• Keine Ergebnisse gefunden

Das Narrativ ‚Tragödie‘

Im Dokument 33 3 (Seite 164-168)

4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN 420

4.2. KATHARTISCHE RETROSPEKTIVE: СКВОЗЬ ПРОЩАЛЬНЫЕ СЛЕЗЫ

4.2.3. Das Narrativ ‚Tragödie‘

469 Ахматова, Анна: Сочинения. В 2 т. М.: Огонек; Правда 1990. Т. 1. 204.

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 149 nam verabschiedet wird.470 Diese Deutung passt insbesondere für den abschlie-ßenden Epilog von Сквозь прощальные слезы, der einer Fürbitte ähnelt („Господь, благослови мою Россию, / Спаси и сохрани мою Россию“, Str.

1). Skoropanova sieht im Motto eine eindeutig negative Retrospektive angelegt:

Man müsse den verhassten Leichnam endgültig begraben, um einer Ansteckung vorzubeugen.471 Allerdings passt dies nicht schlüssig zu der bei Achmatova po-sitiv bewerteten europäischen Zivilisation, der nachgetrauert wird. Will man die ursprüngliche Bedeutung des Prätextes nicht ausblenden, muss es sich bei Сквозь прощальные слезы um einen Nekrolog handelt, der eine gewisse Empa-thie voraussetzt und das Vergangene nicht nur beseitigen will. Berücksichtigt man, was Balla über die Haltung der Intelligenz zum Sowjetischen geschrieben hat (siehe S. 144), war dies 1987 ein ungewöhnlicher Ansatz.

4.2.3. Das Narrativ ‚Tragödie‘

Ein weiteres zentrales Moment, das die Gesamtinterpretation bestimmt, ergibt sich aus der Einteilung des Textes und der hiermit verbundenen Referenz auf eine spezifische Literaturgattung. Сквозь прощальные слезы besteht aus insge-samt acht Komponenten. Auf Einleitung bzw. „Eingang“ (Вступление) folgen fünf historische Kapitel und ein zwischen Kap. IV und V eingeschaltetes Zwi-schenspiel (Лирическая интермедия). Der Text schließt mit einem Epilog (Эпилог). Die fünf „Kapitel“ sind formal und inhaltlich ähnlich und zeichnen jeweils ein Epochenbild; die übrigen drei Teile unterscheiden sich sowohl von den Kapiteln als auch untereinander. Sie verleihen dem Text einen irritierend heterogenen Charakter, da ein gemeinsames Prinzip auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist. Jedoch lassen sich alle acht Teile als Komponenten einer Tra-gödie einordnen – dass im Text keine explizite Genrezuordnung erfolgt, mag der Grund gewesen sein, weswegen dieser Aspekt bislang übersehen wurde.

Naheliegend ist die Gleichsetzung der fünf historischen Kapitel (Kapitel I – Revolution und Bürgerkrieg; Kapitel II – Stalinzeit; Kapitel III – „Großer Vater-ländischer Krieg“; Kapitel IV – Tauwetter; Kapitel V – Stagnation) mit den klassischen fünf Akten. Aber auch die heterogenen Teile sind als Funktionsele-mente von Tragödien belegt. Prolog und Epilog finden sich laut Sekundärlitera-tur in Dramen häufig.472 Sie rahmen die eigentliche Handlung und werden in Abgrenzung vom eigentlichen Geschehen vorgetragen. Der Prolog stellt

470 Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 73. Sie bringt den erwähnten Psalm in Verbindung mit der in der russisch-orthodoxen Kirche zelebrierten Abschiedssegnung des Leichnams (отпевание), wodurch Lied-Zitate und Begräbnis-Thematik zusammengeführt werden.

471 Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 361.

472 Die nachfolgenden Erläuterungen folgen den Einträgen Prolog (Irmgard Ackermann) und Epilog (Thorsten Hoffmann) in: Metzler Lexikon Literatur [3], 611–612 sowie 195–196.

148 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

Dabei ist Nabokov wohl nicht nur als Meister der intertextuellen und ironischen Prosa relevant, sondern auch als einer der Väter der (russischen) Postmoderne, denn bei Kibirov findet sich, anders als bei Nekrasov, kein ungebrochenes Pathos, sondern auch spielerische Ironie.

