• Keine Ergebnisse gefunden

Topoi und Simulacra

Im Dokument 33 3 (Seite 130-134)

3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN 305

3.3. DIE PRÄGUNG EINER MYTHOSPARODIE: ЖИЗНЬ К. У

3.3.3. Topoi und Simulacra

409 Vgl. z. B.: Ленин. Сталин в поэзии народов СССР. Отв. ред.-сост.: В. Мусаэлян. М.:

Художественная литература 1938; Ленин в советской поэзии. Сост., подг. текста и прим.: Р. Б. Вальбе и др. Л.: Советский писатель 1970.

3.3. Die Prägung einer Mythosparodie: Жизнь К. У. Черненко 115

3.3.3. Topoi und Simulacra

Die beiden ersten Kapitel entnehmen der offiziellen Biographie die Stationen

‚Arbeit bei Kulaken‘ (im vorgeschalteten Zitat aus Agitator heißt es: „Трудо-вую жизнь К. У. Черненко начал с ранних лет, работая по найму у кулаков“) und ‚Militärdienst an der Grenze im Fernen Osten‘ („До 1933 года служил в пограничных войсках, был секретарем партийной организации пограничной заставы“). Anders als die in der benutzten Quelle ebenfalls er-wähnte schulische Laufbahn oder die Arbeit in diversen Parteiinstitutionen ver-sprechen beide Stationen Spannung und Dynamik. Ihr topischer Charakter (die Auseinandersetzung mit dem Kulaken kannte die Leserschaft aus der Pavlik Morozov-Legende) bewirkt ebenfalls, dass die Übertreibungen der Stereotype leicht zu durchschauen sind und die Texte als Parodien funktionieren.

Insbesondere fällt ein Übermaß an Dynamik auf. Das erste Gedicht (bzw. Ka-pitel I) beginnt in medias res, mit einer Drohung in wörtlicher Rede, die direkt in den Streit zwischen dem Hirtenjungen Kostja (Černenko) und seinem Arbeit-geber hineinführt. Ein Großteil des Kapitels besteht aus Dialog, was dem Text szenische Dynamik verleiht. Dabei bleibt der Grund für den Konflikt ungenannt.

Ähnlich unmotiviert ist die rapide Eskalation: Der „Kulak“ will den Jungen schlagen; der zur Hilfe eilende Großvater wird durch einen Fußtritt zu Boden geworfen und stirbt unvermittelt. Kostja attackiert hilflos den Übeltäter, bis als deus ex machina ein revolutionär gesinnter Student auftaucht, der den Schurken überwältigt. Die Überraschungen reihen sich aneinander, Figuren tauchen plötzlich auf und die Handlung nimmt aprupte Wendungen, so dass die Span-nung zu-, aber die Glaubwürdigkeit abnimmt. Der auf die dynamischen Impulse reduzierte Plot handelt bekannte Muster ab und beschränkt sich auf die effekt-volle Inszenierung, ohne sich um die Motivierung des Konflikts zu kümmern.

Die Charakterisierung der Figuren ist ebenfalls schematisch und läuft auf eine durchsichtige antagonistische Konstellation zu. Die Personen werden in groben Konturen erfasst und insbesondere über metonymisch zu deutende Körperteile oder Gegenstände beschrieben. Dem übermächtigen (огромная пятерня; смаз-ный сапог; ручищи) und hässlichen Bösewicht (пятерня, покрытая рыжим волосом; брюхо необъятное в жилетке) stehen schwache und hilflose Opfer gegenüber, der Hirtenjunge (худенькая фигурка; слабенькая ручонка) und der alte Großvater (слабый голос; седой как лунь старик). Auch sprachlich zeigt sich dieser Kontrast: Auf das unterwürfige Bitten („Милостивец, пощади!“, V.

7) und die Appelle auf menschlicher Ebene („Панкратушка“, V. 6; „Родимый, не губи“, V. 12) reagiert der Kulak mit Beschimpfungen und Drohungen, die recht ungelenk wirken: „Уйди, старик, а то / час неровен, задену и тебя. / Все вы, Черненки, шельмы и смутяны“ (V. 9–11; Hervorhebungen in den Zitaten von mir; M. R.). Dieses unangemessene Verhalten diskreditiert den Antagonis-ten, der dazu noch betrunken ist („тяжело дыша / сивушным перегаром“, V.

