach Aristoteles eine Reinigung durch emotionales Miterleben anstrebt. Eine solche Ausrichtung auf die Erweckung von Gefühlen ist dem Konzeptualismus fremd (vgl. die Aussagen von Kosuth und LeWitt in Kap. 2.3, S. 66f.).

565Кибиров, Тимур: Когда был Ленин маленьким. // Митин журнал (1989) 25. [17–24]

(РГБ 22 34/59-8); online: http://kolonna.mitin.com/archive/mj25/kibirov.shtml.

566 Strukturell ähnliche Prosaminiaturen finden sich etwa in: Пригов, Д. А.: Советские тексты. Описание предметов (89–99) definiert neun Gegenstände unter Verwendung von sich wiederholenden Formeln, die absurde Aussagen produzieren; in Некрологи (137–143) wird stereotyp das Verscheiden großer Schriftsteller beklagt.

567 Vgl. Пригов, Д. А.: Что надо знать, 419–420; siehe Kap. 2.3.3, S. 73f. Anders als in Rutz, Marion: Timur Kibirovs Ljubov’, Komsomol i vesna, 150–151 sehe ich die persönlichen Bezüge auf Prigov sowie Kibirov selbst inzwischen nicht mehr als prinzipiellen Bruch mit dem gesamten Konzeptualismus, da auch in Texten Prigovs ähnliche Erwähnungen der eigenen Person oder konkreter Menschen aus dem Bekanntenkreis zu finden sind.

176 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN 4.3. KAPITELRESÜMEE

Obwohl viele Gedichte Kibirovs den unter Gorbačev eingeschlagenen Reform-kurs kritisch kommentieren, beschäftigen sich der Zyklus Рождественские аллегории (1986) und das Geschichtspanorama Сквозь прощальные слезы (1987) mit Themen, die sich unter die Schlagwörter „Umbau“ (перестройка) und „Transparenz“ (гласность) einordnen lassen. Die beiden Texte diagnosti-zieren eine Wertekrise der Gesellschaft und suchen nach einem Verhältnis zur jüngeren Geschichte. Die im vorliegenden Kapitel vorgenommene Verbindung der beiden auf den ersten Blick recht unterschiedlichen Werke wird durch die gemeinsamen Referenzen auf Vladimir Nabokov bestätigt.

Die Weihnachtsallegorien schildern durch Momentaufnahmen aus dem Leben von vier Personen den Zerfall zwischenmenschlicher Beziehungen und die Ver-einsamung der homines sovietici. Die Gedichtmottos, die aus Texten mit patrio-tischem Inhalt stammen, heben den Kontrast zwischen Sein und Schein hervor und postulieren zugleich die Repräsentativität der Einzelfälle. Als Ausweg der Protagonisten und somit auch der Gesellschaft wird die Hinwendung zur christ-lichen Heilsbotschaft vorgeschlagen, die – laut Text – zwischenmenschliche Gemeinschaft stiftet. Die Verbindung mit Weihnachten und der Lazarus-Legende fügt dem Aufruf zum Neubeginn die Bedeutung einer Wiedergeburt hinzu. Diese auffällige Präsenz biblischer Motive macht auf weitere christliche Anklänge im Frühwerk aufmerksam, wobei das Christentum immer in Kombi-nation mit dem Thema Liebe verhandelt wird. Ein zentraler künstlerischer As-pekt in den Allegorien sind die gewählten komplexen ErzählpersAs-pektiven, die die Leserreaktion steuern. Die emotive (Emotionen hervorrufende) Palette reicht von der impliziten Kritik (Allegorie II) über Mitgefühl (Allegorie I) bis zu Im-pulsen, zu trösten oder zu Hilfe zu eilen (Allegorie III & IV). Die letzten beiden Allegorien formulieren mit der Wendung „жалость и стыд“ eine Art Losung, die die intendierte Wirkungsweise der Texte beschreibt und an die aristotelische Katharsis-Formel erinnert. Während Lenin und Černenko aus einer um die Pro-pagandalügen wissenden parodierenden Distanz betrachtet werden, provozieren die Allegorien eine emotionale Reaktion, auch wenn amüsante Momente und ironischen Nuancen nicht fehlen – Gorbačev als Abstinenzler, die Torte als Äquivalent des Abendmahlsbrots.

Das Geschichtspanorama Сквозь прощальные слезы entwirft einen Zugriff auf die Vergangenheit, der zwischen den Polen Kritik und Nostalgie steht, die die Diskussionen über die Bewertung der sowjetischen Geschichte in den späten 80er und 90er Jahrenprägten. Der Titel Сквозь прощальные слезы, der auf Nabokovs Gedicht К России anspielt, spricht von Trennungsschmerz, der sich im Leitmotiv ‚Tränen‘ fortsetzt. Das einem Gedicht von Achmatova entnomme-ne Gesamtmotto legt den Schwerpunkt auf den historischen Umbruch und auf die Forderung nach einer angemessenen Erinnerungsform (einer würdigen Beer-digung). Als dritte interpretative Linie ist die Verbindung zur präklassizistischen