Ein weiterer interpretativer Zugriff liegt im Gesamtmotto von Сквозь про-щальные слезы vor. Zitiert werden 8 von insgesamt 16 Versen aus Anna Ach-matovas Gedicht Август 1940 aus ihrem Zyklus В сороковом году. Der Text entstand, als Kontinentaleuropa den Hitler’schen Blitzkriegen erlegen war.

Когда погребают эпоху, Надгробный псалом не звучит, Крапиве, чертополоху

Украсить ее предстоит.

И только могильщики лихо Работают. Дело не ждет!

И тихо, так, Господи, тихо, Что слышно как время идет.

А после она выплывает, Как труп на весенней реке, – Но матери сын не узнает, И внук отвернется в тоске.

И клонятся головы ниже, Как маятник, ходит луна.

Так вот – над погибшим Парижем Такая теперь тишина.469

Achmatova spricht vom Begräbnis einer Epoche und meint den Untergang der europäischen Zivilisation – im Gedicht konkret auf den Fall von Paris bezogen.

Das Grab und die Beisetzung sind wenig angemessen. Wenn sich im zweiten Teil des Gedichts eine Rückkehr abzeichnet, so nicht in Form einer Wiederher-stellung des Zerstörten, denn die alte Welt kehrt als verwesende Leiche zurück.

Von der lebendigen europäischen Zivilisation bleibt nur ein totes Abbild, auf das die Nachkommen mit Nichterkennen und Gleichgültigkeit reagieren werden („Но матери сын не узнает, / И внук отвернется в тоске“). In Kibirovs auf acht Verse gekürztem Motto (im Zitat oben fett) wird der Weltkriegskontext herausgenommen und ein allgemeinerer Bedeutungshorizont geschaffen, so dass die Sowjet-Ära beerdigt bzw. aus ihrem Grab geschwemmt werden kann.

Dieser intertextuelle Hintergrund bestimmt die Funktion von Сквозь про-щальные слезы als eine Art Leichenrede, die eine angemessene Grablegung der Sowjetvergangenheit leistet. Vielleicht füllt der Text, wie Nurmuchamedova meint, auch die Lakune im Begräbnisritus, die im Motto vermerkt wird („Надгробный псалом не звучит“) und fungiert als Gebet, mit dem der

469 Ахматова, Анна: Сочинения. В 2 т. М.: Огонек; Правда 1990. Т. 1. 204.

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 149 nam verabschiedet wird.470 Diese Deutung passt insbesondere für den abschlie-ßenden Epilog von Сквозь прощальные слезы, der einer Fürbitte ähnelt („Господь, благослови мою Россию, / Спаси и сохрани мою Россию“, Str.

1). Skoropanova sieht im Motto eine eindeutig negative Retrospektive angelegt:

Man müsse den verhassten Leichnam endgültig begraben, um einer Ansteckung vorzubeugen.471 Allerdings passt dies nicht schlüssig zu der bei Achmatova po-sitiv bewerteten europäischen Zivilisation, der nachgetrauert wird. Will man die ursprüngliche Bedeutung des Prätextes nicht ausblenden, muss es sich bei Сквозь прощальные слезы um einen Nekrolog handelt, der eine gewisse Empa-thie voraussetzt und das Vergangene nicht nur beseitigen will. Berücksichtigt man, was Balla über die Haltung der Intelligenz zum Sowjetischen geschrieben hat (siehe S. 144), war dies 1987 ein ungewöhnlicher Ansatz.

