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II. Perspektivische Klärung von Gender (Eva Schirmetz & Magdalena

3. Entwicklung zur Geschlechtsidentität (Eva Schirmetz)

3.2. Theorien der Geschlechterrollenentwicklung

3.2.4. Theorie des Geschlechtsschemas

Die Unterscheidung zwischen weiblich und männlich ist sehr wichtig, daher sollte man auch andere Aspekte einer Kultur daran messen. Man denke beispielsweise an ein Kind, das zum ersten Mal in den Kindergarten kommt. Dem Kind werden neue Spielsachen und andere Aktivitäten angeboten und es muss sich entscheiden, welche Spielsachen es ausprobieren bzw. welchen Aktivitäten es nachgehen möchte. Die Kultur hebt hier bei dieser Entscheidung ein Kriterium ganz besonders hervor und zwar dass das Kind darauf achten sollte, dass es das Spielzeug wählt, das dem eigenen Geschlecht entspricht. Das Kind wird ständig darauf aufmerksam gemacht, bei allem und jedem auf das Geschlechtsschema zu achten. Eltern vermitteln das Geschlechtsschema aber eher indirekt. Vielmehr sind sie im kulturellen Alltag inbegriffen. Kinder lernen im Laufe der Zeit das Geschlechtsschema auf sich selbst anzuwenden. Sie organisieren ihr Frau-Sein und Mann-Sein und schätzen ihren Selbstwert danach ein. Daher ist diese Theorie, eine Theorie der Geschlechtsidentität. Bei dieser Theorie wird das entwickelnde Kind als aktiver Gestalter der eigenen Sozialisation gesehen. Die Kinder bilden geschlechtstypisches Verhalten aus, da das Geschlecht im zentralen Fokus steht. Aus dieser Theorie des Geschlechtsschemas folgt, dass in einer Kultur, in der die Geschlechtsstereotypen weniger stark betont werden, die Kinder auch weniger geschlechtstypisches Verhalten aufweisen werden (vgl. Grabowski/Van der Meer 2001, S. 99ff.).

Diese theoretischen Ansätze werden in weiterer Folge als Modelle der Identitätsentwicklung vorgestellt, die für junge Erwachsenen und deren Entwicklung wichtig sind.

84 3.3. Identitätsentwicklung von jungen Erwachsenen

Wir möchten hier auf das psychoanalytische Entwicklungsmodell von Freud und auf die psychosoziale Entwicklung nach Erikson eingehen. Darauf wird das Konzept der Entwicklungsaufgaben von Robert J. Havighurst (1948) vorgestellt.

3.3.1. Psychoanalytisches Entwicklungsmodell von Sigmund Freud

In Freuds Entwicklungsmodell aus den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts beschreibt er fünf Phasen der menschlichen Entwicklung. Die Zeitangaben zu den Entwicklungsphasen sind nur grobe Anhaltspunkte mit gleitenden Übergängen der Phasen (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 81f.). Die erste Phase ist die orale Phase, in der der Mund, die Lippen und die Mundschleimhaut im Mittelpunkt des Triebgeschehens stehen. Kinder nehmen in dieser Phase Gegenstände in den Mund, saugen daran und nehmen über den Mund Dinge auf. Das wird als lustvoll erlebt. Säuglinge machen die Erfahrung, dass sie ohne eigene Anstrengung das haben können, was sie brauchen. Das Kind entwickelt eine Objektbeziehung zur Hauptpflegeperson, meist ist dies die Mutter. Der Säugling macht auch die Erfahrung, dass seine oralen Bedürfnisse nicht immer sofort gestillt werden. Mit zunehmender motorischer Entwicklung können sich die Kinder auch selbst Lust bereiten, indem sie Dinge ergreifen, sich in den Mund stecken und daran saugen.

Werden diese oralen Bedürfnisse nicht ausreichend und regelmäßig gestillt oder wird jedes Schreien beispielsweise mit Nahrungszufuhr befriedigt, kann diese Phase nicht richtig durchlaufen werden und es kommt zu einer Fixierung auf diese Phase. Dies kann im Erwachsenenalter zu psychischen Konfliktsituationen führen. Diese Konflikte werden dann mit viel Essen und/oder Trinken oder durch Suchtmittel „bewältigt“ (vgl.

Rothgang/Bach 2015, S. 83).

