• Keine Ergebnisse gefunden

II. Perspektivische Klärung von Gender (Eva Schirmetz & Magdalena

3. Entwicklung zur Geschlechtsidentität (Eva Schirmetz)

3.3. Identitätsentwicklung von jungen Erwachsenen

3.3.3. Entwicklungsaufgaben nach Robert J. Havighurst

3.3.3.1. Charakteristika der Entwicklungsaufgaben

Die Entwicklungsaufgaben von Havighurst werden durch drei verschiedene Charakteristika beschrieben und zwar durch die Interdependenz von Entwicklungs-aufgaben, die Häufigkeit und den Zeitpunkt des Auftretens und der Kulturab-hängigkeit.

90 1. Interdependenz von Entwicklungsaufgaben

Die Entwicklungsaufgaben können nicht voneinander getrennt werden, sondern hängen auch in vielfacher Hinsicht zusammen. Wenn eine Entwicklungsaufgabe einer früheren Entwicklungsstufe bewältigt oder auch nicht bewältigt wurde, hat dies Auswirkungen auf die späteren Entwicklungsstufen. Ein Beispiel dafür ist: Wer in der mittleren Kindheit nicht Lesen, Schreiben und Rechnen erlernt hat, wird im Jugendalter Schwierigkeiten haben, eine Berufsperspektive zu entwickeln und später als Erwachsener den Berufseinstieg nur schwer schaffen. Diese Entwicklungs-aufgaben beeinflussen nicht nur die Bewältigung der weiteren Entwicklungsstufen, sondern die Aufgaben hängen auch innerhalb der Entwicklungsstufen zusammen (vgl. Rothgang 2003, S. 92).

2. Häufigkeit und Zeitpunkt des Auftretens

Es gibt aber auch Entwicklungsstufen, die nur einmal zu bewältigen sind, wie beispielsweise die grundlegenden Techniken des Lesens, Schreibens und Rechnens zu erlernen. Werden diese Techniken beherrscht, müssen diese Entwicklungs-aufgaben nicht nochmal wiederholt werden. Im Gegensatz zu beispielsweise dem Zurechtkommen mit altersgleichen Personen. Diese Aufgabe muss in den unterschiedlichen Entwicklungsstufen immer wieder wiederholt werden, egal ob im Kindergarten, in der Schule, im Beruf oder auch im Altersheim (vgl. Rothgang 2003, S. 92f.).

3. Kulturabhängigkeit

Nach Havighurst gibt es auch universelle Entwicklungsaufgaben, die in allen Kulturen zu bewältigen sind. Unter diesen Aspekt fällt auch der Erwerb der männlichen und weiblichen Geschlechterrollen. Auf der anderen Seite gibt es auch kulturspezifische Entwicklungsaufgaben, die von Kultur zur Kultur unterschiedlich sind, wie beispiels-weise das Leben in einer Sippe und dann das Ablösen von dieser Herkunftsfamilie, wenn man diese verlässt (vgl. Rothgang 2003, S. 93). Die Entwicklung der Menschen wird somit von kulturellen Werten, Normen und Überzeugungen beeinflusst, denn es gibt Entwicklungsprozesse, die von bestimmten kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten geprägt werden (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 98).

91 3.3.3.2. Entwicklungsaufgaben im Überblick

Havighurst unterscheidet zwischen sechs Entwicklungsstufen und auch zwischen verschiedenen Entwicklungsaufgaben. Diese Einteilung der Entwicklungsaufgaben sollte als eine grobe Beschreibung der Aufgaben verstanden werden (vgl. Rothgang 2003, S. 93).

