• Keine Ergebnisse gefunden

THEORETISCHE VERORTUNG UND AUFBAU DER ARBEIT Der Gesellschaftsbezug von Kibirovs Texten – die literarische Reflexion

Im Dokument 33 3 (Seite 46-50)

113 Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse, 193–213 beschreibt die Realisierungs-möglichkeiten von Wir, Du, Ihr und der Pronomina der 3. Person.

114 Vgl. Hühn, Peter: Lyrik und Narration. In: Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch Lyrik. Theo-rie, Analyse, Geschichte. Stuttgart; Weimar: J. B. Metzler 2011. 58–62, insbesondere 59;

Müller-Zettelmann, Eva: Lyrik und Narratologie. In: Nünning, Vera; Nünning, Ansgar (Hgg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002. 129–153.

115 Vgl. hierzu Rutz, Marion: „Wohin gehört das Gedicht?“ und „Wer spricht es?“ [Druckvor-bereitung], Teil 4.1. Die Idee einer Skala hat Boris Korman Anfang der 1970er ausgearbeitet.

116 Bode, Christoph: Einführung in die Lyrikanalyse, 162 (Kapitelüberschrift) ff.

117 Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse, 194–195.

118 Müller, Wolfgang G.: Das lyrische Ich, 57.

119 Ludwig, Hans-Werner: Arbeitsbuch Lyrikanalyse. 5. erw. und akt. Aufl. Tübingen; Basel:

A. Francke 2005. 12; 13 etc.

120 Rutz, Marion: „Wohin gehört das Gedicht?“ und „Wer spricht es?“ [Druckvorbereitung].

1.5. Theoretische Verortung und Aufbau der Arbeit 31 die auf die erste Person verzichten oder ihr Auftauchen im Text inszenieren (vgl.

das in Kap. 3.1 thematisierte Gedicht Послесловие к книге «Общие места»).

Allerdings findet sich gegenläufig nach 1988 vermehrt klassische „Lyrik“, die die Instanz des Sprechers explizit an die erste Person sowie an den Autor bzw.

ein zu imaginierendes „Autor-Bild“ rückbindet.

1.5. THEORETISCHE VERORTUNG UND AUFBAU DER ARBEIT Der Gesellschaftsbezug von Kibirovs Texten – die literarische Reflexion (Spie-gelung und gedankliche Durchdringung) von Wertediskursen sowie entspre-chende Reaktionen – bestimmt als Leitthema die Textauswahl, die Konzeption der Einzelkapitel der Arbeit sowie deren Zusammenfügung. Methodologisch dominiert die klassisch-literaturwissenschaftliche Perspektive, die die Frage nach Diskursen und der außerliterarischen Realität der nach den konkreten Tex-ten und ihrer Gestaltung unterordnet. Die Arbeit versteht sich nicht als kul-turwissenschaftlich im engeren Sinne; primäres Ziel ist nicht die Erarbeitung eines Themas unter paritätischer Berücksichtigung möglichst vieler literarischer sowie nicht-literarischer Quellen, sondern die Erschließung von Kibirovs dichte-rischem Werk. Die Untersuchungen gruppieren sich somit um den Autor, der als Urheber seiner Texte verstanden wird, und diese wiederum als intentionale Schöpfung eines Individuums.

Der methodologische Zugriff ist grundsätzlich hermeneutisch. Trotz der for-malistischen und strukturalistischen Vorbehalte gegenüber der Interpretations-willkür, die der Poststrukturalismus zum Vorwurf der Gewalt gegen den Text steigerte, ist der völlige Verzicht auf den Verstehenswunsch problematisch, da mit ihm die Motivation für die intensive Lektüre verschwindet und die Analyse letztendlich zu einer Aneinanderreihung von irrelevanten Beobachtungen gerät, wie etwa in Barthesʼ – theoretisch durchaus anregender – exemplarischer Mo-nographie SZ.121 In der literaturwissenschaftlichen Praxis produktiv und the-oretisch haltbar scheint nach wie vor eine reflektierte Hermeneutik, wie sie etwa Peter Szondi schon in den 1960–70er Jahren entwarf.122 Ausgangspunkt ist die Erkenntnis des eigenen geschichtlichen Standorts und der historischen Distanz zu Autor / Text, die den Interpretationsversuch unhintergehbar prägen.123 Szondi unterscheidet zwei gleichermaßen legitime Zugriffe, die er mit zwei in der her-meneutischen Tradition vorhandenen Begriffen benennt: Unter ‚allegorischer

