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Emotive Perspektivierung und lyrische Katharsis

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4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN 420

4.1. AUSWEGE AUS DER SOWJETISCHEN GEGENWART:

4.1.4. Emotive Perspektivierung und lyrische Katharsis

Entscheidend für die Wahrnehmung der vier Weihnachtsallegorien ist die Art und Weise, wie das Geschehen geschildert und textintern bewertet wird.

Zentral sind die in den Gedichten realisierten Erzählperspektiven, die das Verhältnis zu den Figuren gestalten. Es handelt sich nicht um prototypische

„lyrische“ Gedichte, die in der 1. Person Singular über die Erlebnisse, Ge-danken, Empfindungen „des Dichters selbst“ erzählen. In den Allegorien wird über andere gesprochen bzw. es werden andere angesprochen. Dennoch gibt es einen expliziten Sprecher bzw. Erzähler, der in der 1. Person Singular spricht und dessen Stimme je nach Text mehr oder weniger häufig präsent ist. Das Wesen dieser Instanz und die Art und Weise des Erzählens lassen sich am besten mit Hilfe von Kategorien aus dem Bereich der Erzähltextana-lyse beschreiben, die auch für die Beschreibung von Gedichten funktional sind.

Mit Wolf Schmids grundlegender und insbesondere in der Slavistik ein-flussreicher Arbeit zur Erzählforschung lässt sich grundsätzlich zwischen diegetischem und nicht-diegetischem Erzähler unterscheiden.450 Diese Alter-nativen lassen sich durch die Kombination mit dem Merkmalpaar narratori-ale vs. figurale Perspektive verfeinern. ‚Narratorial‘ bezeichnet die Erzählung aus der Perspektive des Erzählers, ‚figural‘ aus der Perspektive einer Figur. So kann ein über sich erzählender, diegetischer Erzähler die be-schränkte Perspektive seines früheren Ich einnehmen (diegetisch + figural) oder kommentierend aus der Erzählgegenwart zurückblicken (diegetisch + narratorial). Ein am Geschehen unbeteiligter Narrator kann aus der Perspek-tive einer Figur erzählen und diese als „Reflektor“ nutzen (nicht-diegetisch + figural), oder den eigenen Blick auf das Beobachtete darstellen (nicht-diegetisch + narratorial).451

In Kibirovs erster Weihnachtsallegorie mischen sich die verschiedenen Mög-lichkeiten. In den ersten beiden Strophen ist die Perspektive unmarkiert, man nimmt daher ein nicht-diegetisches narratoriales Erzählen an. Allerdings finden

450 Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. 2., verb. Aufl. Berlin; New York: Walter de Gruyter 2008. 86–100. Der griechische Begriff Diegesis bezeichnet die erzählte Welt. Ein diegetischer Erzähler ist / war Teil des erzählten Geschehens, er berichtet auch über sich selbst (bzw. sein früheres Ich), während der nicht-diegetische Erzähler über andere schreibt.

Der diegetische Erzähler zerfällt noch einmal in die Instanzen erzählendes und erzähltes Ich.

Schmid geht davon aus, dass auch beim Erzählen aus nicht-diegetischer Perspektive immer ein Erzähler vorhanden ist, der sich allerdings nicht immer explizit äußere – einen wirklich neutralen Text gebe es nicht.

451 Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie, 137–139.

4.1. Auswege aus der sowjetischen Gegenwart: Рождественские аллегории 139 sich in Str. 3 Passagen, die wie wörtliche Rede der Figur wirken (hier kursiv hervorgehoben):

В шесть часов ее гости придут. И, небось, Николай уже будет готовый.

Дед Мороз, Дед Мороз, ничего не сбылось, Почему все так вышло херово?

Da im zitierten Abschnitt Anführungszeichen fehlen, die Aussagen grammatisch weder einem Subjekt in der 1. noch der 3. Person zugeordnet sind und als Er-zählzeit das Präsens steht, oszilliert der Text zwischen den prototypischen Klas-sifikationen als direkte, indirekte oder erlebte Rede. Auch in den Str. 4, 5, 6, 7 handelt es sich um eine Wiedergabe von Gedanken, bei denen unklar ist, ob die Figur spricht oder der nicht-diegetische Erzähler das Gesprochene wiedergibt.