Entwicklungsaufgaben des Kindes- und Jugendalter (nach Havighurst 1976) Frühe Kindheit (0 – 6 Jahre)

1. Lernen zu laufen

2. Lernen, feste Nahrung aufzunehmen 3. Lernen zu sprechen

4. Lernen, die Ausscheidungsvorgänge zu kontrollieren

5. Lernen von Geschlechtsunterschieden und sexueller Scham

6. Bildung von Konzepten und Lernen sprachlicher Begriffe zur Beschreibung der physischen und sozialen Realität

7. Entwicklung der Bereitschaft, lesen zu lernen

8. Lernen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden und Entwicklung eines Gewissens

Mittlere Kindheit (6 – 12 Jahre)

1. Erlernen von Fähigkeiten, die für normales Spielen nötig sind

2. Aufbau einer gesunden Einstellung zur eigenen Person als einem wachsenden Organismus

3. Lernen, mit Altersgenossen zurechtzukommen

4. Erlernen einer passenden männlichen und weiblichen Rolle

5. Entwicklung grundlegender Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen 6. Entwicklung von Konzepten, die für das Verstehen des alltäglichen Lebens

notwendig sind

7. Entwicklung von Gewissen, Moral und Wertmaßstäben 8. Erreichen persönlicher Unabhängigkeit

9. Entwicklung einer Einstellung gegenüber sozialen Gruppen und Institutionen Adoleszenz (12 – 18 Jahre)

1. Erreichen neuerer und reiferer Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts

92 2. Erreichen einer männlichen und weiblichen Geschlechtsrolle

3. Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung und effektiven Nutzung des Körpers

4. Erreichen emotionaler Unabhängigkeit von den Eltern und anderen Erwachsenen

5. Vorbereitung auf Ehe und Familienleben 6. Vorbereitung auf eine berufliche Laufbahn

7. Erwerben eines Wertesystems und ethischen Systems als Richtschnur für das Verhalten – Entwicklung einer Ideologie

8. Anstreben und Erreichen eines soziale verantwortlichen Verhaltens Frühes Erwachsenenalter (18 – 30 Jahre)

1. Wahl eines Partners

2. Lernen, mit einem Ehepartner zu leben 3. Gründung einer Familie

4. Erziehen von Kindern 5. Führen eines Haushaltes 6. Beginn im Beruf

7. Verantwortung als Bürger übernehmen 8. Finden eines passenden Freundeskreises Mittleres Erwachsenenalters (ca. 30 – 60 Jahre)

1. Eigene Kinder darin unterstützen, verantwortliche und glückliche Erwachsene zu werden

2. Erreichen sozialer und öffentlicher Verantwortlichkeiten als Erwachsener 3. Erreichen und Aufrechterhalten befriedigender Leistungen im Beruf 4. Entwicklung angemessener Freizeitaktivitäten

5. Pflege der Beziehung zum Partner

6. Die physiologischen Veränderungen des mittleren Lebensalters akzeptieren und sich daran anpassen

7. Anpassung an alte Eltern

Späteres Erwachsenenalter (ab 60 Jahre)

1. Anpassung an das Nachlassen der Kräfte und der Gesundheit 2. Anpassung an den Ruhestand und ein vermindertes Einkommen 3. Anpassung beim Tod des Partners

4. Aufbau eines gezielten Anschlusses an die eigene Altersgruppe

93 5. In flexibler Weise die sozialen Rollen annehmen und sich daran anpassen 6. Aufbau befriedigender Lebensumstände

Tabelle 1: Entwicklungsaufgaben nach Havighurst (Rothgang 2015, S. 99f.)

Diese Auflistung der Entwicklungsaufgaben von Havighurst zeigt auf, wie vielfältig diese Aufgaben sind, die im Laufe des Lebens bewältigt werden sollen. Doch stellt sich die Frage, ob das Entwicklungsmodell, das ursprünglich 1948 erschienen ist, schlussendlich doch nur von historischem Interesse ist? Da die Entwicklungs-aufgaben von individuellen Wert- und Zielentscheidungen und gesellschaftlichen Anforderungen abhängig sind, die sich verändern können, können die Entwicklungs-aufgaben einem historischen Wandel unterliegen. Hier stellt sich die Frage, wie groß der Wandel ist und ob neue Entwicklungsaufgaben hinzukommen oder andere wegfallen (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 100f.).

