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Prätexte und Überblick

Im Dokument 33 3 (Seite 110-116)

3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN 305

3.2. DER DOPPELTE BODEN DER HAGIOGRAPHIE: КОГДА БЫЛ ЛЕНИН МАЛЕНЬКИМ

3.2.2. Prätexte und Überblick

Kibirovs Zyklus macht die Auseinandersetzung mit dem Mythos Lenin an kon-kreten Prätexten fest. So handelt es sich bei dem Titel Когда был Ленин ма-леньким um die (grammatisch korrigierten) Anfangsverse folgender, in sowjetischer Zeit bekannter Verse für Kinder:

Когда был Ленин маленький, Похож он был на нас,

Зимой носил он валенки, И шарф носил, и варежки, И падал в снег не раз.356

Der kleine „Volodja“ wird in einfachen und anschaulichen Worten zur positiven Identifikationsfigur („Похож он был на нас“) aufgebaut.

Lenin als Identifikationsangebot und Vorbild präsentiert auch das von Kibirov als Vorlage für sein Werk genutzte Buch aus der Kinder-Leniniana: Детские и школьные годы Ильича. Es handelt sich dabei um Erinnerungen an die Kind-heit aus der Feder von Lenins Schwester Anna Ul’janova (-Elizarova), die 1925 erstmals veröffentlicht wurden. Jedes der fünf Gedichte aus Kibirovs Zyklus be-steht aus einem umfangreichen Zitat samt Quellen- und Seitenangabe, auf das

354 Пригов, Д. А.: Написанное с 1975 по 1989. М.: НЛО 1997. Die Erzählungen stehen in Teil 6: Нерифмованная и не проза, 249ff.

355 Пригов, Д. А.: Написанное с 1990 по 1994. М.: НЛО 1998. 7, 9, 10, 11, 65.

356 Text nach Калмыков, Павел: О Ленине большом и маленьком. // газета.ру 24.04.2008, http://www.gazeta.ru/culture/2008/04/24/a_2705326.shtml. Der Liedtext werde M. Ivensen zugeschrieben; Kalmykov meint, dass auf der Grundlage von Ivensens Text Anfang der 1930er Jahre folkloristische Variationen entstanden, die anschließend mit Nennung des Autornamens kanonisiert wurden. Der Prätext ist ebenfalls erwähnt bei Золотоносов, М. Н.:

Логомахия [2010], 153. Die von beiden genannten Printquellen sind in den deutschen Biblio-theken nicht zugänglich. Für den Hinweis auf dieses Zitat danke ich Inna Ganschow.

3.2. Der doppelte Boden der Hagiographie: Когда был Ленин маленьким 95 ein poetischer Kommentar folgt (nach Genettes Klassifikation handelt es sich damit um Metatextualität). Die Vorlage ist genau bezeichnet: Der Originaltext wird nach der Ausgabe von 1947 zitiert – auf einer Fotografie im Almanach Личное дело №_, auf dem der Dichter mit einem Leninbild posiert, ist im Hin-tergrund eben dieses Buch zu sehen (siehe Abb. 10). Dieses bibliographische Detail ist signifikant, da in späteren Editionen (Kibirov nennt die von 1962) und auch in der Erstausgabe von 1925 an einer Stelle eine Zensurlücke klafft, die der poetische Kommentar markiert.357

Abb. 11 & 12: Cover von Детские и школьные годы Ильича; Ausgaben von 1925 und 1947

Ul’janovas Kindheitserinnerungen gelten als einer der frühsten und zugleich der am wenigsten bearbeiteten und geschönten Leniniana-Texte. Der Historiker Robert Service nutzt sie in seiner Leninbiographie als verhältnismäßig unge-schönte und zuverlässige Quelle zu Lenins Kindheit.358 Zwar werden positive Charakterzüge hervorgehoben, „Volodja“ als Vorbild aufgebaut und manche Reminiszenz erfüllt eindeutig propagandistische Aufgaben, jedoch erfährt man auch Negatives: Der kleine Lenin habe etwa das Kommandieren geliebt und sein Brüderchen grausam zum Weinen gebracht. Kibirovs Zyklus Когда был Ленин

357 Eingesehen wurden in der Moskauer „Lenin-Bibliothek“ Ульянова, А. И.: Детские и школьные годы Ильича. М.: Новая Москва 1925 sowie Ульянова, А. И.: Детские и школьные годы Ильича. М.; Л.: Государственное изд-во детской литературы; Мини-стерство просвещения 1947.