In Str. 8–10 kommt es zu einer Veränderung. Während in Str. 1–7 ausschließ-lich Pronomina der 3. Person standen, tauchen hier das Pronomen „du“ und ent-sprechende Verbformen auf. Der Kontext signalisiert, dass die Protagonistin angesprochen wird (Kursive von mir; M. R.):

Но не будет подарков тебе никаких, морда пьяная, рыло дурное! На погосте маманя, на нарах жених, вены вздулись под старым капроном.

Что ж, сучара, ты ждешь, что, блядища, глядишь, улыбаешься, дура такая?

Ну-ка, выкуси шиш, отвяжись, отвяжись, не дыши на меня, умоляю!..

Так зачем же ты ждешь и помыла полы и, нарезав снежинки искусно

(как прекрасны они, как чисты и белы),

на окошко наклеила густо. [Str. 8–10]

Welche Erzählperspektive hier vorliegt und wer hier eigentlich spricht (in Str. 9, V. 4 findet sich auch „ich“) ist schwierig zu entscheiden. Es könnte die Stimme des Erzählers (narratorial) sein, der seine Figur anredet, oder es könnte sich um eine Art inneren Dialog der Figur handeln (figural). Die abwertenden, teilweise jargonalen Bezeichnungen („морда пьяная, рыло дурное“, сучара, блядища,

„дура такая“) passen dabei eher zu der Figurensprache, da der Sprecher keinen Grund für derartige verbale Ausfälle hat. Es ist offenbar die Protagonistin selbst, die sich hier quasi einen Spiegel vorhält und die eigene Hässlichkeit und Aus-weglosigkeit erkennt. Die figurale Perspektive ist insgesamt wahrscheinlicher, obwohl sich beide Möglichkeiten überlagern.

Allegorie 1 beschreibt also aus tendenziell figuraler Perspektive die schmerz-hafte Selbsterkenntnis der Protagonistin. In dem in Kapitel 3 erwähnten Schema Solov’evs ist sie nicht zu den komischen, sondern zu den tragischen Helden zu zählen, da sie die problematische Realität erkennt und empfindet. So kippt schon

138 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

4.1.4. Emotive Perspektivierung und lyrische Katharsis

Entscheidend für die Wahrnehmung der vier Weihnachtsallegorien ist die Art und Weise, wie das Geschehen geschildert und textintern bewertet wird.

Zentral sind die in den Gedichten realisierten Erzählperspektiven, die das Verhältnis zu den Figuren gestalten. Es handelt sich nicht um prototypische

„lyrische“ Gedichte, die in der 1. Person Singular über die Erlebnisse, Ge-danken, Empfindungen „des Dichters selbst“ erzählen. In den Allegorien wird über andere gesprochen bzw. es werden andere angesprochen. Dennoch gibt es einen expliziten Sprecher bzw. Erzähler, der in der 1. Person Singular spricht und dessen Stimme je nach Text mehr oder weniger häufig präsent ist. Das Wesen dieser Instanz und die Art und Weise des Erzählens lassen sich am besten mit Hilfe von Kategorien aus dem Bereich der Erzähltextana-lyse beschreiben, die auch für die Beschreibung von Gedichten funktional sind.

Mit Wolf Schmids grundlegender und insbesondere in der Slavistik ein-flussreicher Arbeit zur Erzählforschung lässt sich grundsätzlich zwischen diegetischem und nicht-diegetischem Erzähler unterscheiden.450 Diese Alter-nativen lassen sich durch die Kombination mit dem Merkmalpaar narratori-ale vs. figurale Perspektive verfeinern. ‚Narratorial‘ bezeichnet die Erzählung aus der Perspektive des Erzählers, ‚figural‘ aus der Perspektive einer Figur. So kann ein über sich erzählender, diegetischer Erzähler die be-schränkte Perspektive seines früheren Ich einnehmen (diegetisch + figural) oder kommentierend aus der Erzählgegenwart zurückblicken (diegetisch + narratorial). Ein am Geschehen unbeteiligter Narrator kann aus der Perspek-tive einer Figur erzählen und diese als „Reflektor“ nutzen (nicht-diegetisch + figural), oder den eigenen Blick auf das Beobachtete darstellen (nicht-diegetisch + narratorial).451