3.3.4. Zusammenfassung der Entwicklungsmodelle

Freuds psychoanalytisches Entwicklungsmodell hat große Bedeutung für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung der frühen Kindheit. Doch liegt hier eine gewisse Befangenheit der Betrachtung vor. Während der Kindheit größerer Beachtung geschenkt wird, wird dem Erwachsenenalter nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. In der Praxis gilt es allerdings dies zu vermeiden. Die Psychoanalyse hat mit der Erkenntnis der kindlichen Sexualität eine aufklärende Wirkung erzielt und hat das Verständnis des menschlichen Verhaltens und der Entwicklung in die Wege geleitet.

Freud sieht die psychosexuellen Kräfte als sehr wichtig an und schenkt den Aspekten der Entwicklung der Wahrnehmung, des Denkens, dem Gedächtnis und der Sprache nur sehr wenig Beachtung. Das liegt offensichtlich daran, dass laut Freud innerpsychische Faktoren eine wichtigere Rolle spielen als äußere Faktoren (vgl.

Rothgang 2003, S. 82). Das Modell von Erikson ist auch in außerwissenschaftlichen Bereichen sehr beliebt, da seine Überlegungen sehr einleuchtend sind und sie jeder/jede mit eigenen Erfahrungen leicht abstimmen kann. Bei Eriksons

„Erweiterungsmodell“ von Freuds Konzept werden Entwicklungsphasen aufgestellt, die aber nicht kennzeichnen, welche Prozesse sie einleiten bzw. beenden. Es ist auch nicht ganz klar, wann die Phasen abgeschlossen sind. Allerdings ist Erikson mit seinem Verständnis von lebenslanger Entwicklung eines Menschen mit aktuellen

94 Strömungen der Entwicklungspsychologie im Einklang (vgl. ebd. 2003, S. 91).

Havighursts Entwicklungsmodell bietet eine wichtige Grundlage von Aufgaben und Anforderungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens zu bewältigen hat. Aus diesen Überlegungen lassen sich einfache Strategien zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in den verschiedenen Altersgruppen ableiten. Mit den altersbezogenen Angeboten der Sozialen Arbeit kann die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben ermöglicht und auch erleichtert werden. Durch die erfolgreiche Bewältigung dieser Aufgaben lernt man, dass man selbst Einfluss auf die eigene Entwicklung nehmen kann und sich auch selbst etwas zutrauen sollte. Dies wird auch im Konzept von Erikson beschrieben. Doch auch das Modell von Havighurst hat eine Schwachstelle aufzuweisen, da die drei Quellen, die bereits im Kapitel 3.3.3 kurz erläutert wurden, nicht aus empirischen Daten abgeleitet, sondern eher postuliert wurden. Dies muss allerdings nicht gegen die Praxisrelevanz sprechen (vgl. ebd. 2003, S. 100). Im Großen und Ganzen weisen alle drei Modelle wichtige Aspekte für die Entwicklungspsychologie des Menschen auf, haben allerdings auch kleine Mängel, die es zu berücksichtigen gilt.

Nicht nur diese Modelle erklären die Identitätsentwicklung eines Menschen, sondern auch die Umwelteinflüsse spielen bei der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung eine wichtige Rolle. Die Familie ist hier eine der zentralen Sozialisationsinstanzen, aber auch die Schule, die Peerkontakte und die Medien sind wichtige Einflussfaktoren, die in weiterer Folge erläutert werden.

3.4. Identität durch Sozialisation, Erziehung und Bildung

Sozialisation ist ein „(…) Prozeß der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt. Vorrangig thematisch ist dabei (…), wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt bildet“ (Geulen/Hurrelmann 1980, S. 51). Hier ist der Zusammenhang zwischen der Persönlichkeit eines Menschen, wie Eigenschaften, Einstellungen und Handlungskompetenzen und der Umwelt entscheidend (vgl. Rieländer 2000, S. 8). Der Sozialisationsprozess verläuft ein ganzes Leben lang und kann in unterschiedliche Phasen unterteilt werden. Die erste Phase ist die Säuglingsphase im Alter von 0 bis 1 Jahr. Die zweite Phase umfasst die frühe Kindheit im Alter von 2 bis 4 Jahren, in der die Familie und der Kindergarten