4.2.3. Das Narrativ ‚Tragödie‘

Ein weiteres zentrales Moment, das die Gesamtinterpretation bestimmt, ergibt sich aus der Einteilung des Textes und der hiermit verbundenen Referenz auf eine spezifische Literaturgattung. Сквозь прощальные слезы besteht aus insge-samt acht Komponenten. Auf Einleitung bzw. „Eingang“ (Вступление) folgen fünf historische Kapitel und ein zwischen Kap. IV und V eingeschaltetes Zwi-schenspiel (Лирическая интермедия). Der Text schließt mit einem Epilog (Эпилог). Die fünf „Kapitel“ sind formal und inhaltlich ähnlich und zeichnen jeweils ein Epochenbild; die übrigen drei Teile unterscheiden sich sowohl von den Kapiteln als auch untereinander. Sie verleihen dem Text einen irritierend heterogenen Charakter, da ein gemeinsames Prinzip auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist. Jedoch lassen sich alle acht Teile als Komponenten einer Tra-gödie einordnen – dass im Text keine explizite Genrezuordnung erfolgt, mag der Grund gewesen sein, weswegen dieser Aspekt bislang übersehen wurde.

Naheliegend ist die Gleichsetzung der fünf historischen Kapitel (Kapitel I – Revolution und Bürgerkrieg; Kapitel II – Stalinzeit; Kapitel III – „Großer Vater-ländischer Krieg“; Kapitel IV – Tauwetter; Kapitel V – Stagnation) mit den klassischen fünf Akten. Aber auch die heterogenen Teile sind als Funktionsele-mente von Tragödien belegt. Prolog und Epilog finden sich laut Sekundärlitera-tur in Dramen häufig.472 Sie rahmen die eigentliche Handlung und werden in Abgrenzung vom eigentlichen Geschehen vorgetragen. Der Prolog stellt

470 Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 73. Sie bringt den erwähnten Psalm in Verbindung mit der in der russisch-orthodoxen Kirche zelebrierten Abschiedssegnung des Leichnams (отпевание), wodurch Lied-Zitate und Begräbnis-Thematik zusammengeführt werden.

471 Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 361.

472 Die nachfolgenden Erläuterungen folgen den Einträgen Prolog (Irmgard Ackermann) und Epilog (Thorsten Hoffmann) in: Metzler Lexikon Literatur [3], 611–612 sowie 195–196.

150 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

cherweise erste Informationen über das Stück zu Verfügung, bietet Verständnis-hilfen, Vordeutungen auf den Schluss oder die Autorintention. Epiloge verdeutlichen die Moral des Geschehens und / oder wenden sich mit einer Bitte um Beifall an das Publikum; im elisabethanischen Theater enthalten sie oft ein Gebet. Die genannten Funktionen finden sich in Сквозь прощальные слезы wieder: Prolog und Epilog sind als Rahmen von den Kapiteln abgesetzt. Die Einleitung definiert den Handlungsraum Sowjetunion, indem sie typische Orte mit ihren Gerüchen aufzählt (es handelt sich aber um keine genauen Parallelen in dem Sinne, dass sich die genannten Lokalitäten in den Kapitel wiederfänden).

Die im Epilog an Gott gerichteten Fürbitten passen insofern in den Gattungs-rahmen, als das separierte Ende nicht nur Bitten an das Publikum beinhalten kann, sondern auch Gebete.

Eindeutig dem Bereich der präklassizistischen Tragödie entstammt das Inter-medium.473 Zwischenspiele waren komische Szenen mit volkssprachlichen Ele-menten und Alltagsbezug, die das ernsthafte Bühnengeschehen unterbrachen.

Sie boten Entspannung und waren bühnentechnisch notwendig, hatten oft keinen Bezug zum eigentlichen Stück und waren austauschbar. Als Element des jesuiti-schen Schuldramas erreichten sie im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts Russ-land; ihr Ende kam mit der Etablierung klassizistischer Normen. Kibirovs Intermedium unterscheidet sich thematisch und hinsichtlich der narrativen Ge-staltung von den benachbarten historischen Kapiteln. Es liefert kein aus sowjeti-schen Kulturzitaten montiertes Epochenbild, sondern eine Gegenüberstellung von Russland (Sprecher) und dem Westen (Figur Mozart), in der zwar auch düs-tere Momente anklingen, die jedoch insgesamt eher fröhlich wirkt.