In Kibirovs erster Weihnachtsallegorie mischen sich die verschiedenen Mög-lichkeiten. In den ersten beiden Strophen ist die Perspektive unmarkiert, man nimmt daher ein nicht-diegetisches narratoriales Erzählen an. Allerdings finden

450 Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. 2., verb. Aufl. Berlin; New York: Walter de Gruyter 2008. 86–100. Der griechische Begriff Diegesis bezeichnet die erzählte Welt. Ein diegetischer Erzähler ist / war Teil des erzählten Geschehens, er berichtet auch über sich selbst (bzw. sein früheres Ich), während der nicht-diegetische Erzähler über andere schreibt.

Der diegetische Erzähler zerfällt noch einmal in die Instanzen erzählendes und erzähltes Ich.

Schmid geht davon aus, dass auch beim Erzählen aus nicht-diegetischer Perspektive immer ein Erzähler vorhanden ist, der sich allerdings nicht immer explizit äußere – einen wirklich neutralen Text gebe es nicht.

451 Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie, 137–139.

4.1. Auswege aus der sowjetischen Gegenwart: Рождественские аллегории 139 sich in Str. 3 Passagen, die wie wörtliche Rede der Figur wirken (hier kursiv hervorgehoben):

В шесть часов ее гости придут. И, небось, Николай уже будет готовый.

Дед Мороз, Дед Мороз, ничего не сбылось, Почему все так вышло херово?

Da im zitierten Abschnitt Anführungszeichen fehlen, die Aussagen grammatisch weder einem Subjekt in der 1. noch der 3. Person zugeordnet sind und als Er-zählzeit das Präsens steht, oszilliert der Text zwischen den prototypischen Klas-sifikationen als direkte, indirekte oder erlebte Rede. Auch in den Str. 4, 5, 6, 7 handelt es sich um eine Wiedergabe von Gedanken, bei denen unklar ist, ob die Figur spricht oder der nicht-diegetische Erzähler das Gesprochene wiedergibt.

In Str. 8–10 kommt es zu einer Veränderung. Während in Str. 1–7 ausschließ-lich Pronomina der 3. Person standen, tauchen hier das Pronomen „du“ und ent-sprechende Verbformen auf. Der Kontext signalisiert, dass die Protagonistin angesprochen wird (Kursive von mir; M. R.):

Но не будет подарков тебе никаких, морда пьяная, рыло дурное!

На погосте маманя, на нарах жених, вены вздулись под старым капроном.

Что ж, сучара, ты ждешь, что, блядища, глядишь, улыбаешься, дура такая?

Ну-ка, выкуси шиш, отвяжись, отвяжись, не дыши на меня, умоляю!..

Так зачем же ты ждешь и помыла полы и, нарезав снежинки искусно

(как прекрасны они, как чисты и белы),

на окошко наклеила густо. [Str. 8–10]

Welche Erzählperspektive hier vorliegt und wer hier eigentlich spricht (in Str. 9, V. 4 findet sich auch „ich“) ist schwierig zu entscheiden. Es könnte die Stimme des Erzählers (narratorial) sein, der seine Figur anredet, oder es könnte sich um eine Art inneren Dialog der Figur handeln (figural). Die abwertenden, teilweise jargonalen Bezeichnungen („морда пьяная, рыло дурное“, сучара, блядища,

„дура такая“) passen dabei eher zu der Figurensprache, da der Sprecher keinen Grund für derartige verbale Ausfälle hat. Es ist offenbar die Protagonistin selbst, die sich hier quasi einen Spiegel vorhält und die eigene Hässlichkeit und Aus-weglosigkeit erkennt. Die figurale Perspektive ist insgesamt wahrscheinlicher, obwohl sich beide Möglichkeiten überlagern.