4.3. Kapitelresümee 177

Tragödie zu nennen, die in der Unterteilung in fünf Kapitel (= Akte), Epilog, Prolog und Intermedium zu erkennen ist. Gegenüber dem im Motto des Buches Общие места benannten Modus der Komödie (nach Solov’ev) wechselt Kibirov auch hier zum Tragischen. Neben diesen allgemeinen Interpretations-lleitlinien wird die Vielfalt an intertextuellen Details durch Ordnungsmuster auf mittleren Ebenen organisiert: Der Niedergang der Sowjetunion bzw. Sowjetkul-tur wird im Längsschnitt über Stationen der Musikgeschichte repräsentiert. Die fünf Kapitel beinhalten Querschnitte durch die Epochen Revolution & Bürger-krieg, Stalinzeit, Zweiter WeltBürger-krieg, Tauwetter, Stagnation, wobei die Kapitel-mottos zentrale Konflikte innerhalb der einzelnen Epochen benennen. Kapitel V konstatiert die Überalterung der sowjetischen Leitkultur und schließt mit sammenbruch und Neuanfang. Ähnlich wie die Weihnachtsallegorien die Zu-kunftsperspektive im Glauben sehen, endet Сквозь прощальные слезы im Epilog mit Fürbitten, welche gegen Ende eine ironische Färbung annehmen, ins-besondere wo sie Černenko, das Markenzeichen des frühen Kibirov, einbinden:

Спаси, Господь, несчастного Черненко!

Прости, Господь, опасного Черненко!

Мудацкого, уродского Черненко!

Ведь мы еще глупы и молоденьки, И мы еще исправимся, Иисусе!

Господь! Прости Советскому Союзу! [Abschn. 13–15]

Eine Besonderheit von Сквозь прощальные слезы ist die Verbindung einer kol-lektiven Perspektive, die in den Kapiteln in Form von unzähligen intertextuellen Bezügen und dem leitmotivischen Sing-Appell vorliegt, mit einer individuellen Erzählerperspektive. Während die in der 1. Person Singular sprechende Stimme einerseits bekannte Rollen verkörpert, die die Leserinnen und Leser quasi als Teil eines Chorkollektives nachverfolgen (mitsprechen bwz. -lesen), werden an-dererseits Veränderungen am einzelnen Zitat bzw. Konfrontationen mit antago-nistischen Referenzen vorgenommen. Darüber hinaus sind in den Kapiteln punktuelle Verbindungen mit der Biographie des Autors angelegt, und gerade in Prolog und Epilog nimmt „Kibirov“ als Person Gestalt an. Ähnlich wie im Fall der Weihnachtsallegorien spielen die emotionale Identifikation mit den ver-schiedenen „Personen“ (hier wären es primär Zitate) und das Einfühlen in die Epochenporträts eine wichtige Rolle, ohne die kritische Analyse der Vergangen-heit zu verdrängen. Die Spezifika von Сквозь прощальные слезы treten im Vergleich mit Kibirovs zeitgleich entstandenem Geschichtspanorama Любовь, комсомол и весна noch stärker hervor, das ausschließlich analytische Muster herausarbeitet. Demgegenüber rehabilitiert Сквозь прощальные слезы – wie auch Рождественские аллегории – die Emotion als Thema bzw. Wirkmodus.

Die beiden Werke wären exzellente Beispiele für Ruttens Überlegungen zur Be-deutung „sentimentalistischer“ Schreibstrategien und der „healing function of

176 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN 4.3. KAPITELRESÜMEE

Obwohl viele Gedichte Kibirovs den unter Gorbačev eingeschlagenen Reform-kurs kritisch kommentieren, beschäftigen sich der Zyklus Рождественские аллегории (1986) und das Geschichtspanorama Сквозь прощальные слезы (1987) mit Themen, die sich unter die Schlagwörter „Umbau“ (перестройка) und „Transparenz“ (гласность) einordnen lassen. Die beiden Texte diagnosti-zieren eine Wertekrise der Gesellschaft und suchen nach einem Verhältnis zur jüngeren Geschichte. Die im vorliegenden Kapitel vorgenommene Verbindung der beiden auf den ersten Blick recht unterschiedlichen Werke wird durch die gemeinsamen Referenzen auf Vladimir Nabokov bestätigt.

Die Weihnachtsallegorien schildern durch Momentaufnahmen aus dem Leben von vier Personen den Zerfall zwischenmenschlicher Beziehungen und die Ver-einsamung der homines sovietici. Die Gedichtmottos, die aus Texten mit patrio-tischem Inhalt stammen, heben den Kontrast zwischen Sein und Schein hervor und postulieren zugleich die Repräsentativität der Einzelfälle. Als Ausweg der

Die Weihnachtsallegorien schildern durch Momentaufnahmen aus dem Leben von vier Personen den Zerfall zwischenmenschlicher Beziehungen und die Ver-einsamung der homines sovietici. Die Gedichtmottos, die aus Texten mit patrio-tischem Inhalt stammen, heben den Kontrast zwischen Sein und Schein hervor und postulieren zugleich die Repräsentativität der Einzelfälle. Als Ausweg der

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