358 Service, Robert: Lenin. Eine Biographie. München: C. H. Beck 2000. 56–74, Anm. 639–

640.

94 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

Hockey-Mannschaften wetteten (Битва за океаном).354 Im poetischen Œuvre taucht Lenin als Konzept des Sakralen auf.355

Als Kibirovs Zyklus Mitte der 1980er entstand, war der Lenin-Mythos auch literarisch noch wirkmächtig. Anders als in den realistischen Dramen und Ro-manen der Perestrojka-Jahre geht es in seinen Gedichten nicht darum, „wie es wirklich war“. Im Unterschied zu Erofeevs düsterer Postmoderne soll nicht das Grauen des Leninsmus nachempfunden werden. Kibirovs Bearbeitung ist keine psychisch belastende Lektüre, sondern eine amüsante, heitere Parodie. Hinsicht-lich von Thema und Atmosphäre stehen dem Zyklus Prigovs Führer-Märchen und -Anekdoten am nächsten, die ebenfalls auf die literarische Inszenierung des Černenko-Mythos vorausweisen. Die Arbeit mit realen Quellentexten ähnelt schließlich den Mitʼki.

3.2.2. Prätexte und Überblick

Kibirovs Zyklus macht die Auseinandersetzung mit dem Mythos Lenin an kon-kreten Prätexten fest. So handelt es sich bei dem Titel Когда был Ленин ма-леньким um die (grammatisch korrigierten) Anfangsverse folgender, in sowjetischer Zeit bekannter Verse für Kinder:

Когда был Ленин маленький, Похож он был на нас,

Зимой носил он валенки, И шарф носил, и варежки, И падал в снег не раз.356

Der kleine „Volodja“ wird in einfachen und anschaulichen Worten zur positiven Identifikationsfigur („Похож он был на нас“) aufgebaut.

Lenin als Identifikationsangebot und Vorbild präsentiert auch das von Kibirov als Vorlage für sein Werk genutzte Buch aus der Kinder-Leniniana: Детские и школьные годы Ильича. Es handelt sich dabei um Erinnerungen an die Kind-heit aus der Feder von Lenins Schwester Anna Ul’janova (-Elizarova), die 1925 erstmals veröffentlicht wurden. Jedes der fünf Gedichte aus Kibirovs Zyklus be-steht aus einem umfangreichen Zitat samt Quellen- und Seitenangabe, auf das

354 Пригов, Д. А.: Написанное с 1975 по 1989. М.: НЛО 1997. Die Erzählungen stehen in Teil 6: Нерифмованная и не проза, 249ff.

355 Пригов, Д. А.: Написанное с 1990 по 1994. М.: НЛО 1998. 7, 9, 10, 11, 65.

356 Text nach Калмыков, Павел: О Ленине большом и маленьком. // газета.ру 24.04.2008, http://www.gazeta.ru/culture/2008/04/24/a_2705326.shtml. Der Liedtext werde M. Ivensen zugeschrieben; Kalmykov meint, dass auf der Grundlage von Ivensens Text Anfang der 1930er Jahre folkloristische Variationen entstanden, die anschließend mit Nennung des Autornamens kanonisiert wurden. Der Prätext ist ebenfalls erwähnt bei Золотоносов, М. Н.:

Логомахия [2010], 153. Die von beiden genannten Printquellen sind in den deutschen Biblio-theken nicht zugänglich. Für den Hinweis auf dieses Zitat danke ich Inna Ganschow.