28–29). Auch die Namensgebung ist stigmatisierend: ‚Pankrat Akimič‘ (V. 3)

114 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

KIBIROV: BREŽNEV:

Kap. I Пастушок Kap. I Жизнь по заводскому гудку

Kap. II У далеких берегов Амура Kap. II Чувство родины Kap. III В списках не значился Kap. III Малая земля Kap. IV Ради жизни на земле Kap. IV Возрождение

Kap. V Молдавская весна Kap. VI Целина

Kap. VII Космический октябрь Kap. VIII Слово о коммунистах

Zumindest bei zwei von Kibirovs Überschriften (У далеких берегов Амура und В списках не значился) handelt es sich um Zitate, die zusätzliche Bedeutungen einbringen, worauf noch eingegangen wird.

Was die Schreibweise betrifft, unterscheiden sich die auf der Basis der kargen Fakten der offiziellen Kurz-Biographie aus der Zeitschrift Agitator improvisie-renden Kapitel von dem trockenen Stil der Führerbiographien und ähneln den literarisch bearbeiteten Leniniana-Texten. Wie Когда был Ленин маленьким orientieren sich dabei auch die Černenko-Kapitel an Inhalten und Formen der Erzählprosa und rekurrieren nicht auf die Führer-Dichtung.409 Die Nähe zur Pro-sa zeigt sich auch in der poetischen Gestaltung: Vers- und syntaktische Struktur klaffen auseinander, Reime und Strophen fehlen. Es finden sich kaum schmü-ckende Epitheta, Vergleiche oder Metaphern, die die Größe des Führers be-schwören, wie sie für die dichterische Panegyrik typisch sind.

Die gewählten Themen und Verfahren der literarischen Inszenierung wech-seln, ähnlich wie im Fall von Когда был Ленин маленьким. Kapitel I & II set-zen auf Spannung und Action; in Kapitel III & IV wird die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Černenko und seinem Mentor Brežnev in Form von Brief und Dialog dargestellt; Kapitel V beschreibt die Reaktionen auf eine Rede Černenkos vor dem Schriftstellerverband.

409 Vgl. z. B.: Ленин. Сталин в поэзии народов СССР. Отв. ред.-сост.: В. Мусаэлян. М.:

Художественная литература 1938; Ленин в советской поэзии. Сост., подг. текста и прим.: Р. Б. Вальбе и др. Л.: Советский писатель 1970.

3.3. Die Prägung einer Mythosparodie: Жизнь К. У. Черненко 115

3.3.3. Topoi und Simulacra

Die beiden ersten Kapitel entnehmen der offiziellen Biographie die Stationen

‚Arbeit bei Kulaken‘ (im vorgeschalteten Zitat aus Agitator heißt es: „Трудо-вую жизнь К. У. Черненко начал с ранних лет, работая по найму у кулаков“) und ‚Militärdienst an der Grenze im Fernen Osten‘ („До 1933 года служил в пограничных войсках, был секретарем партийной организации пограничной заставы“). Anders als die in der benutzten Quelle ebenfalls er-wähnte schulische Laufbahn oder die Arbeit in diversen Parteiinstitutionen ver-sprechen beide Stationen Spannung und Dynamik. Ihr topischer Charakter (die Auseinandersetzung mit dem Kulaken kannte die Leserschaft aus der Pavlik Morozov-Legende) bewirkt ebenfalls, dass die Übertreibungen der Stereotype leicht zu durchschauen sind und die Texte als Parodien funktionieren.

Insbesondere fällt ein Übermaß an Dynamik auf. Das erste Gedicht (bzw. Ka-pitel I) beginnt in medias res, mit einer Drohung in wörtlicher Rede, die direkt in den Streit zwischen dem Hirtenjungen Kostja (Černenko) und seinem Arbeit-geber hineinführt. Ein Großteil des Kapitels besteht aus Dialog, was dem Text szenische Dynamik verleiht. Dabei bleibt der Grund für den Konflikt ungenannt.

