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II. Perspektivische Klärung von Gender (Eva Schirmetz & Magdalena

2. Theoretische Diskurse zu Konstruktivismus und Dekonstruktivismus (Magdalena

2.9. Männlich-weiblich-menschlich – Die Vielfalt

2.9.1. Vielfalt – ergebnisoffen

„Our reality is constructed in such a way that biology is seen as the ultimate truth. This is, of course, not necessary. In other realities, for example, deities replace biology as the ultimate source of final truth. What is difficult to see, however, is that biology is no closer to the truth, in any absolute sense, than a deity; nor is the reality which we have been presenting” (Kessler/McKenna 2006, S. 187).

Die beiden Autorinnen Kessler und McKenna wollten mit diesem Satz nicht nur ausdrücken, dass weder die Biologie noch ein übergeordnetes göttliches Wesen, auch wenn es von uns Menschen immer wieder erhofft wird, uns die absolute

69 Wahrheit bieten können. Des Weiteren wird deutlich, dass das, was anders ist, wenn man unterschiedliche Wege und nicht nur einen Weg sieht, um die Welt zu betrachten, die vielen verschiedenen Möglichkeiten sind, die von den grundlegenden Annahmen, über die Art und Weise, wie die Welt funktioniert, herrühren. Was muss nun also als selbstverständlich angenommen werden und was nicht? Veränderungen hängen nichtsdestotrotz von den unverbesserlichen Propositionen ab, die jemand hat (vgl. Kessler/McKenna 2006, S. 187). So ist es durchaus möglich, die gesellschaft-lichen und kulturellen Kategorisierungen von Geschlecht und im Besonderen die Zweigeschlechtlichkeit aufzubrechen und damit die Vermehrung dieser. Das bedeutet im Grunde, dass dadurch, dass jemand seine Proposition, in diesem Fall der Vielfältigkeit von Geschlecht, in den Diskurs einbringt und artikuliert, die Ge-schlechter-Binarität und ihre eigentliche Unabhängigkeit von der Natur oder einer anderen absoluten Macht aufgedeckt und verändert werden kann (vgl. Butler 2014, S. 218). Durch das Akzeptieren der Künstlichkeit der Geschlechterkategorien, wodurch automatisch eine Abwendung von der Vorstellung von nur zwei Ge-schlechtern entsteht und die Wahrnehmung von mehreren Möglichkeiten von Geschlecht impliziert wird, entsteht ein Denken über Geschlecht, das gänzlich ohne Grenzen immer weiter ausgeweitet werden kann. So kann theoretisch gesehen eine unendliche Anzahl von Varianten von Geschlecht entstehen (vgl. Bublitz 2002, S.

71). Diese offene Sicht auf Geschlecht, die vielfältige Möglichkeiten zulässt, zeigt sich allerdings nicht nur theoretisch, sondern auch durch Forschungen aus anderen Disziplinen wie beispielsweise der Kulturanthropologie. Sie zeigt aufgrund ihrer Beschäftigung mit anderen Kulturen und deren Lebensweisen – und um nichts anderes geht es, wenn man hier von Geschlecht spricht – dass es durchaus Völker und Gesellschaften gibt, die nicht nur zwei Geschlechter kennen und akzeptieren. So kann die Ansicht, dass die Zweigeschlechtlichkeit nichts allgemein Natürliches ist durchaus gerechtfertigt werden. Mehrere Studien zeigen, dass es viele Gesellschaften gibt, in denen mehrere Geschlechter bekannt sind und auch aner-kannt werden. Viele Kulturen, die mehr als nur zwei Geschlechter kennen, verstehen die Geschlechtszugehörigkeit auch nicht als etwas für das ganze Leben Bindendes.

Sie sehen die Geschlechterwahl nicht als lebenslange Tatsache ohne Verände-rungsmöglichkeit. Hier geht es darum, dass die Genitalien und die Natur nicht als die ausschlaggebenden Faktoren gesehen werden. So zeigen uns Studien bzw. die Forschung über ursprüngliche, alte Völker und Kulturen oder auch über die heute

70 noch existierenden sogenannten Naturvölker, dass deren Initiationsriten, also der Wechsel vom Kind zum Erwachsenen bzw. zum Mann oder zur Frau oder einem anderen Geschlecht, etwas sind, das im Kollektiv und an Orten außerhalb des alltäglichen Lebenszusammenhangs stattfinden muss, um für alle und das Individuum selbst sozial anerkannt und wirklich zu werden. Diese alten Riten, Traditionen und sozialen Vorgänge innerhalb einer Gruppe zeigen uns, dass die Geschlechterzuschreibung, die Klassifikation und Kategorienaufstellung nichts anderes ist als eine kollektiv soziale Übereinkunft, bei der allgemein gültige Kriterien festgelegt werden über die die Geschlechtszugehörigkeit im Folgenden entschieden wird. Allerdings findet in diesen Vorgängen abhängig von der jeweiligen Situation und dem Einzelnen eine gewisse Validierung statt. Die ersten Studien und Forschungen zu dieser Thematik führte Margaret Mead schon in den 50er Jahren durch. Sie zeigte mit ihrer Arbeit, dass unsere damaligen und auch noch heutigen Ideen der Zweigeschlechtlichkeit auf gar keinen Fall etwas Selbstverständliches sein können.