Die zweite Phase ist die anale Phase, in der man nach Freud verschiedene Erlebnisinhalte beobachten kann. Zuerst geht es um das Hergeben und Behalten des Darminhalts. Diese Thematik des Haben- und Behalten-Wollens spielt in der oralen Phase schon eine Rolle. Man kann hier auch beobachten, dass Kindern in diesem Alter das Hergeben ihrer Sachen sehr schwer fällt. In dieser Phase taucht das Besitzmotiv auf, indem es uns schwer fällt abzugeben und zu teilen. Die Kinder haben die Möglichkeit der Verweigerung. Sie können sich den elterlichen Wünschen

85 und Forderungen widersetzen. Das Kind lernt, dass es sich bei seinen Ausscheidungen nicht nach den Wünschen der Eltern/Erwachsenen richten muss.

Der eigene Wille des Kindes steht hier im Vordergrund und spielt eine sehr wichtige Rolle, die über den Bereich des Analen hinausgeht. Dies zeigt sich, wenn sich Kinder nicht anziehen lassen oder wenn Kinder nicht mehr weitergehen, wenn es die Eltern eilig haben. Das Kind erlebt auch seine eigene Produktivität. Einerseits im Bereich des Analen und andererseits durch die verbesserte Motorik. Im Bereich des Analen geht es für die Ausscheidung gezielt in die Toilette, wofür die Kinder von ihrer Umwelt gelobt werden. Im motorischen Sinn geht es um die selbstständige Schaffung von Erlebnissen durch das eigene Handeln. Diese Entwicklung sollte nicht durch ständiges Eingreifen und Verbessern erschwert werden. Allerdings sollte das Kind auch Einschränkungen erfahren, wenn es sich selbst oder andere damit gefährdet. Das Kind wird in der analen Phase erstmals mit der Kategorie Ordnung und Zeit konfrontiert. Im Zusammenhang mit der Sauberkeitserziehung lernt das Kind, dass es sich nicht überall lustvoll gehen lassen kann, sondern sich an die gesellschaftlichen und kulturellen Normen und Regeln anpassen muss. Die nächste Phase ist die phallische Phase, in der sich das kindliche Interesse auf den Genitalbereich richtet. Dies kann man an unterschiedlichen Aktivitäten, wie das Vorzeigen der Genitalien oder an sexuellen Spielereien beobachten. Diese Aktivitäten sind keinesfalls bedenklich, sondern ganz normal in der Entwicklung eines Kindes. In der Latenzperiode spielt der Triebimpuls der letzten Phasen eine Rolle, verliert aber an Intensität. In dieser Phase geht es eher um sachliche als um sexuelle Interessen. Hier kann man von einer sehr ruhigen Entwicklungsstufe sprechen. In der genitalen Phase geht es um die Ablösung von den Eltern und um das Finden neuer Triebobjekte außerhalb der Familie. Freud widmet dieser Phase nur wenig Aufmerksamkeit. Seine Tochter Anna Freud (1958/1969) hingegen hat sich mit dieser Phase intensiver beschäftigt (vgl. ebd. 2015, S. 84ff.). Anna Freud beschreibt für diese Phase vier Mechanismen:

1. Verhärtung: Den Eltern gegenüber verhalten sich die Kinder/jungen Menschen gefühllos und andere Personen außerhalb der Familie werden angehimmelt.

2. Umkehr der Affekte: Positive Gefühle gegenüber den Eltern werden ins Gegenteil verkehrt. Liebe wird zu Hass, Abhängigkeit wird zu Revolte und aus Bewunderung wird Verachtung.

86 3. Abwehr durch Rückzug: Wenn die Übertragung der Libido auf außerfamiliären Personen nicht funktioniert, besteht die Möglichkeit, dass die Libido bei der eigenen Person verbleibt. Die kann dann zu Selbstüberschätzung oder zu Fixierung auf den eigene Körper führen.

4. Abwehr durch Regression: Es kann auch zu einer Regression auf die phallische Phase kommen, indem eine Totalidentifikation mit den Eltern stattfindet. Man ordnet sich wieder dem Willen der Eltern unter und man weiß nicht mehr, was man eigentlich selbst will.

Bei ihr werden extreme Abwehrformen beschrieben, die man in schwächerer Form bei fast allen Jugendlichen beobachten kann (vgl. ebd. 2015, S. 86f.).

In weiterer Folge wird auf das Entwicklungsmodell von Erikson eingegangen, dass in zeitlicher und inhaltlicher Weise an das psychoanalytische Entwicklungsmodell von Sigmund Freud anschließt.