Ähnlich unmotiviert ist die rapide Eskalation: Der „Kulak“ will den Jungen schlagen; der zur Hilfe eilende Großvater wird durch einen Fußtritt zu Boden geworfen und stirbt unvermittelt. Kostja attackiert hilflos den Übeltäter, bis als deus ex machina ein revolutionär gesinnter Student auftaucht, der den Schurken überwältigt. Die Überraschungen reihen sich aneinander, Figuren tauchen plötzlich auf und die Handlung nimmt aprupte Wendungen, so dass die Span-nung zu-, aber die Glaubwürdigkeit abnimmt. Der auf die dynamischen Impulse reduzierte Plot handelt bekannte Muster ab und beschränkt sich auf die effekt-volle Inszenierung, ohne sich um die Motivierung des Konflikts zu kümmern.

Die Charakterisierung der Figuren ist ebenfalls schematisch und läuft auf eine durchsichtige antagonistische Konstellation zu. Die Personen werden in groben Konturen erfasst und insbesondere über metonymisch zu deutende Körperteile oder Gegenstände beschrieben. Dem übermächtigen (огромная пятерня; смаз-ный сапог; ручищи) und hässlichen Bösewicht (пятерня, покрытая рыжим волосом; брюхо необъятное в жилетке) stehen schwache und hilflose Opfer gegenüber, der Hirtenjunge (худенькая фигурка; слабенькая ручонка) und der alte Großvater (слабый голос; седой как лунь старик). Auch sprachlich zeigt sich dieser Kontrast: Auf das unterwürfige Bitten („Милостивец, пощади!“, V.

7) und die Appelle auf menschlicher Ebene („Панкратушка“, V. 6; „Родимый, не губи“, V. 12) reagiert der Kulak mit Beschimpfungen und Drohungen, die recht ungelenk wirken: „Уйди, старик, а то / час неровен, задену и тебя. / Все вы, Черненки, шельмы и смутяны“ (V. 9–11; Hervorhebungen in den Zitaten von mir; M. R.). Dieses unangemessene Verhalten diskreditiert den Antagonis-ten, der dazu noch betrunken ist („тяжело дыша / сивушным перегаром“, V.

28–29). Auch die Namensgebung ist stigmatisierend: ‚Pankrat Akimič‘ (V. 3)

116 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

impliziert einen orthodoxen sowie nicht-russischen familiären Hintergrund. Ge-gensätze bestehen aber auch zwischen den Guten, zwischen dem Großvater, der vor dem Peiniger auf die Knie geht, und dem kämpferischen Enkel (худенькая, но гордая фигурка, V. 5; „Слабенькой ручонкой / вцепился Костя в бороду убийцы“, V. 31–32). Dem Großvater steht weiterhin der kommunistische Stu-dent („юноша в студенческой тужурке, / но с красным бантом“, V. 40–41) mit seiner Browning gegenüber. Durch den Kontrast der Vorbilder wird das Ge-schehen zur biographischen Wegscheide – ein klassisches sozrealistisches Hand-lungsmoment. „Kostja“ Černenko muss seinen weiteren Lebensweg wählen: den des Großvaters, der in den bestehenden Strukturen verharrt, oder den des kämp-fenden Revolutionärs. Beim Abschied streicht das neue Idol dem Jungen über den Kopf und nennt ihn „Bruder“, d. h. er adoptiert ihn symbolisch.

Das Gedicht schließt mit einem durch Leerzeile abgetrennten, kürzeren zwei-ten Teil, der das Ereignis aus der Retrospektive des erwachsenen Černenko deu-tet. Dieser erinnert sich bei Kibirov während Sambo410-Wettkämpfen an den biographischen Schlüsselmoment und gewinnt dadurch die Kraft, den Kontra-henten zu überwinden. Passendere Anlässe für die Erinnerung wären Kampf- oder Entscheidungssituationen; die Erwähnung eines Sportwettkampfes profa-niert das Erweckungsereignis. Auch wirkt der Kontrast zwischen dem 1984 über 70-jährigen Černenko und dem im Poem gezeichneten Kampfsportler komisch, was Kapitel II und III weiterführen.