95 eine wichtige Sozialisationsinstanz darstellt. Im Alter von 5 bis 12 Jahren beginnt die dritte Phase. Hier verkörpern die Schule, aber auch die Medien zentrale Sozialisationsinstanzen. In der vierten Phase, ab dem 13. Lebensjahr, sind die Schule, die peer-group (die Gleichaltrigengruppe) und die Medien die wichtigsten Instanzen dieser Sozialisationsphase. Die fünfte Phase – also der Übergang ins Erwachsenenalter – kann man nicht genau von der Jugendphase abgrenzen. In dieser Phase spielt der Beruf eines Menschen die zentrale Rolle. Daher endet diese Phase auch mit etwa dem 65. Lebensjahr. Die sechste und letzte Phase gilt ab der Pensionierung (etwa 65. Lebensjahr) bis zum Tod (vgl. Jobst 2008, S. 160). Diese Phasen der Sozialisation eines Menschen lassen sich auch in primäre, sekundäre und tertiäre Sozialisation unterteilen. Jede dieser Phasen hat unterschiedliche Sozialisationsprozesse und -ziele, die zu unterscheiden sind. Der Sozialisations-prozess, der von klein auf erfolgt, wird in primäre und sekundäre Sozialisation gegliedert. Die primäre Sozialisation, die auch als frühkindliche Sozialisation bezeichnet wird, findet in den ersten fünf Lebensjahren statt. Hier spielt die Familie eine sehr zentrale Rolle für die Sozialisation eines Kindes, in der geschlechts-spezifische Rollenbilder bewusst aber auch unbewusst den Kindern vorgelebt werden. Die sekundäre Sozialisation umfasst die darauf folgenden Lebensabschnitte eines Menschen bis zum Ende der Adoleszensphase. Der Schuleintritt sowie der Abschluss der ödipalen Phase aus der Sicht der psychoanalytischen Entwicklungstheorie sind die Übergänge von der primären zur sekundären Sozialisation. In dieser Phase haben die Schule, die Peerkontakte und die Medien großen Einfluss auf die Sozialisation des Kindes/der Jugendlichen. Kinder/

Jugendliche lernen sich beispielsweise von den Eltern abzugrenzen, indem sie Beziehungen zu außerfamiliären Personen eingehen. Die tertiäre Sozialisation umfasst das Erwachsenenalter bis zum Tod, in der es beispielsweise um die eigene Familiengründung und um die Berufslaufbahn geht (vgl. Rieländer 2000, S. 8).

In weiterer Folge werden wir auf die drei Phasen der Sozialisationsprozesse genauer eingehen. Wobei die tertiäre Sozialisation nur kurz thematisiert wird, da sie für unsere Arbeit nicht relevant ist.

96 3.4.1. Primäre Sozialisation

Wie bereits oben erwähnt, wird die primäre Sozialisation, als der Sozialisations-prozess der ersten fünf Jahre verstanden. In dieser Sozialisationsphase entwickelt das Kind seine menschlichen Fähigkeiten. Zu diesen menschlichen Fähigkeiten zählen: „die Fähigkeit zu planvollem Handeln, Sprachfähigkeit, bewußtes Erfassen der Umwelt, die Fähigkeit, das Verhalten anderer Menschen gezielt zu beeinflussen, Selbstbewußtsein, Gruppenbewußtsein, die Fähigkeit zu bewußter Kooperation mit anderen Menschen“ (Rieländer 2000, S. 8). Zentrales Ziel der primären Sozialisation ist also, dass am Ende die sozialisierte Person ein nützliches Mitglied der Gesellschaft ist.