121 Barthes, Roland: S/Z. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007 [=1987, frz. 1970].

122 Zu Szondi als wichtiger Station der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik siehe Klawit-ter, Arne; Ostheimer, Michael: Literaturtheorie. Ansätze und Anwendungen. Göttingen:

Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 35–37. Das Folgende nach Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik. Hg. von Jean Bollack und Helen Stierlin. Frankfurt a. M.: Suhr-kamp 1975. 9–20.

123 Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik, 14.

30 1. EINLEITUNG

turen verstellt.113 Diese lassen sich durch narratologische Kategorien114 oder ei-ner Skala mit verschiedenen Realisierungen des ‚lyrischen Subjekts‘115 besser beschreiben als mit nur einem Terminus.

Was die terminologischen Alternativen angeht, verwendet der Anglist Bode in seiner Einführung den englischen Terminus persona, der den Unterschied zwi-schen dem Autor und der Instanz, die in der 1. Person Singular spricht, absolut setzt und sie als Figur behandelt.116 Burdorf präferiert den Begriff „artikuliertes Ich“ und erwähnt „sprechendes Ich“ als schlechtere Variante.117 Müller notiert

„lyrisches Subjekt“, „poetisches Ich“, „Textsubjekt“.118 Hans-Werner Ludwig verwendet in seiner Einführung „Sprecher-Ich“119 – um nur einige Beispiele zu nennen. In Fortsetzung einer von mir unternommenen vergleichenden Untersu-chung der terminologischen Möglichkeiten in der deutsch-, russisch- und eng-lischsprachigen Wissenschaftstradition möchte ich als allgemeinen Oberbegriff

‚Sprecher‘ vorschlagen.120 Einerseits erleichtert er aufgrund der semantischen Nähe zum etablierten ‚Narrator‘ die Übertragung von in der Erzähltextanalyse entwickelten Konzepten. Zum anderen markiert die Differenzierung zwischen

‚Erzähler‘ und ‚Sprecher‘ dennoch einen Unterschied: Für die Konstituierung von Dichtung wichtige Charakteristika wie Metrum, Reim und v. a. die Untertei-lung in Verszeilen beruhen auf ihrem ursprünglichen Wesen als gesprochener Text. Auch die durch das – allen Einschränkungen zum Trotz – typische Spre-chen in der 1. Person ausgedrückte persönliche Bindung des Textes an die spre-chende Instanz und die hierdurch suggerierte Unmittelbarkeit ist inbegriffen.

Dass diese Entscheidung für eine terminologische Abweichung und die An-näherung an die Narratologie kein theoretischer Selbstzweck sind, wird sich vor allem an den in Kapitel 4 behandelten Werken zeigen, die komplexe Erzählper-spektiven aufweisen. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Gedichten Kibirovs,

113 Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse, 193–213 beschreibt die Realisierungs-möglichkeiten von Wir, Du, Ihr und der Pronomina der 3. Person.

114 Vgl. Hühn, Peter: Lyrik und Narration. In: Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch Lyrik. Theo-rie, Analyse, Geschichte. Stuttgart; Weimar: J. B. Metzler 2011. 58–62, insbesondere 59;

Müller-Zettelmann, Eva: Lyrik und Narratologie. In: Nünning, Vera; Nünning, Ansgar (Hgg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002. 129–153.

115 Vgl. hierzu Rutz, Marion: „Wohin gehört das Gedicht?“ und „Wer spricht es?“ [Druckvor-bereitung], Teil 4.1. Die Idee einer Skala hat Boris Korman Anfang der 1970er ausgearbeitet.