Übertreibungen, Lücken und „unfreiwillige“ Komik finden sich auch im zweiten Gedicht, dessen Kampfszenen an Kung-Fu-Filme erinnern.Als Kontrast wird am Anfang über 18 Verse hinweg ein klischeeromantisches nächtliches Naturidyll ausgemalt, vor dem der Protagonist sich bewegt und das Geschehen des Tages passieren lässt. Während in Kap. I der Verlauf der Handlung aus der Außenperspektive (Dialoge und Bewegungen) geschildert wurde, erhält man hier Einblick in die Gedankenwelt des Protagonisten. Erzählt wird erneut in der dritten Person. Die Erzähler-Instanz tritt nicht als Ich in Erscheinung und ver-zichtet – anders als in Когда был Ленин маленьким – auf Kommentare, die aus der erzählten Welt herausführen.

Der kontemplative erste Sinnabschnitt wird durch eine dynamische Hand-lungsfolge abgelöst. Zuerst weckt die Stille den Verdacht des Protagonisten (V.

19: „Но тут он встрепенулся“), dann beschleunigen sich seine Handlungen und kulminieren in der Schrecksekunde, in der er den Feind bemerkt, bei dem es sich den „schielenden“ Augen und der Bezeichnung „Samurai“ nach um einen Japa-ner handelt. Die Kampfszenen (bis V. 55) gehorchen eiJapa-ner hyperbolischen

410 Ожегов, С. И.; Шведова, Н. Ю.: Толковый словарь русского языка, 693: Abkkürzung von самозащита без оружия; eine in der Sowjetunion entwickelte Kampfsportart.

3.3. Die Prägung einer Mythosparodie: Жизнь К. У. Черненко 117 Choreographie: Der Held besiegt eine fantastische Übermacht, wird verletzt und überwältigt dennoch alle Gegner. Noch stärker als Kapitel I entfernt sich Kapitel II durch diese Überzeichnung von den echten Biographien (zur Illustration der Nähe zur Erzählprosa stehen die Zitate ohne Versumbruch):

[…] И дальше все случилось / мгновенно отработанным ударом / ноги оружье выбить и связать. / В окошко разглядеть других. Спокойно / пере-считать их: 25. Ползком / пробраться на крыльцо. Лежать недвижно, / и, улучив момент, с гранатой, с криком: / «на землю, гады!» в комнату влететь / и запереть десятерых в подвале. / И, боль почувствовав в плече, ругнуться, / Отстреливаясь и уже слабея, / взбираться на чердак. […] И, уже теряя со-знание, последнему врагу / сдавить кадык предсмертной хваткой…

Erneut tauchen Elemente auf, die schon in Kapitel I irritierten: Černenkos Sam-bo-Künste („«Вот как пригодились / занятья самбо»“, V. 52–53) und der agrammatisch-archaische Plural des Familiennamens („Черненки не сдаются!“, V. 48).

Das zweite Gedicht rekurriert allerdings nicht nur allgemein auf bekannte Lektüre- bzw. Filmerfahrung. Es macht auch einen intertextuellen Bezug expli-zit und baut ihn zur Auto-Reflexion aus. In dem durch das in die nächste Zeile verschobene Wort „После“ vom eigentlichen Handlungsteil abgesetzten Ab-spann411 heißt es, dass das Volk über Černenkos Heldentat Lieder dichten werde.

Diese seien allerdings fehlerhaft, man hätte nämlich Panzerfahrer und Aufklärer dazuerfunden, obwohl alles nur die Leistung eines Einzelnen, nämlich von Černenko, gewesen sei.

После / народ об этом песню сложит, но / все перепутает и приплетет танки-стов / каких-то и разведку. А летели / те самураи наземь под напором /

простого партсекретаря. [V. 56–60]

Bei dem hier aufscheinenden Prätext handelt es sich um das Lied Три танки-ста (1937; M.: Brüder Pokrass, T.: Boris Laskin), das auch den Kapiteltitel У далеких берегов Амура motivierte. Das Lied erklingt im Film Трактористы (1939), dessen Held nach dem Dienst an der Grenze im Osten ins Zivilleben zu-rückkehrt. Kibirovs letzte Verse „verbessern“ den originalen Wortlaut. An die Stelle von Stahl und Eisen (im Originalheißt es„И летели наземь самураи / Под напором стали и огня.“412) tritt bei Kibirov der Parteisekretär Černenko.