Allegorie 1 beschreibt also aus tendenziell figuraler Perspektive die schmerz-hafte Selbsterkenntnis der Protagonistin. In dem in Kapitel 3 erwähnten Schema Solov’evs ist sie nicht zu den komischen, sondern zu den tragischen Helden zu zählen, da sie die problematische Realität erkennt und empfindet. So kippt schon

140 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

in Str. 2 ihre Feiertagsfreude in Traurigkeit um: „Улыбалась, потом прослези-лась.“ Gegenüber der, objektiv betrachtet, unsympathischen „Schlampe“ neh-men die Leserin und der Leser daher eine mitfühlende Haltung ein. Durch die emotionale Reaktion verringert sich die Distanz zur erzählten Welt, anders als in den parodistischen Texten, die in Kapitel 3 untersucht wurden.

Allegorie 2 ist eindeutig in figuraler Perspektive gehalten (ein Signal ist die Figurenrede in Str. 2: „Ой, как стыдно, ребята, как стыдно!“). Unter die be-schreibenden Beobachtungen, mit denen der Text beginnt, mischen sich die Ge-danken des Protagonisten (die wörtliche Rede steht wie in allen Allegorien ohne Anführungszeichen), Fragmente aus dem Wortwechsel mit den Jugendlichen (Str. 5–7), eine Art Moralpredigt (Str. 9) sowie abschließend ein wertendes Re-sümee. Anders als in Allegorie 1 richtet sich die Frustration der Figur aggressiv nach außen, der ältere Herr droht mit der Polizei und bricht nicht etwa in Tränen aus. Die düstere Zukunftsprognose in Str. 9 berührt daher kaum, was durch den wenig emotionalen Ausklang in Str. 10 verstärkt wird, die mit Kritik an eng-lischsprachiger Popmusik endet. Gegenüber dem Protagonisten von Allegorie 2 nimmt der Leser bzw. die Leserin eine gleichgültigere und vielleicht sogar kriti-sche Haltung ein. Im selbsterklärten Lied-Schreiber, der offizielle sowjetikriti-sche Gegenwartsliteratur propagiert, lässt sich sogar ein Vertreter des von Kibirov ungeliebten sowjetischen Kulturbetriebs erkennen (vgl. Kap. 3.3.5), in den re-bellierenden Jugendlichen begegnet man vielleicht unreifen alteri ego des Untergrund-Dichters.

Allegorie 3 ähnelt hinsichtlich der unscharfen Erzählperspektive (narratorial?

figural?) auf den ersten Blick Allegorie 1, auch hier richtet sich ab Str. 3 eine Stimme unbekannter Provenienz an den in der 2. Person Singular angeredeten Protagonisten. Zu Anfang scheint die Figur ebenfalls mit sich selbst zu reden:

Ну, давай, символически чисто, плесни, помяни День Победы народной и Верховного рюмкой второй помяни.

Ну и хватит тебе на сегодня… [Str. 3]

Allerdings irritiert, dass später Vorwürfe laut werden, die sich zu Anklagen ver-dichten, bevor am Ende eine tröstende Position eingenommen wird:

Ах, ты глупый старпер! Ты чего учинил?

Ты совсем, что ли, батя, свихнулся?

Ты о ком пожалел? За кого это пил?

И на что это ты замахнулся?!

Вот такие, такие, такие, как ты, Мандельштама и... Что же ты плачешь?

Что ж ты плачешь, отец? Ну забудь, ну прости...

Что ж ты воешь с тоскою собачьей?

Посмотри же вокруг – все сбылось, все сбылось – мир, и счастье, и дом, и медали!

4.1. Auswege aus der sowjetischen Gegenwart: Рождественские аллегории 141 Ты для этого жил и служил – не тужил…

Успокойся, ты сделал немало… [Str. 7–9]

Dass der Senior sich in einem Selbstgespräch (Inneren Monolog) für die Ver-brechen des Systems verantwortlich machen und gerade Mandelʼštam als Bei-spiel wählen würde, erscheint unwahrscheinlich. Seine Wut würde sich eher gegen die aktuelle Regierung richten. Auch wären die Tröstung am Ende und die Anrede als „Vater“ kaum zu erklären. Plausibler ist die Lesart als Stimme des Erzählers / Sprechers, der sich in einem stummen Dialog an die Figur richtet und quasi in das Geschehen eingreifen will.