116 Bode, Christoph: Einführung in die Lyrikanalyse, 162 (Kapitelüberschrift) ff.

117 Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse, 194–195.

118 Müller, Wolfgang G.: Das lyrische Ich, 57.

119 Ludwig, Hans-Werner: Arbeitsbuch Lyrikanalyse. 5. erw. und akt. Aufl. Tübingen; Basel:

A. Francke 2005. 12; 13 etc.

120 Rutz, Marion: „Wohin gehört das Gedicht?“ und „Wer spricht es?“ [Druckvorbereitung].

1.5. Theoretische Verortung und Aufbau der Arbeit 31 die auf die erste Person verzichten oder ihr Auftauchen im Text inszenieren (vgl.

das in Kap. 3.1 thematisierte Gedicht Послесловие к книге «Общие места»).

Allerdings findet sich gegenläufig nach 1988 vermehrt klassische „Lyrik“, die die Instanz des Sprechers explizit an die erste Person sowie an den Autor bzw.

ein zu imaginierendes „Autor-Bild“ rückbindet.

1.5. THEORETISCHE VERORTUNG UND AUFBAU DER ARBEIT Der Gesellschaftsbezug von Kibirovs Texten – die literarische Reflexion (Spie-gelung und gedankliche Durchdringung) von Wertediskursen sowie entspre-chende Reaktionen – bestimmt als Leitthema die Textauswahl, die Konzeption der Einzelkapitel der Arbeit sowie deren Zusammenfügung. Methodologisch dominiert die klassisch-literaturwissenschaftliche Perspektive, die die Frage nach Diskursen und der außerliterarischen Realität der nach den konkreten Tex-ten und ihrer Gestaltung unterordnet. Die Arbeit versteht sich nicht als kul-turwissenschaftlich im engeren Sinne; primäres Ziel ist nicht die Erarbeitung eines Themas unter paritätischer Berücksichtigung möglichst vieler literarischer sowie nicht-literarischer Quellen, sondern die Erschließung von Kibirovs dichte-rischem Werk. Die Untersuchungen gruppieren sich somit um den Autor, der als Urheber seiner Texte verstanden wird, und diese wiederum als intentionale Schöpfung eines Individuums.

Der methodologische Zugriff ist grundsätzlich hermeneutisch. Trotz der for-malistischen und strukturalistischen Vorbehalte gegenüber der Interpretations-willkür, die der Poststrukturalismus zum Vorwurf der Gewalt gegen den Text steigerte, ist der völlige Verzicht auf den Verstehenswunsch problematisch, da mit ihm die Motivation für die intensive Lektüre verschwindet und die Analyse letztendlich zu einer Aneinanderreihung von irrelevanten Beobachtungen gerät, wie etwa in Barthesʼ – theoretisch durchaus anregender – exemplarischer Mo-nographie SZ.121 In der literaturwissenschaftlichen Praxis produktiv und the-oretisch haltbar scheint nach wie vor eine reflektierte Hermeneutik, wie sie etwa Peter Szondi schon in den 1960–70er Jahren entwarf.122 Ausgangspunkt ist die Erkenntnis des eigenen geschichtlichen Standorts und der historischen Distanz zu Autor / Text, die den Interpretationsversuch unhintergehbar prägen.123 Szondi unterscheidet zwei gleichermaßen legitime Zugriffe, die er mit zwei in der her-meneutischen Tradition vorhandenen Begriffen benennt: Unter ‚allegorischer

121 Barthes, Roland: S/Z. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007 [=1987, frz. 1970].

122 Zu Szondi als wichtiger Station der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik siehe Klawit-ter, Arne; Ostheimer, Michael: Literaturtheorie. Ansätze und Anwendungen. Göttingen:

Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 35–37. Das Folgende nach Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik. Hg. von Jean Bollack und Helen Stierlin. Frankfurt a. M.: Suhr-kamp 1975. 9–20.