411 Diese Verschiebung findet sich in Кибиров, Тимур: Сантименты, 35 und Кибиров, Ти-мур: Стихи, 622. Im ersten Fall könnte es sich um einen rein graphisch bedingten, durch die Überlänge der Verszeile hervorgerufenen Umbruch handeln. Im zweiten ist die optische Lü-cke eindeutig nicht drucktechnisch bedingt.

412 Песенник анархиста и подпольщика: nach dem 2. Weltkrieg seien die japanischen Allu-sionen getilgt worden. Der Kapiteltitel bezieht sich auf den Vers „У высоких берегов Амура“. Auf den Prätext weist hin: Ермаченко, Игорь: От «врага на Востоке» до «врага на Западе».

116 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

impliziert einen orthodoxen sowie nicht-russischen familiären Hintergrund. Ge-gensätze bestehen aber auch zwischen den Guten, zwischen dem Großvater, der vor dem Peiniger auf die Knie geht, und dem kämpferischen Enkel (худенькая, но гордая фигурка, V. 5; „Слабенькой ручонкой / вцепился Костя в бороду убийцы“, V. 31–32). Dem Großvater steht weiterhin der kommunistische Stu-dent („юноша в студенческой тужурке, / но с красным бантом“, V. 40–41) mit seiner Browning gegenüber. Durch den Kontrast der Vorbilder wird das Ge-schehen zur biographischen Wegscheide – ein klassisches sozrealistisches Hand-lungsmoment. „Kostja“ Černenko muss seinen weiteren Lebensweg wählen: den des Großvaters, der in den bestehenden Strukturen verharrt, oder den des kämp-fenden Revolutionärs. Beim Abschied streicht das neue Idol dem Jungen über den Kopf und nennt ihn „Bruder“, d. h. er adoptiert ihn symbolisch.

Das Gedicht schließt mit einem durch Leerzeile abgetrennten, kürzeren zwei-ten Teil, der das Ereignis aus der Retrospektive des erwachsenen Černenko deu-tet. Dieser erinnert sich bei Kibirov während Sambo410-Wettkämpfen an den biographischen Schlüsselmoment und gewinnt dadurch die Kraft, den Kontra-henten zu überwinden. Passendere Anlässe für die Erinnerung wären Kampf- oder Entscheidungssituationen; die Erwähnung eines Sportwettkampfes profa-niert das Erweckungsereignis. Auch wirkt der Kontrast zwischen dem 1984 über 70-jährigen Černenko und dem im Poem gezeichneten Kampfsportler komisch, was Kapitel II und III weiterführen.

Übertreibungen, Lücken und „unfreiwillige“ Komik finden sich auch im zweiten Gedicht, dessen Kampfszenen an Kung-Fu-Filme erinnern.Als Kontrast wird am Anfang über 18 Verse hinweg ein klischeeromantisches nächtliches Naturidyll ausgemalt, vor dem der Protagonist sich bewegt und das Geschehen des Tages passieren lässt. Während in Kap. I der Verlauf der Handlung aus der Außenperspektive (Dialoge und Bewegungen) geschildert wurde, erhält man hier Einblick in die Gedankenwelt des Protagonisten. Erzählt wird erneut in der dritten Person. Die Erzähler-Instanz tritt nicht als Ich in Erscheinung und ver-zichtet – anders als in Когда был Ленин маленьким – auf Kommentare, die aus der erzählten Welt herausführen.

Der kontemplative erste Sinnabschnitt wird durch eine dynamische Hand-lungsfolge abgelöst. Zuerst weckt die Stille den Verdacht des Protagonisten (V.

19: „Но тут он встрепенулся“), dann beschleunigen sich seine Handlungen und kulminieren in der Schrecksekunde, in der er den Feind bemerkt, bei dem es sich den „schielenden“ Augen und der Bezeichnung „Samurai“ nach um einen Japa-ner handelt. Die Kampfszenen (bis V. 55) gehorchen eiJapa-ner hyperbolischen

410 Ожегов, С. И.; Шведова, Н. Ю.: Толковый словарь русского языка, 693: Abkkürzung von самозащита без оружия; eine in der Sowjetunion entwickelte Kampfsportart.