Somit überwiegt in der dritten Allegorie die narratoriale Erzählperspektive, der Sprecher beschreibt und kommentiert die Handlungen der Figur. Aus figura-ler Sicht wäre nur die Selbst-Kritik der Figur, die ein Stalin-Bild an der Wand hängen hat, oder aber die Legitimation des Zorns auf die aktuellen politischen Entwicklungen möglich. Der narratoriale Standpunkt erlaubt es hingegen, zuerst hart zu kritisieren und danach angesichts der Tränen zu trösten. Tatsächlich schließt das Gedicht in Str. 10 mit mitfühlenden Worten:

Но сидит он и плачет. А Сталин глядит.

Задом вертит Леонтьев с экрана...

Значит, жалость и стыд, значит, жалость и стыд, Только жалость да стыд полупьяный.

Was Allegorie 4 angeht, wäre gegenüber der Lehrerin, die als überzeugte Kommunistin geschildert wird, ähnlich wie im Fall des Dichters aus Allegorie 2, eine distanziert-kritische Haltung plausibel. Ihr gegenüber wird allerdings sehr große Sympathie geäußert. Vermittelt wird diese Wertung durch narratoriale Passagen, wobei die Stimme des in der 1. Person Singular Sprechenden hier deutlicher als in Allegorie 1 und 3 aus dem Geschehen heraustritt und die Inter-pretation als innere Figurenstimme ausgeschlossen ist. Die Protagonistin wird schon in Str. 1 direkt angesprochen und – im Unterschied zu den anderen Figu-ren – mit Namen genannt: „наша Юля“, „Как правильно. Юля?“ Die positive Beziehung der Erzählerinstanz zu der Figur manifestiert sich weiterhin in zahl-reichen Diminutivformen (Str. 2: „Юля, Юленька, Юля Петровна“; Str.6:

дурочка, монашка, солнышко), die sich von den jargonalen Anreden in Alle-gorie 1 (блядища) und 3 (старпер, батя) abheben. In den narratorialen Versen, in denen das Ich sich bald einmischt (Str. 1–2, 6, 8–9), bald hinter die reine Beschreibung zurücktritt, findet sich aber zumindest ein eindeutig figuraler Ein-schub (Str. 5, insbesondere „И глумятся, несчастные панки“.) Dessen unge-achtet lässt sich sagen, dass die Auseinandersetzung mit der Lehrerin Julija Petrovna persönlicher und die Beziehung zur ihr enger ist, als bei den anderen Protagonisten. Der Sprecher versucht, mit ihr zu kommunizieren (allerdings bleibt die Figur stumm). In Str. 9 und 10 und dem epilogartigen Nachtrag in Str.11 und 12 zeigt sich sein Wunsch, der Protagonistin zu helfen und sie zur christlichen Heilsbotschaft zu führen. Dieses Bemühen scheint auch darauf

140 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

in Str. 2 ihre Feiertagsfreude in Traurigkeit um: „Улыбалась, потом прослези-лась.“ Gegenüber der, objektiv betrachtet, unsympathischen „Schlampe“ neh-men die Leserin und der Leser daher eine mitfühlende Haltung ein. Durch die emotionale Reaktion verringert sich die Distanz zur erzählten Welt, anders als in den parodistischen Texten, die in Kapitel 3 untersucht wurden.

Allegorie 2 ist eindeutig in figuraler Perspektive gehalten (ein Signal ist die Figurenrede in Str. 2: „Ой, как стыдно, ребята, как стыдно!“). Unter die be-schreibenden Beobachtungen, mit denen der Text beginnt, mischen sich die Ge-danken des Protagonisten (die wörtliche Rede steht wie in allen Allegorien ohne Anführungszeichen), Fragmente aus dem Wortwechsel mit den Jugendlichen (Str. 5–7), eine Art Moralpredigt (Str. 9) sowie abschließend ein wertendes Re-sümee. Anders als in Allegorie 1 richtet sich die Frustration der Figur aggressiv nach außen, der ältere Herr droht mit der Polizei und bricht nicht etwa in Tränen aus. Die düstere Zukunftsprognose in Str. 9 berührt daher kaum, was durch den wenig emotionalen Ausklang in Str. 10 verstärkt wird, die mit Kritik an eng-lischsprachiger Popmusik endet. Gegenüber dem Protagonisten von Allegorie 2 nimmt der Leser bzw. die Leserin eine gleichgültigere und vielleicht sogar kriti-sche Haltung ein. Im selbsterklärten Lied-Schreiber, der offizielle sowjetikriti-sche Gegenwartsliteratur propagiert, lässt sich sogar ein Vertreter des von Kibirov ungeliebten sowjetischen Kulturbetriebs erkennen (vgl. Kap. 3.3.5), in den re-bellierenden Jugendlichen begegnet man vielleicht unreifen alteri ego des Untergrund-Dichters.