3.2. Der doppelte Boden der Hagiographie: Когда был Ленин маленьким 95 ein poetischer Kommentar folgt (nach Genettes Klassifikation handelt es sich damit um Metatextualität). Die Vorlage ist genau bezeichnet: Der Originaltext wird nach der Ausgabe von 1947 zitiert – auf einer Fotografie im Almanach Личное дело №_, auf dem der Dichter mit einem Leninbild posiert, ist im Hin-tergrund eben dieses Buch zu sehen (siehe Abb. 10). Dieses bibliographische Detail ist signifikant, da in späteren Editionen (Kibirov nennt die von 1962) und auch in der Erstausgabe von 1925 an einer Stelle eine Zensurlücke klafft, die der poetische Kommentar markiert.357

Abb. 11 & 12: Cover von Детские и школьные годы Ильича; Ausgaben von 1925 und 1947

Ul’janovas Kindheitserinnerungen gelten als einer der frühsten und zugleich der am wenigsten bearbeiteten und geschönten Leniniana-Texte. Der Historiker Robert Service nutzt sie in seiner Leninbiographie als verhältnismäßig unge-schönte und zuverlässige Quelle zu Lenins Kindheit.358 Zwar werden positive Charakterzüge hervorgehoben, „Volodja“ als Vorbild aufgebaut und manche Reminiszenz erfüllt eindeutig propagandistische Aufgaben, jedoch erfährt man auch Negatives: Der kleine Lenin habe etwa das Kommandieren geliebt und sein Brüderchen grausam zum Weinen gebracht. Kibirovs Zyklus Когда был Ленин

357 Eingesehen wurden in der Moskauer „Lenin-Bibliothek“ Ульянова, А. И.: Детские и школьные годы Ильича. М.: Новая Москва 1925 sowie Ульянова, А. И.: Детские и школьные годы Ильича. М.; Л.: Государственное изд-во детской литературы; Мини-стерство просвещения 1947.

358 Service, Robert: Lenin. Eine Biographie. München: C. H. Beck 2000. 56–74, Anm. 639–

640.

96 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

маленьким fokussiert ebenfalls auf das kritische Potential, das Ul’janovas Erin-nerungen innewohnt. Es interessieren jedoch weniger Charaktermängel oder Widersprüche wie die Zugehörigkeit der Familie zur wohlhabenden Mittel-schicht, sondern Passagen, die Möglichkeiten zur dichterischen Ausgestaltung bieten. Mit den Mitteln der literarischen Fiktion vollzieht Kibirovs Zyklus eine dekonstruktivistische Lektüre: Er arbeitet innere Widersprüche und alternative Bedeutungen heraus, die der Aussageintention der Quelle entgegenlaufen.

Die fünf Gedichte setzen sich jeweils aus einem Quellenauszug und einem Kommentar in gebundener Rede zusammen. Während die Zitate ungefähr gleich lang sind, variieren die Kommentare erheblich (42 bis 7,5 Verse). In der Gliederung der einzelnen Gedichte ist kein symmetrisches Schema zu erkennen;

homogene Strophen von gleicher Länge gibt es – wie in vielen anderen Verstex-ten Kibirovs – nicht. Durch spontane Umbrüche entstehen heterogene Abschnit-te,359 wobei in den einzelnen Druckfassungen unterschiedliche Einteilungen vorliegen.360 Kibirov verzichtet ebenfalls auf Reime, entfernt sich also deutlich von der traditionellen Gedichtform. Zwar sorgt ein Metrum für eine gewisse Homogenität der Verse, mit dem Jambus wurde allerdings das der natürlichen Diktion am nächsten stehende Versmaß gewählt. Enjambements und Pausen im Versinnern verstärken den prosaischen Klang, was gut zur Funktion als poeti-scher Kommentar zu Ul’janovas Vorlage passt.

359 Als ‚Abschnitte‘ werden in vorliegender Arbeit graphisch abgeteilte Passagen eines Vers-textes verstanden, die keinem einheitlichen Baumuster folgen, so dass die Textteile als unähn-lich empfunden werden. Davon zu unterscheiden ist die Strophe im engeren Sinne als „jede nach demselben Schema […] gebaute Sequenz von Versen eines Gedichts“ (so Christian Wa-genknechts Eintrag ‚Strophe‘ im Metzler Lexikon Literatur [3], 737–738. 737). Ähnlich die Defition von Michail Gasparov in Литературная энциклопедия терминов и понятий (строфа, 1041).