Bei ihrer Arbeit verwies Mead auch immer wieder darauf, dass es Gesellschaften und Kulturen gibt, die mehr als nur zwei Geschlechter kennen und das es in diesen auch durchaus üblich ist, institutionell das Geschlecht zu wechseln bzw. es die gesellschaftlich anerkannte Möglichkeit dazu gibt (vgl. Wetterer 2010, S. 127f.).

Wichtig ist dabei, „dass die Menschen in allen Gesellschaften, gemessen allein an ihrer körperlichen Erscheinungsform, weit eher ein Kontinuum bilden, als in zwei differente Gruppen auseinander zu fallen; (…)“ (Wetterer 2010, S. 128). Diese Überlegung lässt im Grunde nur eine Schlussfolgerung zu und zwar, dass die Zweigeschlechtlichkeit, in die wir uns teilen, nur etwas Künstliches sein kann.

Um dies und das obige Zitat zu verdeutlichen, stelle man sich vor, man bekäme die Aufgabe, die Menschen nach Größe und Kraft zu reihen. Es wäre einem nicht möglich, alle Männer als größer und stärker darzustellen bzw. zu reihen als alle Frauen. Im Durchschnitt träfe die Behauptung, dass Männer stärker und größer sind als Frauen, durchaus zu, doch es gibt, wenn es um jedes einzelne Individuum geht, allerdings auch Frauen, die größer und stärker sind als so mancher Mann, wie man anhand unserer Forschung siehe Teil III./Kapitel 4.2.1. auch sehen kann. Daher fände hier ein kontinuierlicher Übergang und nicht die Teilung in zwei Gruppen statt.

Es kann also gesagt werden, dass alle AutorInnen, die sich mit der Thematik und Idee der „Viel-Geschlechter“ auseinander gesetzt haben und sich weiterhin damit beschäftigen, davon ausgehen, dass das Zwei-Geschlechter-Modell nicht der

71 Realität entspricht und in unserer modernen Gesellschaft, in der immer mehr Individuen mit anderer Geschlechtsorientierung dies nicht mehr verstecken wollen, ein Wandel stattfinden sollte. Einige Geschlechtsausprägungen (Lebenswelten) in unserer Kultur werden bereits als eigene Geschlechtskategorien betrachtet und auch als solche in der Wissenschaft, Forschung und im Alltag gehandhabt. So gehen wir hier in dieser Arbeit, aufgrund unserer theoretischen und literarischen Erfahrung und Auseinandersetzung mit dieser Thematik davon aus, dass es in unserer Gesellschaft vier große Geschlechter aus der Sicht eines gesellschaftlichen sexuellen Status gibt.

Diese werden bezeichnet als: der heterosexuelle Mann, die heterosexuelle Frau, der schwule Mann und die lesbische Frau. Weitere Aspekte, die hier zu berücksichtigen wären, um die Vielfalt zu erfassen und die in unserer Arbeit aus den Bereichen der biologischen, der psychologischen und der sozialen Sicht auf Geschlecht stammen, sind ganz allgemein die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane, die sexuelle Orientierung (heterosexuell, homosexuell oder bisexuell), die das Individuum emotional vertritt und für sich als passend verinnerlicht hat, die Repräsentation nach Außen (weiblich, männlich, uneindeutig, Frau gekleidet als Mann oder Mann gekleidet als Frau), den gewählten Beziehungstyp (nichterotische oder erotische Liebe), die Gruppenzugehörigkeit bzw. Selbst-Identifizierung (heterosexuell, homo-sexuell, bihomo-sexuell, transsexuell oder transvestitisch) und die jeweiligen Sexual-praktiken. Hinter diesen Aspekten stecken viele weitere Variationen und Möglichkeiten. Das „Viel-Geschlechter-Modell“ ist sozusagen erst im Entstehen und entwickelt sich mit jedem neuen Diskursbeitrag und jeder neuen Errungenschaft der Gender Debatte weiter. „Menschen sollen ihre Rollen individuell nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten annehmen und gestalten, nicht aber aufgrund ihres biologischen Geschlechts“ (Alfermann 1995, S. 37).

Konzepte, die dieser selbstgestalterischen Idee folgen wie beispielsweise das Androgynie-Konzept, das im Folgenden beschrieben wird, zeigen ebenfalls die Zerbrechlichkeit des Zwei-Geschlechter-Models auf Basis der Biologie und so eine mögliche Richtung um die Grenzen der Geschlechter aufzulösen.