Auf einer Metaebene referiert Сквозь прощальные слезы also auf das Muster

‚Tragödie‘, wobei sich die heterogenen Teile als Elemente des präklassizisti-schen Dramas erklären lassen. Ohne diese Zuordnung bleibt die strukturelle Motivation von Prolog, Intermedium und Epilog, auf die beinahe ein Drittel des Gesamttextes entfallen, rätselhaft.474 Die Tragödienreferenz öffnet eine zentrale

473 Allgemeine Informationen bietet der Eintrag Zwischenspiel (Herta-Elisabeth Renk) in:

Metzler Lexikon Literatur [3], 844. Zum russischen Kontext siehe die entsprechenden Defini-tionen von интермедия in: Краткая литературная энциклопедия. В 9 т. Гл. ред.: А. А.

Сурков. М.: Советская энциклопедия 1962–1978. Т. 3. 152 (Д. П. Муравьев) [=http://feb-web.ru/feb/kle/kle-abc/ke3/ke3-1522.htm]; Литературная энциклопедия. В 11 т. Отв. ред.:

В. М. Фриче и А. В. Луначарский. М.: Изд-во Коммунистической академии; Советская энциклопедия 1929–1939. Т. 4. 539–540 (Эм. Бескин) [=http://feb-web.ru/feb/litenc/encyclop/le4/le4-5393.htm]. Ausführlich: Langer, Dietger: Die Technik der Figurendarstellung in den polnischen, weißrussischen und ukrainischen Intermedien. Frank-furt a. M. [Typoskript] 1971.

474Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 366 geht kurz auf den Epilog ein, in dem sie eine Hinwendung zum homo privatus sowie die Verkörperung des Landes durch einzelne Menschen sieht. Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 151 Sinndimension des Textes, der sich nicht auf die bloße Anhäufung von intertex-tuellen Details beschränkt. Betrachtet man die Kapitel als Akte, tritt ein über-greifender Plot hervor: Der Konflikt, der im ersten Kapitel durch die Revolution ausgelöst wird und im Bürgerkrieg resultiert, wird im zweiten – der Stalinzeit – fortgeführt. Im Weltkriegskapitel wird die Konfrontation ausgesetzt. Das Tau-wetter ist als scheinbare Versöhnung der Gegensätze konzipiert. Nach der In-termediums-Pause schlägt im letzten Akt die Handlung um und es vollzieht sich eine Implosion der sowjetischen Kultur; am Ende steht der Zivilisationsbruch.

Aus der Tragödienperspektive wird die Revolution, die die Handlung initiiert, zum tragischen Fehler (hamartia), die Kommunisten werden zu unschuldig schuldig gewordenen Tätern. Das Ziel, das sie erreichen wollten, war eigentlich gut; wie es im Motto des ersten Kapitels heißt (siehe S. 153), ging es um ein besseres Leben für die nachfolgenden Generationen. Anders als in den TV-Shows, die Ivanova kritisiert, bildet Kibirovs Retrospektive die tragische Di-mension der Vergangenheit ab. Dabei verlangt die Tragödie sowohl die analyti-sche Einsicht in die Fehler als auch das Mitfühlen mit den analyti-scheiternden Heldinnen und Helden. Denkt man an die aristotelische Katharsislehre, zielt die Tragödie auf eine – wie auch immer geartete – „Reinigung“,475 die durch die emotionale Einbindung des Rezipienten erreicht werden soll.

Das Narrativ ‚Tragödie‘ impliziert einen auf ein Scheitern hinlaufenden Plot.

Dieser Handlungsverlauf ist in den fünf historischen „Akten“ von Сквозь прощальные слезы auf der Makroebene auch in Form von spezifischen Redun-danzen präsent. Jedes Kapitel beginnt mit einem formelhaften Vers, der einen charakteristischen Musikschaffenden bzw. eine Musikschaffende der jeweiligen Epoche zum Singen aufruft476:

I,1 Спой же песню мне, Глеб Кржижановский Я сквозь слезы тебе подпою,

II,1 Спойте песню мне, братья Покрассы!

Младшим братом я вам подпою. III,1 Спой же песню мне, Клава Шульженко,

Над притихшею Москвой,

IV,1 Спой мне, Бабаджанян беззаботный!

Сбацай твист мне, веселый Арно!

V,1 Что ж, давай, мой Шаинский веселый.

Впрочем, ну тебя на фиг! Молчи!