360 Die Unterteilung in Abschnitte in den vier wichtigsten Textversionen im Vergleich:

Митин журнал

(1989) Странник

(1992) Buch

(1995) Стихи

(2005) Σ

Verse I 12 – 12,5 – 9 –7,5 – 7 12 – 29 – 7 12 – 29 – 7 12 – 12,5 – 10 – 6,5 – 7 48

II 7,5 7,5 7,5 7,5 7,5

III 6 – 6 – 8 – 3 6 – 6 – 11 6 – 6 – 11 6 – 6 – 11 23

IV 28 (2 Verse fehlen) 28 – 2 30 28 – 2 30

V 11 – 12 – 9 – 10 23 – 19 23 – 19 23 – 9 – 10 42 Zitiert wird im Folgenden nach der separaten Buchausgabe von 1995, da hier von der größten Mitwirkung des Autors ausgegangen werden kann und die graphische Gestaltung automati-sche Umbrüche vermeidet. In der Ausgabe von 2005 finden sich kleinere Abweichungen in Interpunktion, Großschreibung u. ä., evtl. glättende Eingriffe der Vremja-Redaktion.

3.2. Der doppelte Boden der Hagiographie: Когда был Ленин маленьким 97 3.2.3. Spielerische Tabubrüche

In den fünf Zyklusteilen wird die intertextuelle Vorlage auf unterschiedliche Weise kommentiert. Ged. 1 füllt mit blasphemischer Absicht eine (typische) Lü-cke auf, Ged. 2 markiert eine durch Zensur aus den Erinnerungen entfernte Stel-le. In den Teilen 3 und 4 werden im Text beschriebene Szenen symbolisch ausgedeutet. Gedicht 5 setzt gegen eine in Детские и школьные годы Ильича angelegte Kausalitätskette alternative kontrafaktische Spekulationen.

Das erste Gedicht rührt an das Thema Sexualität, das in der Sowjetunion nicht nur in der für Kinder bestimmten, sondern in der gesamten offiziellen Literatur ausgeklammert blieb. Gerade für die Führergestalten galt ein asketisches Ideal.

So wurde die Beziehung zwischen Lenin und Krupskaja auf den gemeinsamen Kampf reduziert,361 und seine Affäre mit Inessa Armand war tabu.362 Das erste Gedicht aus Когда был Ленин маленьким bricht das Sexualitätsverbot in Bezug auf Lenins Eltern. Die trockenen Informationen über Herkunft, Berufstätigkeit und Hobbys aus Ulʼjanovas Vorlage363 werden in Kibirovs Kommentar um die Schilderung der Umstände von Lenins Zeugung ergänzt.

Ul’janova erzählt in der dritten Person und ohne die eigene Position als Schwester im Text hervorzuheben. In Kibirovs Kommentar spricht hingegen ein Ich, dessen voyeuristische Perspektive auf das erzählte Geschehen die Leserin bzw. der Leser einnimmt. Anders als die sachliche Vorlage setzt die Bearbeitung auf Suggestion und Spannung, auf Tempowechsel und Abschweifungen:

Я часто думаю о том, как... Право странно представить это. Но ведь это было!

Ведь иначе бы он не смог родиться!

И, значит, хоть смириться с этим разум никак не может, но для появленья его, для написания «Что делать»

и «Трех источников марксизма», для «Авроры»

для плана ГОЭЛРО, для лунохода, и для атомохода, для всего –

сперматозоид должен был проникнуть (хотя б один!) в детородящий орган

Марии Александровны…[…] [Abschn. 1]

361 Z. B. Velikanova, Olga: Making of an Idol, 152: „According to the myth, she was no more than a comrade and fellow-in-arms. A very typical question for children who were convinced that Lenin loved them immensely was: “Why didn’t Lenin have any children?” Museum workers routinely explained this by that Lenin was very busy with his revolutionary activities.