Allegorie 3 ähnelt hinsichtlich der unscharfen Erzählperspektive (narratorial?

figural?) auf den ersten Blick Allegorie 1, auch hier richtet sich ab Str. 3 eine Stimme unbekannter Provenienz an den in der 2. Person Singular angeredeten Protagonisten. Zu Anfang scheint die Figur ebenfalls mit sich selbst zu reden:

Ну, давай, символически чисто, плесни, помяни День Победы народной и Верховного рюмкой второй помяни.

Ну и хватит тебе на сегодня… [Str. 3]

Allerdings irritiert, dass später Vorwürfe laut werden, die sich zu Anklagen ver-dichten, bevor am Ende eine tröstende Position eingenommen wird:

Ах, ты глупый старпер! Ты чего учинил?

Ты совсем, что ли, батя, свихнулся?

Ты о ком пожалел? За кого это пил?

И на что это ты замахнулся?!

Вот такие, такие, такие, как ты, Мандельштама и... Что же ты плачешь?

Что ж ты плачешь, отец? Ну забудь, ну прости...

Что ж ты воешь с тоскою собачьей?

Посмотри же вокруг – все сбылось, все сбылось – мир, и счастье, и дом, и медали!

4.1. Auswege aus der sowjetischen Gegenwart: Рождественские аллегории 141 Ты для этого жил и служил – не тужил…

Успокойся, ты сделал немало… [Str. 7–9]

Dass der Senior sich in einem Selbstgespräch (Inneren Monolog) für die Ver-brechen des Systems verantwortlich machen und gerade Mandelʼštam als Bei-spiel wählen würde, erscheint unwahrscheinlich. Seine Wut würde sich eher gegen die aktuelle Regierung richten. Auch wären die Tröstung am Ende und die Anrede als „Vater“ kaum zu erklären. Plausibler ist die Lesart als Stimme des Erzählers / Sprechers, der sich in einem stummen Dialog an die Figur richtet und quasi in das Geschehen eingreifen will.

Somit überwiegt in der dritten Allegorie die narratoriale Erzählperspektive, der Sprecher beschreibt und kommentiert die Handlungen der Figur. Aus figura-ler Sicht wäre nur die Selbst-Kritik der Figur, die ein Stalin-Bild an der Wand hängen hat, oder aber die Legitimation des Zorns auf die aktuellen politischen Entwicklungen möglich. Der narratoriale Standpunkt erlaubt es hingegen, zuerst hart zu kritisieren und danach angesichts der Tränen zu trösten. Tatsächlich schließt das Gedicht in Str. 10 mit mitfühlenden Worten:

Но сидит он и плачет. А Сталин глядит.

Задом вертит Леонтьев с экрана...

Значит, жалость и стыд, значит, жалость и стыд, Только жалость да стыд полупьяный.