3.4.1.1. Familie und Erziehung als Sozialisationsinstanz

Durch wichtige Personen im Leben eines Menschen vollzieht sich die primäre Sozialisation, indem man sich mit ihnen identifiziert. Am Anfang des Prozesses sind es die Eltern, die Geschwister, später sind es die KindergartenpädagogInnen im Kindergarten und die LehrerInnen in der Schule. Die Identifikation mit diesen Personen ist sehr wichtig für den Sozialisationsprozess, da wir für diese Personen positive Gefühle entwickeln (vgl. Steins 2003, S. 84). In unserer Gesellschaft, in der von dem System der Zweigeschlechtlichkeit ausgegangen wird, verläuft der Sozialisationsprozess von Mädchen und Jungen unterschiedlich (vgl. Thuma-Lobenstein 1993, S. 35).

„Je nach Geschlechtszugehörigkeit konstituieren sich jeweils unterschiedliche Lebenszusammenhänge von Menschen, die weiblichen und die männlichen – bei allen Brüchen durch die Schichtzugehörigkeit. Wenn somit die gesell-schaftliche Platzierung von Frauen und Männern anders ist, dann muß auch die Sozialisation von Mädchen und Jungen als Vorbereitung auf diese Platzierung unterschiedlich verlaufen“ (Nyssen 1990, S. 32).

Schon am Anfang einer Schwangerschaft beginnt die Differenzierung zwischen den Geschlechtern. Es werden Spekulationen über das Geschlecht des Kindes aufge-stellt und im Zuge dessen kommt es dem Geschlecht entsprechend zu Merkmalszu-schreibungen. Diese beeinflussen das elterliche Handeln und die Einstellung gegenüber dem heranwachsenden Kind. Petra Zienitzer (1999) verweist hier auf

97 Elena Belotti (1975), die über Schwangerschaft Folgendes schrieb: „(…) das Spiel der verschiedenen Eigenschaften von männlichen und weiblichen Wesens beginnt genau hier, noch ehe die Kinder geboren sind, und hört niemals mehr auf“ (Belotti 1975 zit. n. Zienitzer 1999, S. 7). Die Differenzierung der Geschlechter findet schon sehr früh statt und wird das Individuum das ganze Leben lang begleiten. Christa Bast (1991) sagt dazu: „Das Kind wird nicht als ‚geschlechtsneutrales‘ unverwechselbares Individuum mit je spezifischen Eigenschaften, Merkmalen und Fähigkeiten, die es herauszubilden, zu festigen und zu fördern gilt, begriffen, sondern das Kind wird bereits vor und spätestens bei seiner Geburt differenziert gesehen, als Mädchen oder als Junge“ (Bast 1991, S. 23f.). Nach der Geburt des Kindes ist meist die erste Frage, die von den Verwandten und Bekannten gestellt wird, die nach dem Geschlecht des Kindes. Bei der Namensgebung kommt auch das Geschlecht des Säuglings zum Ausdruck. Steht der Name fest, ist diese Angabe die wichtigste Information für die Umwelt des Kindes, um es geschlechtlich zuzuordnen, denn aufgrund dessen wird das Verhalten gegenüber dem Kind angepasst. Die Zuschreibung zu einem Geschlecht bedeutet für die Kinder, dass sie ständig in einer zweigeteilten Welt leben. Dies hat auch Konsequenzen für das weitere Leben eines Kindes, da es schon von Anfang an mit unterschiedlichen Wahrnehmungen, Einstellungen und Bewertungen leben muss. Es entstehen unterschiedliche Einstellungs- und Erwartungshaltungen der Eltern gegenüber Mädchen und Jungen, die wiederum an die Geschlechterrollenstereotypen gebunden sind. Mädchen werden Eigenschaften wie zart, niedlich, zerbrechlich und süß zugeschrieben.