When the children grew up, this idea was transformed in their subconsciousness into the con-viction of the Leader’s sexual immaculacy. Furthermore, in Memorial Homes the beds of Lenin and Krupskaya always stood separately […].“

362 Service, Robert: Lenin, 29. Details z. B. 266–270.

363 Ульянова, А. И.: Детские и школьные годы Ильича [1947], 3; 4.

96 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

маленьким fokussiert ebenfalls auf das kritische Potential, das Ul’janovas Erin-nerungen innewohnt. Es interessieren jedoch weniger Charaktermängel oder Widersprüche wie die Zugehörigkeit der Familie zur wohlhabenden Mittel-schicht, sondern Passagen, die Möglichkeiten zur dichterischen Ausgestaltung bieten. Mit den Mitteln der literarischen Fiktion vollzieht Kibirovs Zyklus eine dekonstruktivistische Lektüre: Er arbeitet innere Widersprüche und alternative Bedeutungen heraus, die der Aussageintention der Quelle entgegenlaufen.

Die fünf Gedichte setzen sich jeweils aus einem Quellenauszug und einem Kommentar in gebundener Rede zusammen. Während die Zitate ungefähr gleich lang sind, variieren die Kommentare erheblich (42 bis 7,5 Verse). In der Gliederung der einzelnen Gedichte ist kein symmetrisches Schema zu erkennen;

homogene Strophen von gleicher Länge gibt es – wie in vielen anderen Verstex-ten Kibirovs – nicht. Durch spontane Umbrüche entstehen heterogene Abschnit-te,359 wobei in den einzelnen Druckfassungen unterschiedliche Einteilungen vorliegen.360 Kibirov verzichtet ebenfalls auf Reime, entfernt sich also deutlich von der traditionellen Gedichtform. Zwar sorgt ein Metrum für eine gewisse Homogenität der Verse, mit dem Jambus wurde allerdings das der natürlichen Diktion am nächsten stehende Versmaß gewählt. Enjambements und Pausen im Versinnern verstärken den prosaischen Klang, was gut zur Funktion als poeti-scher Kommentar zu Ul’janovas Vorlage passt.

359 Als ‚Abschnitte‘ werden in vorliegender Arbeit graphisch abgeteilte Passagen eines Vers-textes verstanden, die keinem einheitlichen Baumuster folgen, so dass die Textteile als unähn-lich empfunden werden. Davon zu unterscheiden ist die Strophe im engeren Sinne als „jede nach demselben Schema […] gebaute Sequenz von Versen eines Gedichts“ (so Christian Wa-genknechts Eintrag ‚Strophe‘ im Metzler Lexikon Literatur [3], 737–738. 737). Ähnlich die Defition von Michail Gasparov in Литературная энциклопедия терминов и понятий (строфа, 1041).

360 Die Unterteilung in Abschnitte in den vier wichtigsten Textversionen im Vergleich:

Митин журнал

(1989) Странник

(1992) Buch

(1995) Стихи

(2005) Σ

Verse I 12 – 12,5 – 9 –7,5 – 7 12 – 29 – 7 12 – 29 – 7 12 – 12,5 – 10 – 6,5 – 7 48

II 7,5 7,5 7,5 7,5 7,5

III 6 – 6 – 8 – 3 6 – 6 – 11 6 – 6 – 11 6 – 6 – 11 23

IV 28 (2 Verse fehlen) 28 – 2 30 28 – 2 30

V 11 – 12 – 9 – 10 23 – 19 23 – 19 23 – 9 – 10 42 Zitiert wird im Folgenden nach der separaten Buchausgabe von 1995, da hier von der größten Mitwirkung des Autors ausgegangen werden kann und die graphische Gestaltung automati-sche Umbrüche vermeidet. In der Ausgabe von 2005 finden sich kleinere Abweichungen in Interpunktion, Großschreibung u. ä., evtl. glättende Eingriffe der Vremja-Redaktion.