123 Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik, 14.

32 1. EINLEITUNG

Interpretation‘ fasst er dabei das Verstehen aus der Vorstellungswelt von Leserin und Leser, das „dem fremd gewordenen Zeichen […] eine neue Bedeutung un-terlegt, die nicht der Vorstellungswelt des Textes, sondern der seines Auslegers entstammt […].“124 Die ‚grammatische Interpretation‘ wolle hingegen das ur-sprüngliche Textverstehen rekonstruieren und die historische Distanz überbrü-cken, etwa durch Aufarbeiten von unklarer Lexik und fremden Realien. Für Szondi sind beide Ansätze gleichwertig und v. a. im Zusammenspiel produktiv:

Erst der allegorische Zugriff führt über den positivistischen Stellenkommentar hinaus und generiert neue Fragen an den Text. Die grammatische Interpretation fungiert dabei als notwendiges Korrektiv, das Hypothesen auf den Text ver-pflichtet.125 Was die eigenen Interpretationen von Kibirovs Œuvre angeht, wird die weniger durch zeitliche als durch kulturelle Distanz geprägte allegorische Deutung v. a. durch das Erarbeiten der intertextuellen Bezüge sowie der Kontex-te, auf die die Texte reagieren, geerdet.

Mit dem Plädoyer für die intensive Auseinandersetzung mit dem einzelnen Text als Vorbedingung der Interpretation sowie dem Bestreben, die Gedichte als Ganzes und in der gegenseitigen Bezogenheit ihrer Elemente zu erfassen, folgt die Untersuchung strukturalistischen Prämissen, auch wenn kein close reading der verschiedenen sprachlich-poetischen Ebenen vorliegt,126 das die Begrenzung auf sehr wenige Einzeltexte erzwungen hätte. In dem beschriebenen Willen zum Verstehen und den Sympathien für die strukturalistische Textarbeit klingen letztendlich methodologische Prämissen von Henrieke Stahl an, bei der ich das literaturwissenschaftliche Handwerk gelernt habe,127 und der Anspruch, zwar keine „allgemeingültigen“, geschweige denn „objektiven“, aber auf textuellen Fakten begründeten und intersubjektiv nachvollziehbaren Interpretationen vor-zulegen.

Was die Vorgehensweise bzw. den Aufbau der Arbeit betrifft, sind die Kapi-tel chronologisch angeordnet und folgen dem Publikationsverlauf von Kibirovs Texten. Der Untersuchungszeitraum wird durch den 2009 erschienenen Ge-dichtband Греко- и римско-кафолические песенки и потешки begrenzt, auf

124 Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik, 19.

125 Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik, 19: „Die grammatische Inter-pretation hingegen, historisch der allegorischen vorausgehend und also primär nicht als Ge-genposition, nicht als Kritik an ihr, zu verstehen, ist es dazu aus der Konsequenz ihrer Absicht geworden, das einst Gemeinte nicht in den Wirbel historischen Wandels hineinreißen zu las-sen, vielmehr in seiner Identität zu bewahren.“

126 Etwa nach Lotman – die Aufteilung in einzelne Analyseebenen ist besonders deutlich in der für Studierende adaptierten Einführung: Лотман, Ю. М.: Анализ поэтического текста. //

Лотман, Ю. М.: О поэтах и поэзии. СПб.: Искусство – СПБ 1996. 17–132.

127 Stahl, Henrieke: Interpretation als Dialog. Votum für eine strukturale Hermeneutik. In:

Coincidentia, Beiheft 2: Bildung und Fragendes Denken. Hg. von Harald Schwaetzer. Bern-kastel-Kues 2013. 117–137.

1.5. Theoretische Verortung und Aufbau der Arbeit 33 den 2010 ein erster Roman folgte. Nach diesem terminus ad quem erschienene Gedichte werden nur sporadisch berücksichtigt und vergleichend eingebunden;

die Erzählprosa sowie die jüngsten dramatischen Experimente verlangen per se nach einer gesonderten Betrachtung.