поэзии Тимура Кибирова, 127 deutet das Intermedium als Trennlinie zwischen der fernen und der biographisch erlebten nahen Vergangenheit. Der Prolog stelle die Hinwendung zur persönlichen Vergangenheit dar. Entsprechend sei der Epilog eine Rückkehr in die private Sphäre; die Aufzählung von Personen deutet sie als Schaffung von соборность (135–136).

475 Siehe Позднев Михаил: Психология искусства, 341–344 ff..

476 Als allgemeine Beobachtung vermerkt bei Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 67.

150 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

cherweise erste Informationen über das Stück zu Verfügung, bietet Verständnis-hilfen, Vordeutungen auf den Schluss oder die Autorintention. Epiloge verdeutlichen die Moral des Geschehens und / oder wenden sich mit einer Bitte um Beifall an das Publikum; im elisabethanischen Theater enthalten sie oft ein Gebet. Die genannten Funktionen finden sich in Сквозь прощальные слезы wieder: Prolog und Epilog sind als Rahmen von den Kapiteln abgesetzt. Die Einleitung definiert den Handlungsraum Sowjetunion, indem sie typische Orte mit ihren Gerüchen aufzählt (es handelt sich aber um keine genauen Parallelen in dem Sinne, dass sich die genannten Lokalitäten in den Kapitel wiederfänden).

Die im Epilog an Gott gerichteten Fürbitten passen insofern in den Gattungs-rahmen, als das separierte Ende nicht nur Bitten an das Publikum beinhalten kann, sondern auch Gebete.

Eindeutig dem Bereich der präklassizistischen Tragödie entstammt das Inter-medium.473 Zwischenspiele waren komische Szenen mit volkssprachlichen Ele-menten und Alltagsbezug, die das ernsthafte Bühnengeschehen unterbrachen.

Sie boten Entspannung und waren bühnentechnisch notwendig, hatten oft keinen Bezug zum eigentlichen Stück und waren austauschbar. Als Element des jesuiti-schen Schuldramas erreichten sie im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts Russ-land; ihr Ende kam mit der Etablierung klassizistischer Normen. Kibirovs Intermedium unterscheidet sich thematisch und hinsichtlich der narrativen Ge-staltung von den benachbarten historischen Kapiteln. Es liefert kein aus sowjeti-schen Kulturzitaten montiertes Epochenbild, sondern eine Gegenüberstellung von Russland (Sprecher) und dem Westen (Figur Mozart), in der zwar auch düs-tere Momente anklingen, die jedoch insgesamt eher fröhlich wirkt.

Auf einer Metaebene referiert Сквозь прощальные слезы also auf das Muster

‚Tragödie‘, wobei sich die heterogenen Teile als Elemente des präklassizisti-schen Dramas erklären lassen. Ohne diese Zuordnung bleibt die strukturelle Motivation von Prolog, Intermedium und Epilog, auf die beinahe ein Drittel des Gesamttextes entfallen, rätselhaft.474 Die Tragödienreferenz öffnet eine zentrale

473 Allgemeine Informationen bietet der Eintrag Zwischenspiel (Herta-Elisabeth Renk) in:

Metzler Lexikon Literatur [3], 844. Zum russischen Kontext siehe die entsprechenden Defini-tionen von интермедия in: Краткая литературная энциклопедия. В 9 т. Гл. ред.: А. А.

Сурков. М.: Советская энциклопедия 1962–1978. Т. 3. 152 (Д. П. Муравьев) [=http://feb-web.ru/feb/kle/kle-abc/ke3/ke3-1522.htm]; Литературная энциклопедия. В 11 т. Отв. ред.:

В. М. Фриче и А. В. Луначарский. М.: Изд-во Коммунистической академии; Советская энциклопедия 1929–1939. Т. 4. 539–540 (Эм. Бескин) [=http://feb-web.ru/feb/litenc/encyclop/le4/le4-5393.htm]. Ausführlich: Langer, Dietger: Die Technik der Figurendarstellung in den polnischen, weißrussischen und ukrainischen Intermedien. Frank-furt a. M. [Typoskript] 1971.