3.2. Der doppelte Boden der Hagiographie: Когда был Ленин маленьким 97 3.2.3. Spielerische Tabubrüche

In den fünf Zyklusteilen wird die intertextuelle Vorlage auf unterschiedliche Weise kommentiert. Ged. 1 füllt mit blasphemischer Absicht eine (typische) Lü-cke auf, Ged. 2 markiert eine durch Zensur aus den Erinnerungen entfernte Stel-le. In den Teilen 3 und 4 werden im Text beschriebene Szenen symbolisch ausgedeutet. Gedicht 5 setzt gegen eine in Детские и школьные годы Ильича angelegte Kausalitätskette alternative kontrafaktische Spekulationen.

Das erste Gedicht rührt an das Thema Sexualität, das in der Sowjetunion nicht nur in der für Kinder bestimmten, sondern in der gesamten offiziellen Literatur ausgeklammert blieb. Gerade für die Führergestalten galt ein asketisches Ideal.

So wurde die Beziehung zwischen Lenin und Krupskaja auf den gemeinsamen Kampf reduziert,361 und seine Affäre mit Inessa Armand war tabu.362 Das erste Gedicht aus Когда был Ленин маленьким bricht das Sexualitätsverbot in Bezug auf Lenins Eltern. Die trockenen Informationen über Herkunft, Berufstätigkeit und Hobbys aus Ulʼjanovas Vorlage363 werden in Kibirovs Kommentar um die Schilderung der Umstände von Lenins Zeugung ergänzt.

Ul’janova erzählt in der dritten Person und ohne die eigene Position als Schwester im Text hervorzuheben. In Kibirovs Kommentar spricht hingegen ein Ich, dessen voyeuristische Perspektive auf das erzählte Geschehen die Leserin bzw. der Leser einnimmt. Anders als die sachliche Vorlage setzt die Bearbeitung auf Suggestion und Spannung, auf Tempowechsel und Abschweifungen:

Я часто думаю о том, как... Право странно представить это. Но ведь это было!

Ведь иначе бы он не смог родиться!

И, значит, хоть смириться с этим разум никак не может, но для появленья его, для написания «Что делать»

и «Трех источников марксизма», для «Авроры»

для плана ГОЭЛРО, для лунохода, и для атомохода, для всего –

сперматозоид должен был проникнуть (хотя б один!) в детородящий орган

Марии Александровны…[…] [Abschn. 1]

361 Z. B. Velikanova, Olga: Making of an Idol, 152: „According to the myth, she was no more than a comrade and fellow-in-arms. A very typical question for children who were convinced that Lenin loved them immensely was: “Why didn’t Lenin have any children?” Museum workers routinely explained this by that Lenin was very busy with his revolutionary activities.

When the children grew up, this idea was transformed in their subconsciousness into the con-viction of the Leader’s sexual immaculacy. Furthermore, in Memorial Homes the beds of Lenin and Krupskaya always stood separately […].“

362 Service, Robert: Lenin, 29. Details z. B. 266–270.

363 Ульянова, А. И.: Детские и школьные годы Ильича [1947], 3; 4.

98 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

Wie man sieht, wird in den ersten Versen das Tabu-Thema umständlich um-kreist, was zusammen mit den syntaktischen Brüchen und Ausrufezeichen den blasphemischen Charakter des Gedankens akzentuiert. Auf die Klimax родиться folgt die Retardation – es werden die großen Leistungen Lenins und der Sowjetunion aufgezählt, die es ohne den ursprünglichen Zeugungsakt nicht gegeben hätte. Die Spannung der auf weitere erotisch-intime Enthüllungen war-tenden Leserschaft wird am Ende des Abschnitts aufgelöst, allerdings enttäu-schen die fachsprachliche Bezeichnung „Spermatozoid“ und der ungelenke Okkasionalismus „Kindergebärorgan“ die voyeuristischen Erwartungen.