Mit jedem Kapitel werden zwei oder mehr Bücher abgedeckt, die einen be-stimmten Aspekt von Kibirovs dichterischen Reflexionen gesellschaftlicher so-wie literarischer Werte enthalten. Dieses Schwerpunktthema wird unter der notwendigen Selektion und Reduktion in exemplarischen Einzeltextanalysen erarbeitet. Die Themenbereiche umfassen die Dekonstruktion sowjetischer Denkmuster (Kap. 3), die Reflexionen der Veränderungen, die später in Glas-nostʼ und Perestrojka gipfeln (Kap. 4), die Neuausrichtung des Schreibens im sich neu strukturierenden literarischen Feld (Kap. 5), die Entfaltung eines post-sowjetischen ideologischen Programms (Kap. 6), die Auseinandersetzung mit aus dem Westen rezipierten postmodernen intellektuellen Trends (Kap. 7) und die erneute Suche nach ideellen Grundlagen sowie literarischen Vorbildern, die sich insbesondere auf ausländische Prätexte stützt (Kap. 8).

32 1. EINLEITUNG

Interpretation‘ fasst er dabei das Verstehen aus der Vorstellungswelt von Leserin und Leser, das „dem fremd gewordenen Zeichen […] eine neue Bedeutung un-terlegt, die nicht der Vorstellungswelt des Textes, sondern der seines Auslegers entstammt […].“124 Die ‚grammatische Interpretation‘ wolle hingegen das ur-sprüngliche Textverstehen rekonstruieren und die historische Distanz überbrü-cken, etwa durch Aufarbeiten von unklarer Lexik und fremden Realien. Für Szondi sind beide Ansätze gleichwertig und v. a. im Zusammenspiel produktiv:

Erst der allegorische Zugriff führt über den positivistischen Stellenkommentar hinaus und generiert neue Fragen an den Text. Die grammatische Interpretation fungiert dabei als notwendiges Korrektiv, das Hypothesen auf den Text ver-pflichtet.125 Was die eigenen Interpretationen von Kibirovs Œuvre angeht, wird die weniger durch zeitliche als durch kulturelle Distanz geprägte allegorische Deutung v. a. durch das Erarbeiten der intertextuellen Bezüge sowie der Kontex-te, auf die die Texte reagieren, geerdet.

Mit dem Plädoyer für die intensive Auseinandersetzung mit dem einzelnen Text als Vorbedingung der Interpretation sowie dem Bestreben, die Gedichte als Ganzes und in der gegenseitigen Bezogenheit ihrer Elemente zu erfassen, folgt die Untersuchung strukturalistischen Prämissen, auch wenn kein close reading der verschiedenen sprachlich-poetischen Ebenen vorliegt,126 das die Begrenzung auf sehr wenige Einzeltexte erzwungen hätte. In dem beschriebenen Willen zum Verstehen und den Sympathien für die strukturalistische Textarbeit klingen letztendlich methodologische Prämissen von Henrieke Stahl an, bei der ich das literaturwissenschaftliche Handwerk gelernt habe,127 und der Anspruch, zwar keine „allgemeingültigen“, geschweige denn „objektiven“, aber auf textuellen Fakten begründeten und intersubjektiv nachvollziehbaren Interpretationen vor-zulegen.

Was die Vorgehensweise bzw. den Aufbau der Arbeit betrifft, sind die Kapi-tel chronologisch angeordnet und folgen dem Publikationsverlauf von Kibirovs Texten. Der Untersuchungszeitraum wird durch den 2009 erschienenen Ge-dichtband Греко- и римско-кафолические песенки и потешки begrenzt, auf

124 Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik, 19.

125Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik, 19: „Die grammatische Inter-pretation hingegen, historisch der allegorischen vorausgehend und also primär nicht als Ge-genposition, nicht als Kritik an ihr, zu verstehen, ist es dazu aus der Konsequenz ihrer Absicht geworden, das einst Gemeinte nicht in den Wirbel historischen Wandels hineinreißen zu las-sen, vielmehr in seiner Identität zu bewahren.“

126 Etwa nach Lotman – die Aufteilung in einzelne Analyseebenen ist besonders deutlich in der für Studierende adaptierten Einführung: Лотман, Ю. М.: Анализ поэтического текста. //

Лотман, Ю. М.: О поэтах и поэзии. СПб.: Искусство – СПБ 1996. 17–132.

127 Stahl, Henrieke: Interpretation als Dialog. Votum für eine strukturale Hermeneutik. In:

Coincidentia, Beiheft 2: Bildung und Fragendes Denken. Hg. von Harald Schwaetzer. Bern-kastel-Kues 2013. 117–137.

1.5. Theoretische Verortung und Aufbau der Arbeit 33 den 2010 ein erster Roman folgte. Nach diesem terminus ad quem erschienene Gedichte werden nur sporadisch berücksichtigt und vergleichend eingebunden;

die Erzählprosa sowie die jüngsten dramatischen Experimente verlangen per se nach einer gesonderten Betrachtung.

Mit jedem Kapitel werden zwei oder mehr Bücher abgedeckt, die einen be-stimmten Aspekt von Kibirovs dichterischen Reflexionen gesellschaftlicher so-wie literarischer Werte enthalten. Dieses Schwerpunktthema wird unter der notwendigen Selektion und Reduktion in exemplarischen Einzeltextanalysen erarbeitet. Die Themenbereiche umfassen die Dekonstruktion sowjetischer Denkmuster (Kap. 3), die Reflexionen der Veränderungen, die später in Glas-nostʼ und Perestrojka gipfeln (Kap. 4), die Neuausrichtung des Schreibens im sich neu strukturierenden literarischen Feld (Kap. 5), die Entfaltung eines post-sowjetischen ideologischen Programms (Kap. 6), die Auseinandersetzung mit aus dem Westen rezipierten postmodernen intellektuellen Trends (Kap. 7) und die erneute Suche nach ideellen Grundlagen sowie literarischen Vorbildern, die sich insbesondere auf ausländische Prätexte stützt (Kap. 8).

2. GRUNDLAGEN128

Vorliegende Arbeit soll nicht nur eine spezifische Fragestellung ausarbeiten, sondern auch grundsätzlich in Kibirovs Gesamtwerk einführen und eine Basis für weitere Forschungen zur Verfügung stellen. Daher geht den Einzeluntersu-chungen ein Grundlagenkapitel voran, das Fragen von allgemeiner Relevanz klärt. Dieser Überblick unterteilt das Werk nicht nur in Schaffensperioden (Kap.

2.2), sondern erörtert die unterschiedlichen Publikationsformen, in denen die Texte greifbar sind, und die Wegmarken der Publikationsgeschichte (Kap. 2.1).

Dies ist vor allem für die bewegte Frühphase aufschlussreich, in der zuerst der Eintritt in die verschiedenen literarischen Öffentlichkeiten (Samizdat, Tamizdat, offizieller Literaturbetrieb) stattfand und der Dichter sich anschließend innerhalb der post-sowjetischen Strukturen neu positionierte. Gerade bei der Frage nach den Umständen des literarischen Debüts und dem frühen Erfolg spielt die Ein-bindung in persönliche Netzwerke eine große Rolle. Initiierend war die Verbin-dung zu D. A. Prigov und Lev Rubinštejn, was es erlaubt, die Frage nach Kibirovs Verhältnis zum Konzeptualismus aus einer neuen Perspektive zu be-trachten. Nicht der Abgleich mit kompilierten typologischen Katalogen, sondern der Vergleich einzelner, durchaus unterschiedlicher Positionen von Konzept-künstlern, Kunst- und Literaturkritikern sowie die Suche nach Einflüssen spezi-fischer Personen verspricht eine Klärung (Kap. 2.3).

Im Dokument 33 3 (Seite 46-50)