474Скоропанова, И. С.: Русская постмодернистская литература, 366 geht kurz auf den Epilog ein, in dem sie eine Hinwendung zum homo privatus sowie die Verkörperung des Landes durch einzelne Menschen sieht. Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 151 Sinndimension des Textes, der sich nicht auf die bloße Anhäufung von intertex-tuellen Details beschränkt. Betrachtet man die Kapitel als Akte, tritt ein über-greifender Plot hervor: Der Konflikt, der im ersten Kapitel durch die Revolution ausgelöst wird und im Bürgerkrieg resultiert, wird im zweiten – der Stalinzeit – fortgeführt. Im Weltkriegskapitel wird die Konfrontation ausgesetzt. Das Tau-wetter ist als scheinbare Versöhnung der Gegensätze konzipiert. Nach der In-termediums-Pause schlägt im letzten Akt die Handlung um und es vollzieht sich eine Implosion der sowjetischen Kultur; am Ende steht der Zivilisationsbruch.

Aus der Tragödienperspektive wird die Revolution, die die Handlung initiiert, zum tragischen Fehler (hamartia), die Kommunisten werden zu unschuldig schuldig gewordenen Tätern. Das Ziel, das sie erreichen wollten, war eigentlich gut; wie es im Motto des ersten Kapitels heißt (siehe S. 153), ging es um ein besseres Leben für die nachfolgenden Generationen. Anders als in den TV-Shows, die Ivanova kritisiert, bildet Kibirovs Retrospektive die tragische Di-mension der Vergangenheit ab. Dabei verlangt die Tragödie sowohl die analyti-sche Einsicht in die Fehler als auch das Mitfühlen mit den analyti-scheiternden Heldinnen und Helden. Denkt man an die aristotelische Katharsislehre, zielt die Tragödie auf eine – wie auch immer geartete – „Reinigung“,475 die durch die emotionale Einbindung des Rezipienten erreicht werden soll.

Das Narrativ ‚Tragödie‘ impliziert einen auf ein Scheitern hinlaufenden Plot.

Dieser Handlungsverlauf ist in den fünf historischen „Akten“ von Сквозь прощальные слезы auf der Makroebene auch in Form von spezifischen Redun-danzen präsent. Jedes Kapitel beginnt mit einem formelhaften Vers, der einen charakteristischen Musikschaffenden bzw. eine Musikschaffende der jeweiligen Epoche zum Singen aufruft476:

I,1 Спой же песню мне, Глеб Кржижановский Я сквозь слезы тебе подпою,

II,1 Спойте песню мне, братья Покрассы!

Младшим братом я вам подпою.

III,1 Спой же песню мне, Клава Шульженко, Над притихшею Москвой,

IV,1 Спой мне, Бабаджанян беззаботный!

Сбацай твист мне, веселый Арно!

V,1 Что ж, давай, мой Шаинский веселый.

Впрочем, ну тебя на фиг! Молчи!

поэзии Тимура Кибирова, 127 deutet das Intermedium als Trennlinie zwischen der fernen und der biographisch erlebten nahen Vergangenheit. Der Prolog stelle die Hinwendung zur persönlichen Vergangenheit dar. Entsprechend sei der Epilog eine Rückkehr in die private Sphäre; die Aufzählung von Personen deutet sie als Schaffung von соборность (135–136).

475 Siehe Позднев Михаил: Психология искусства, 341–344 ff..

476 Als allgemeine Beobachtung vermerkt bei Нурмухамедова, P. А.: Лирический субъект в поэзии Тимура Кибирова, 67.

152 4. PERESTROJKA-PERSPEKTIVEN

Diese Kapitelanfänge setzen sich zu einer komprimierten Geschichte von Auf-stieg und Niedergang der sowjetischen Populärmusik zusammen.