Auch die folgende Episode (Abschn. 2) spielt mit der Erwartungshaltung und verzögert bewusst. Der Blick des Sprechers richtet sich zunächst auf den am Schreibtisch sitzenden Vater. Das statische Bild wird durch das Klavierspiel der Mutter durchbrochen, das die Handlung in Gang setzt. Es dauert allerdings fünf Verse, bis der Vater in Richtung Wohnzimmer geht, wobei an der Tür eine wei-tere Retardation folgt. Endlich unterbreitet er seiner Frau das unzweideutige Angebot, ins Bett zu gehen. Die beschriebene Szene liest sich wie ein Liebesro-man: Der verzögernde Wechsel von Statik und Dynamik, stimmungsmalende Adjektiv-Substantiv-Kombinationen („синий сумрак“, „свет уютный“), akusti-sche Suggestionen („перо скребет бумагу“, „мелодия зазвучала“), Gefühlszu-stände beschreibende Nominareihungen (z. B.: „такой безмерной нежностью, такою / небесной, вечной, женственною грустью...“) schaffen eine stereotype romantische Kulisse.

Die Figurenkonstellation folgt Gender-Topoi des 19. Jahrhunderts. Der Vater ist mit einer hohen Stirn („лоб сократовский“) und Verstandeskraft („мозг деятельный“) ausgestattet, den Standardattributen Lenins; er schreibt, was ihn ebenfalls als Denker charakterisiert. Demgegenüber wird die Mutter mit einer erotischen Aura umgeben (über den Vater heißt es: „Невольно / залюбовав-шись стройным и печальным / на фоне окон женским силуэтом“), auch ihr Klavierspiel dient als Metapher für die sinnliche Attraktion. Die Information, dass Lenins Mutter Klavier spielte, stammt aus der Vorlage, die somit ungewollt die Keimzelle des erotischen Sujets liefert. Gerade im Kontrast zu Ul’janovas Darstellung der Eltern als asketisch-strenge Arbeitsmenschen wirkt Kibirovs Schilderung des sich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer schleichenden Il’ja Ni-kolaevič komisch, ebenso das stereotype, euphemistisch unterbreitete Angebot:

– «Мария!» – от нежности охрипшим басом начал инспектор, – «Поздно! Спать пора, Мария!»

И было что-то в голосе его,

что Марья Александровна зарделась.

«Ах, милый, что ты...» – «Машенька, пойдем!

Пойдем, ведь поздно, ну пойдем, Масюся!»... [Abschn. 2]

Durch sich steigernde Diminutive des Namens ‚Marija‘ und stereotypes Erröten wird die sexuelle Spannung erhöht, bevor die Handlung erneut durch die

zyni-3.2. Der doppelte Boden der Hagiographie: Когда был Ленин маленьким 99 sche Bemerkung des Sprechers unterbrochen wird, dass Lenins Mutter wohl fri-gide gewesen sei. Im Anschluss wird wieder temporeich sowie mit weiteren Metaphern („пламень инспекторский“) und Erotiktopoi („обвив / руками нежными и нежными ногами / могучий торс“) auf den Höhepunkt hingesteu-ert. Diminutive Namensformen und expressive Interpunktionszeichen deuten den Orgasmus an: „могучий торс инспектора училищ, / Ильи, Илюшечки, Илюшечки... Илюши!“ In der von Florenskij illustrierten Ausgabe ist dieser Teil des Zyklus übrigens passend mit Ausschnitten aus einem Biologiebuch, Klavierreklame und Präservativ-Werbung bebildert.

Kibirovs Zeugungsepisode bricht das Tabu humorvoll, indem sie die sachli-chen und spärlisachli-chen Fakten der Quelle zu einer Liebesszene ausbaut. Es werden zwei Textsorten – Führerbiographie und Liebesroman – in einer recht unge-wöhnlichen Verbindung kombiniert. Lexikalische Stilbrüche wie сперматозоид, детородный орган, фригидная oder die in die Beischlafszene eingebaute Berufsbezeichnung инспектор училищ, die aus Ul’janova übernommen wurde, sorgen textintern für Irritation und Verfremdung. Die Fiktion des Liebesromans wird fortwährend unterbrochen, so dass die Leserinnen und Leser nie vollends in die erzählte Welt eintauchen. Der Text verfügt über eine metaliterarische Ebene, auf der man den Narrator / Sprecher agieren sieht.