Jungen hingegen bekommen Eigenschaften wie kräftig, stark, groß und mobil zugeschrieben (vgl. Zienitzer 1999, S. 8). Und da man nicht von vornherein den Namen einer Person weiß, müssen andere Maßnahmen gesetzt werden, um das Geschlecht einer Person sichtbar zu machen. Dazu wird Kleidung, Frisur und Schmuck verwendet. In unserer Gesellschaft ist es meist so, dass Mädchen rosa Strampelanzüge oder Kleidchen tragen, lange Haare haben, Schmuck tragen und wenn sie größer sind, auch Ohrlöcher/Ohrringe bekommen. Bei Jungen ist es so, dass sie nach der Geburt blaue Kleidung tragen und später meist Hosen. Sie haben auch kurze Haare und tragen kaum Schmuck. Dies hat sich zwar in den letzten Jahren gelockert, so tragen heute manchmal auch Jungen Schmuck wie Ohrringe, Ketten und Ringe, die traditionelle Zuordnung ist aber in der Praxis der Inszenierung weitgehend erhalten geblieben. (vgl. Faulstich-Wieland 2000, S. 9). Eltern haben

98 nicht nur Einfluss auf die Kleidung und die Frisur ihres Kindes, sondern sie haben auch unterschiedliche geschlechtsspezifische Funktionen und Aufgaben innerhalb der Familie. Daher erfahren die Kinder ihre Eltern nicht als gleich, sondern bekommen die Tätigkeiten von Mutter und Vater in der jeweiligen Rolle vorgelebt. Da Kinder ihre Eltern als Vorbilder sehen, beobachten sie das Verhalten der Eltern und imitieren dieses. Daher übernimmt die Familie eine sehr wichtige Funktion in der Vermittlung von geschlechtsspezifischen Rollenbildern (vgl. Schultz 1978, S. 20). Die Eltern können aber nicht unbelastet als Vorbilder wirken, da sie selbst einen geschlechtsspezifischen Sozialisationsprozess durchlaufen haben. Sie erziehen ihre Kinder diesbezüglich als richtige Mädchen und richtige Jungen. Für die Erziehung und Vermittlung werden bewusst und auch unbewusst gewisse Erziehungstechniken und Einstellungen verwendet, um den gesellschaftlichen Werten und Normen zu entsprechen (vgl. Scheu zit. n. Zienitzer 1999, S. 6). Familie ist also die wichtigste Sozialisationsinstanz in der frühen Kindheit. Normalerweise ist die Mutter die wichtigste Bezugsperson eines Kindes, doch aufgrund von Unregelmäßigkeiten und der Form des Kontaktes kann die Beziehung zwischen Mutter und Kind beeinflusst werden. Häufig verbringen die Kinder ihre ersten Lebensjahre in einem Haushalt mit Mutter, Vater und vielleicht auch mit Geschwistern. Doch es gibt viele verschiedene Formen der Familienkonstellation. Manche Kinder wachsen auch in Alleinerzieher-Innenhaushalten auf. Andere hingegen wachsen in Haushalten auf, wo geschiedene Elternpaare ein/eine neue/n Partner/in haben. Trotz der Unterschiede in der Familienkonstellation ist die Familie die Hauptsozialisationsinstanz von klein auf bis zur Jugend (vgl. Giddens et al. 2009, S. 147). Die Mitglieder einer Familie beeinflussen sich also gegenseitig in ihrem Fühlen, Handeln und Denken. Das interaktive Handeln zwischen den Familienmitgliedern wie Vater, Mutter, Tochter und Sohn und deren Rollenzuschreibungen, werden dadurch bestimmt. Daher ist Familie die Gruppe, mit der das Individuum am intensivsten verbunden ist und in die sich das Individuum am ehesten integrieren will (vgl. Rieländer 2000, S. 11). In den ersten Lebensjahren erwirbt das Kind wesentliche Verhaltens- und Interaktionsformen, die sich zu Persönlichkeitszügen entwickeln. Erfahrungen und Erlebnisse in der Kindheit prägen die weitere Entwicklung des Kindes. Das Kind lässt sich durch Erfahrungen nur deshalb leicht prägen, da das Kind fast keine angeborenen Verhaltens-regulationen besitzt. Es ist von klein auf auf seine Lebensgemeinschaft und deren Mitglieder angewiesen und lässt sich deshalb von erfahrenen Interaktionen prägen.

99 Kinder zeigen daher auch eine hohe Lernbereitschaft und Lernfähigkeit. Das Kind macht seine Erfahrungen im Normalfall in der sozialen und materiellen Umwelt der Familie, daher ist es fast selbstverständlich, dass das Kind von den Interaktionsformen und der Kommunikation untereinander geprägt wird (vgl.