Das musikalische Narrativ beginnt in Kapitel I bei Gleb Kržižanovskij (1872–

1959), einem typischen Vertreter der Revolutionsjahre, die musikalisch von in-ternationalen Arbeiterliedern geprägt waren. Kržižanovskij als Kommunist der ersten Stunde war kein hauptberuflicher Kulturschaffender, sondern Ingenieur, und wirkte in wichtiger Position an der Elektrifizierung der UdSSR mit.477 Er soll den Text des revolutionären Marsches Варшавянка aus dem Polnischen übersetzt haben.478 Die Stalinzeit als Höhepunkt des sog. Massenliedes ist durch das Schaffen der Pokrass-Brüder repräsentiert.Dmitrij (1899–1978) und Daniil (1905–1954) Pokrass waren professionelle Musiker und Komponisten, sie schrieben die Filmmusik zu Мы из Кронштадта (1936) oder Если завтра война (1938) sowie zahlreiche populäre Lieder.479 Als Brüder sind sie weiterhin eine ideale Verkörperung des kollektiven Kunstschaffens, das die Stalinzeit fa-vorisierte.

Kapitel III wählt die Sängerin Klavdija „Klava“ Šu’lženko (1906–1984). Zum Star wurde sie im Zweiten Weltkrieg mit Liedern wie Синий платочек oder Давай закурим.480 Im Unterschied zu den triumphalen Märschen mit Orchester und Chor, mit denen das Kriegsthema in der Regel vertont wurde, sind sie leiser und lyrischer. Im Zentrum stehen das Einzelindividuum, seine Sehnsucht nach der Heimat und die Hoffnung auf ein Ende der Kämpfe. Auch der Kapitel IV repräsentierende Komponist Arno Babadžanjan (1921–1983) suchte Wege ab-seits des ideologischen Massenlieds und wurde v. a. mit Werken aus dem Be-reich der Unterhaltungsmusik bekannt.481 Er griff in den 1950ern und 60ern westliche Trends auf, sein Titel Лучший город земли (1964 T.: Leonid Derbenev) gilt als erster sowjetischer Twist.482 Genau auf solche ideologiefreien, tanzbaren Songs verweist der Vers „Сбацай твист мне, веселый Арно!“

477 Большая советская энциклопедия [3], т. 13. 418–419 (Sp. 1242–1243: Кржижанов-ский Глеб Максимилианович).

478 Nach Песенник анархиста и подпольщика gibt es Zweifel an seiner Autorschaft.

479 Эстрада России. Двадцатый век. Лексикон. Отв. ред.: Е. Д. Уварова. М.: РОССПЭН 2000. 459–461 (Покрасс, братья); Большая советская энциклопедия [3], т. 20. 166 (Sp.

484–485: Покрасс, семья музыкатнов).

480 Эстрада России, 672–674 (Шульженко Клавдия Ивановна).

481 Эстрада России, 48 (Бабаджанян Арно Арутюнович).

482 So Babadžanjans Sohn im Gespräch Кусов, Олег: Кавказские хроники Армянский композитор Арно Бабаджанян. // Радио Свобода 18.06.2003, http://www.svoboda.org/content/transcript/24196663.html. Die Sowjetenzyklopädie nennt ihn ebenfalls als Beispiel für die Verwendung von Twist-Rhythmen in der sowjetischen Musik:

Большая советская энциклопедия [3], т. 25. 330 (Sp. 976: Твист).

4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы 153 Kibirovs Abriss der sowjetischen Populärmusik endet mit Vladimir Šainskij (*1927) als Vertreter der Stagnationszeit.483 Zwar schrieb er auch Armeelieder und Hits für die junge Alla Pugačeva, hier scheinen jedoch eher die Kinderlieder („Шаинский веселый“) gemeint zu sein, die er u. a. für die in Str. V,10 erwähn-te Trickfilm-Produktion Незнайка в Солнечном городе verfasserwähn-te. Die sowjeti-sche Musik taugt in der Brežnev-Epoche offenbar nur noch für Kinder, entsprechend ist die Anrede an Šainskij in Str. V,1 auffallend unfreundlich:

„Впрочем, ну тебя на фиг! Молчи!“

Diese in den Kapitelanfängen komprimierte Erzählung von Aufstieg und Nie-dergang der sowjetischen Populärmusik lässt sich verallgemeinern und steht in Сквозь прощальные слезы für das Schicksal der kommunistischen Idee. Die zunehmende Entfremdung der Menschen vom utopischen Projekt und die Dege-neration der sowjetischen Staatskultur sind Themen, die insbesondere in den Kapiteln IV und V entwickelt werden.

Im Dokument 33 3 (Seite 164-168)