3.3. Die Prägung einer Mythosparodie: Жизнь К. У. Черненко 117 Choreographie: Der Held besiegt eine fantastische Übermacht, wird verletzt und überwältigt dennoch alle Gegner. Noch stärker als Kapitel I entfernt sich Kapitel II durch diese Überzeichnung von den echten Biographien (zur Illustration der Nähe zur Erzählprosa stehen die Zitate ohne Versumbruch):

[…] И дальше все случилось / мгновенно отработанным ударом / ноги оружье выбить и связать. / В окошко разглядеть других. Спокойно / пере-считать их: 25. Ползком / пробраться на крыльцо. Лежать недвижно, / и, улучив момент, с гранатой, с криком: / «на землю, гады!» в комнату влететь / и запереть десятерых в подвале. / И, боль почувствовав в плече, ругнуться, / Отстреливаясь и уже слабея, / взбираться на чердак. […] И, уже теряя со-знание, последнему врагу / сдавить кадык предсмертной хваткой…

Erneut tauchen Elemente auf, die schon in Kapitel I irritierten: Černenkos Sam-bo-Künste („«Вот как пригодились / занятья самбо»“, V. 52–53) und der agrammatisch-archaische Plural des Familiennamens („Черненки не сдаются!“, V. 48).

Das zweite Gedicht rekurriert allerdings nicht nur allgemein auf bekannte Lektüre- bzw. Filmerfahrung. Es macht auch einen intertextuellen Bezug expli-zit und baut ihn zur Auto-Reflexion aus. In dem durch das in die nächste Zeile verschobene Wort „После“ vom eigentlichen Handlungsteil abgesetzten Ab-spann411 heißt es, dass das Volk über Černenkos Heldentat Lieder dichten werde.

Diese seien allerdings fehlerhaft, man hätte nämlich Panzerfahrer und Aufklärer dazuerfunden, obwohl alles nur die Leistung eines Einzelnen, nämlich von Černenko, gewesen sei.

После / народ об этом песню сложит, но / все перепутает и приплетет танки-стов / каких-то и разведку. А летели / те самураи наземь под напором /

простого партсекретаря. [V. 56–60]

Bei dem hier aufscheinenden Prätext handelt es sich um das Lied Три танки-ста (1937; M.: Brüder Pokrass, T.: Boris Laskin), das auch den Kapiteltitel У далеких берегов Амура motivierte. Das Lied erklingt im Film Трактористы (1939), dessen Held nach dem Dienst an der Grenze im Osten ins Zivilleben zu-rückkehrt. Kibirovs letzte Verse „verbessern“ den originalen Wortlaut. An die Stelle von Stahl und Eisen (im Originalheißt es„И летели наземь самураи / Под напором стали и огня.“412) tritt bei Kibirov der Parteisekretär Černenko.

411 Diese Verschiebung findet sich in Кибиров, Тимур: Сантименты, 35 und Кибиров, Ти-мур: Стихи, 622. Im ersten Fall könnte es sich um einen rein graphisch bedingten, durch die Überlänge der Verszeile hervorgerufenen Umbruch handeln. Im zweiten ist die optische Lü-cke eindeutig nicht drucktechnisch bedingt.

412 Песенник анархиста и подпольщика: nach dem 2. Weltkrieg seien die japanischen Allu-sionen getilgt worden. Der Kapiteltitel bezieht sich auf den Vers „У высоких берегов Амура“. Auf den Prätext weist hin: Ермаченко, Игорь: От «врага на Востоке» до «врага на Западе».

118 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

Über die bestehende Fiktion wird eine weitere Fiktion (die von Жизнь К. У.

Черненко) gelegt, wobei dieses Simulakrum sich als Realität geriert.

Hinter der Episode stehen zwar reale Grenzkonflikte zwischen der Sowjetuni-on und der japanisch kSowjetuni-ontrollierten Staatsgründung Mandschuko, die 1938/1939 zu militärischen Auseinandersetzungen eskalierten.413 Nach den Angaben der offiziellen Biographie war Černenko allerdings in den ruhigen Jahren 1930–

1933 bei den Grenztruppen tätig. Dass er realiter nicht im Einsatz war, lässt die geschilderte Heldentat, die einen kampferprobten Elitesoldaten vermuten lässt, umso absurder und komischer erscheinen.

Im Dokument 33 3 (Seite 130-134)