Rieländer 2000, S. 11). Durch die Zuneigung der Personen fällt es Kindern leicht, Neues zu erlernen und sie sind auch motivierter die Familienmitglieder zu imitieren.

Je öfter Kinder das Verhalten von anderen Personen imitieren und dies in Rollenspielen vertiefen, desto besser wird dieses Verhalten erlernt. Im Laufe der Zeit lösen wir uns von der personenbezogenen Identifikation und widmen uns der Internalisierung abstrakter Normen (vgl. Steins 2003, S. 84f.). Spielsachen haben ebenfalls einen sehr hohen Einflussfaktor auf die Prägung der geschlechtsspezifischen Sozialisation des Kindes. Denn bereits im Säuglingsalter werden durch unterschiedliche Farben und Formen der Mobiles geschlechts-spezifische Unterschiede gemacht. Mädchen bekommen Mobile mit Blumen und Puppen, während für Buben eher Autos und Flugzeuge ausgesucht werden (vgl.

Zienitzer 1999, S. 15). Bis zum 2. Lebensjahr werden den Kindern meistens geschlechtsneutrale Spielsachen angeboten. Ab dem 3. Lebensjahr fängt es an, dass man unterschiedliche Spielsachen für Buben oder Mädchen kauft. Denn ab diesem Alter werden die Kinder von dem Besitzstand anderer Kinder, den Medien und der Werbung beeinflusst. Buben bekommen mehr Spielzeug als Mädchen, was daran liegen kann, dass Mädchen auch zusätzlich hübsche Kleidung und Schmuck bekommen (vgl. Thuma-Lobenstein 1993, S. 39). Je älter die Kinder werden, desto eher wird eine Differenzierung zwischen Buben- und Mädchenspielzeug vorgenommen (vgl. Zienitzer 1999, S. 15).

Bei der Familie als Sozialisationsinstanz darf man auch auf keinen Fall die Erziehung außer Acht lassen, da sie auch die Identität des Kindes beeinflussen kann. Denn je nachdem wie das Kind erzogen wird, kann es sich frei entfalten und eine eigene Persönlichkeit entwickeln oder nicht. Eltern formulieren für sich Erziehungsziele, welche sie bei ihren Kindern durchsetzen möchten. Diese Erziehungsziele beinhalten Werte, Normen und Vorstellungen, geben also vor, in welche Richtung das Kind geformt werde soll. Mit den verschiedenen Erziehungsstilen werden diese Erziehungsziele umgesetzt. Nach Diana Baumrind (1966) gibt es drei Erziehungsstil-Typologien, die zu unterscheiden sind. Er definiert den autoritativen, den autoritären und den nachgiebigen Erziehungsstil. In weiterer Folge wird kurz auf den

100 autoritativen und den autoritären Erziehungsstil eingegangen. Die autoritative Erziehung ist eher eine offene, lockere Erziehung. Bei diesem Erziehungsstil dürfen alle ihre eigenen Meinungen äußern. Die Eltern gehen auf die Bedürfnisse der Kinder ein. Sie unterstützen ihre Kinder in ihrer Selbstständigkeit und Individualität. Die Kinder werden bei Entscheidungen miteinbezogen, im Gegensatz dazu erwarten die Eltern ein altersentsprechendes reifes Verhalten der Kinder. Die Eltern sind auch

100 autoritativen und den autoritären Erziehungsstil eingegangen. Die autoritative Erziehung ist eher eine offene, lockere Erziehung. Bei diesem Erziehungsstil dürfen alle ihre eigenen Meinungen äußern. Die Eltern gehen auf die Bedürfnisse der Kinder ein. Sie unterstützen ihre Kinder in ihrer Selbstständigkeit und Individualität. Die Kinder werden bei Entscheidungen miteinbezogen, im Gegensatz dazu erwarten die Eltern ein altersentsprechendes reifes Verhalten der Kinder. Die Eltern sind auch