Während sich im ersten Gedicht an das Quellenzitat ein ca. vier Mal längerer Verskommentar anschließt, ist die Bearbeitung im zweiten Gedicht auffällig kurz. Auf die am Anfang stehende Anrede der Leserschaft („Читатель мой!“) folgen sechs Sätze, die einen identischen Inhalt wiedergeben, nämlich, dass der Sprecher sich in Schweigen hüllen möchte. Zur Gestaltung dieses Topos werden verschiedene Strategien angewandt, vom einfachen Konstatieren des Nicht-Wissens und Nicht-Sagens über das Abbrechen des Redeflusses bis hin zu rheto-risch überladenen Paraphrasen:

(1) Я, право, и не знаю, / что тут сказать...

(2) Конечно, можно б было... / (3) Но лучше не пытаться.

(4) Ум евклидов / напрасно тщится размотать клубок / причинно-следственной неумолимой связи. /

(5) Не будем же гадать.

(6) Склонимся молча / пред тайнами великими, пред странной / игрою сил надмирных...

Die eigentlich brisante Information findet sich in der hinter das Quellenzitat ge-setzten Fußnote mit dem Hinweis, dass besagte Episode in der Ausgabe von 1962 fehle (und, wie schon erwähnt, auch in der Erstausgabe von 1925).

Die damit markierte Lakune spricht für sich: Der Abschnitt aus den Kind-heitserinnerungen wurde wegen des als verfänglich eingestuften Inhaltes zen-siert, denn die Schwester beschreibt Lenin als zurückgebliebenes Kleinkind, das immer hinfiel und mit dem Kopf aufschlug. Die zensierte Anekdote endet mit der aus Sicht der 1980er doppelbödigen Zukunftsprognose von Ul’janova: „«И

98 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

Wie man sieht, wird in den ersten Versen das Tabu-Thema umständlich um-kreist, was zusammen mit den syntaktischen Brüchen und Ausrufezeichen den blasphemischen Charakter des Gedankens akzentuiert. Auf die Klimax родиться folgt die Retardation – es werden die großen Leistungen Lenins und der Sowjetunion aufgezählt, die es ohne den ursprünglichen Zeugungsakt nicht gegeben hätte. Die Spannung der auf weitere erotisch-intime Enthüllungen war-tenden Leserschaft wird am Ende des Abschnitts aufgelöst, allerdings enttäu-schen die fachsprachliche Bezeichnung „Spermatozoid“ und der ungelenke Okkasionalismus „Kindergebärorgan“ die voyeuristischen Erwartungen.

Auch die folgende Episode (Abschn. 2) spielt mit der Erwartungshaltung und verzögert bewusst. Der Blick des Sprechers richtet sich zunächst auf den am Schreibtisch sitzenden Vater. Das statische Bild wird durch das Klavierspiel der Mutter durchbrochen, das die Handlung in Gang setzt. Es dauert allerdings fünf Verse, bis der Vater in Richtung Wohnzimmer geht, wobei an der Tür eine wei-tere Retardation folgt. Endlich unterbreitet er seiner Frau das unzweideutige Angebot, ins Bett zu gehen. Die beschriebene Szene liest sich wie ein Liebesro-man: Der verzögernde Wechsel von Statik und Dynamik, stimmungsmalende Adjektiv-Substantiv-Kombinationen („синий сумрак“, „свет уютный“), akusti-sche Suggestionen („перо скребет бумагу“, „мелодия зазвучала“), Gefühlszu-stände beschreibende Nominareihungen (z. B.: „такой безмерной нежностью, такою / небесной, вечной, женственною грустью...“) schaffen eine stereotype romantische Kulisse.

Die Figurenkonstellation folgt Gender-Topoi des 19. Jahrhunderts. Der Vater ist mit einer hohen Stirn („лоб сократовский“) und Verstandeskraft („мозг

Die Figurenkonstellation folgt Gender-Topoi des 19. Jahrhunderts. Der Vater ist mit einer hohen Stirn („лоб сократовский“) und Verstandeskraft („мозг

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