Was Allegorie 4 angeht, wäre gegenüber der Lehrerin, die als überzeugte Kommunistin geschildert wird, ähnlich wie im Fall des Dichters aus Allegorie 2, eine distanziert-kritische Haltung plausibel. Ihr gegenüber wird allerdings sehr große Sympathie geäußert. Vermittelt wird diese Wertung durch narratoriale Passagen, wobei die Stimme des in der 1. Person Singular Sprechenden hier deutlicher als in Allegorie 1 und 3 aus dem Geschehen heraustritt und die Inter-pretation als innere Figurenstimme ausgeschlossen ist. Die Protagonistin wird schon in Str. 1 direkt angesprochen und – im Unterschied zu den anderen Figu-ren – mit Namen genannt: „наша Юля“, „Как правильно. Юля?“ Die positive Beziehung der Erzählerinstanz zu der Figur manifestiert sich weiterhin in zahl-reichen Diminutivformen (Str. 2: „Юля, Юленька, Юля Петровна“; Str.6:

дурочка, монашка, солнышко), die sich von den jargonalen Anreden in Alle-gorie 1 (блядища) und 3 (старпер, батя) abheben. In den narratorialen Versen, in denen das Ich sich bald einmischt (Str. 1–2, 6, 8–9), bald hinter die reine Beschreibung zurücktritt, findet sich aber zumindest ein eindeutig figuraler Ein-schub (Str. 5, insbesondere „И глумятся, несчастные панки“.) Dessen unge-achtet lässt sich sagen, dass die Auseinandersetzung mit der Lehrerin Julija Petrovna persönlicher und die Beziehung zur ihr enger ist, als bei den anderen Protagonisten. Der Sprecher versucht, mit ihr zu kommunizieren (allerdings bleibt die Figur stumm). In Str. 9 und 10 und dem epilogartigen Nachtrag in Str.11 und 12 zeigt sich sein Wunsch, der Protagonistin zu helfen und sie zur christlichen Heilsbotschaft zu führen. Dieses Bemühen scheint auch darauf

142 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

gerichtet zu sein, in die Erzählwelt hineinzutreten und zur handelnden Figur zu werden, d. h. sich zum diegetischen Erzähler zu wandeln.

Einen für das gesamte Kapitel zu den „Perestrojka-Perspektiven“ wichtigen Moment stellt die Formel „жалость и стыд“ (‘Jammer/Mitleid und Schamʼ) dar, die ein erstes Mal in Allegorie 3 auftaucht und in Allegorie 4 wiederholt wird.

Значит, жалость и стыд, значит, жалость и стыд,

Только жалость да стыд полупьяный. [III, 10]

Только жалость и стыд. Ничего, ничего

не придумаешь. Господи Боже! [IV, 10]452

Diese Wendung lässt sich als eine Art lyrische Abwandlung der aristotelischen Katharsis-Formel (Eleos und Phobos – ‘Mitleidʼ und ‘Furchtʼ453) deuten. Es sol-len Mitleid und Scham empfunden werden – wohl von der Leserin bzw. dem Leser, wobei das Schämen v. a. die zeitgenössischen Rezipienten betrifft, die in den Fallbeispielen sich selbst bzw. die eigene Gesellschaft wiedererkennen.454 Bedenkt man, dass in den Str. 11 und 12 ein christlicher Ausweg entworfen wird, scheint es, als ob die Gefühle die Rezipientinnen und Rezipienten von die-ser Zukunftsperspektive überzeugen sollen. Eine ähnliche Vorstellung von einer emotionalen Aktivierung der Leserschaft als Katalysator für eine positive Ent-wicklung wird im nächsten Text wiederkehren, allerdings angewandt auf die Verarbeitung der sowjetischen Geschichte. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass die Bekehrung in den Рождественские аллегории nicht abgeschlossen, sondern nur suggeriert wird. Ob die christliche Alternative nicht nur bei dem zitierten Vorbild Raskol’nikov, sondern auch bei Protagonistin 4 wirklich grei-fen wird, hält der Text ofgrei-fen.

452 In Allegorie IV, Str. 8 findet sich eine weitere Variation: „Усталость и жалость“.

453 Das Thema Katharsis geriet in den Blick durch Позднев, Михаил: Психология искусства. Учение Аристотеля. М.; СПб.: Русский фонд содействия образованию и науке 2010.

454 Vgl. Багрецов, Д. Н.: Духовный реализм и творческая индивидуальность, 368:

„именно эти чувства испытывает поэт при взгляде на своих сограждан, а именно в них, как и в обращении к библейским ценностям, видит выход из духовного тупика.“

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 143

4.2. KATHARTISCHE RETROSPEKTIVE: СКВОЗЬ ПРОЩАЛЬНЫЕ

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