3.3.2. Entwicklungsmodell von Erik Erikson

Eriksons Entwicklungsmodell ist eine Erweiterung und Weiterentwicklung des psychoanalytischen Entwicklungsmodells von Freud. Sein Modell teilt die mensch-liche Entwicklung in acht Phasen ein, die das gesamte Leben umfassen. Erikson geht wie Freud von psychosexuellen Kräften aus. Dennoch ist er stärker auf die sozialen Bezüge innerhalb der Entwicklung fokussiert. Nach Erikson ist die Ent-wicklung eines Menschen ein Zusammenspiel von körperlichen, psychischen und sozialen Prozessen (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 88). Nach Auffassung von Erikson ist die Identitätsentwicklung eine immer wiederkehrende Wechselwirkung zwischen einem Menschen und der Gesellschaft. Die psychosoziale Entwicklung folgt einem universellen Grundschema. In diesem Schema werden bestimmte Thematiken im menschlichen Lebenslauf in einer Abfolge unterschieden. Jede Thematik besteht das ganze Leben lang, doch in einer bestimmten Phase des Lebens dominiert und verschärft sich diese zu einer potentiellen Krise. In dieser Krise schwankt das Individuum zwischen zwei Polen der betreffenden Thematik. Der Konflikt wird durch Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft ausgelöst. Dieser Konflikt kann auch zu einer weiteren Krise führen. In dieser Krise fühlt sich das Individuum zu beiden Polen hingezogen. Das Individuum muss sich selbst mit diesen ambivalenten

87 Gefühlen beschäftigen, sie verarbeiten und eine Lösung dafür finden. Danach wird die Phase abgeschlossen (vgl. Haußer 1995, S. 75f.).

In der ersten Phase, dem Säuglingsalter (Vertrauen im Gegensatz zu Misstrauen), besteht die Krise darin, dass sich die Mutter (Bezugsperson) räumlich-zeitlich von dem Kind entfernt. Das Kind kann sich also nicht sicher sein, dass die Mutter wieder zurückkommt (vgl. Haußer 1995, S. 76f.). Das Grundvertrauen entsteht, wenn das Kind von der Umwelt Fürsorge erfährt und Nahrung, Wärme, Kontakt, Zuwendung etc., also bekommt, was es braucht. Wird diese Fürsorge auf gleichbleibende Weise gesichert, so gewinnt das Kind an Vertrauen und Sicherheit und kann sich auf seine Umwelt und auch auf sich selbst verlassen. Beides zusammen macht für Erikson das Grundvertrauen aus und stellt einen stabilen Grundstein für die weitere Entwicklung dar (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 90).

Die zweite Phase, das Kleinkindalter (Autonomie vs. Scham und Zweifel), entspricht der analen Phase von Freuds Entwicklungsmodell. Erikson weist hier aber nicht nur auf die Ausscheidungsvorgänge hin, sondern auch auf die Bedeutung, die die zunehmende Muskelkontrolle für das Kind hat. Das Kind ist nicht mehr nur auf die Umwelt angewiesen, sondern entwickelt eine Autonomie. Doch in dieser Entwicklung der Autonomie kommt es zu Misserfolgen, die dann Scham entstehen lassen können (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 90). Es geht um den Konflikt des Festhaltens und Loslassens, setzt das Kind seinen Willen durch oder passt es sich den Wünschen der Eltern an. Unterordnen heißt so viel wie sich schämen oder zweifeln. Das Kind kann nur eine autonome Persönlichkeit entwickeln, wenn es in der vorausgegangenen Phase Vertrauen gelernt hat (vgl. Haußer 1995, S. 77).

In der dritten Phase, dem Spielalter (Initiative vs. Schuldgefühle), spielen ödipale Konflikte eine Rolle, wie bei Freud. Das Kind fühlt sich durch die vorherige Ent-wicklung mächtig genug, um alles Mögliche zu unternehmen und auszuprobieren. Es lernt, dass es Grenzen gibt, woraus sich Schuldgefühle entwickeln können (vgl. ebd.

1995, S. 77).

Das Schulalter ist die vierte Phase (Tätigkeit vs. Minderwertigkeitsgefühle) und kann mit der Latenzperiode von Freud verglichen werden. In dieser Phase ist das Kind gefordert Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. In der Schule werden aber auch Defizite, Schwächen und persönliches Scheitern deutlich. Daher ist es wichtig, dass Kinder unterstützt werden und Anerkennung bekommen (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 91f.). Durch weitere Tätigkeiten, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die das Kind schon

88 beherrscht, will sich das Individuum Anerkennung verschaffen. Gelingt dies allerdings nicht, können Minderwertigkeitsgefühle entstehen (vgl. Haußer 1995, S. 77).

Die fünfte Phase, die Adoleszenz (Identität vs. Identitätsverwirrung), ist durch die Auseinandersetzung mit Zielen, Werten und Überzeugungen gekennzeichnet.

Frühere eigene Erfahrungen, die Fähigkeiten und Rollenausübungen werden zur Identität integriert. Wenn dies nicht gelingt, kommt es zu Identitätskonfusion oder Identitätsdiffusion. Dies ist der Zustand, in dem Jugendliche über sich selbst im Unklaren sind und keine Zukunftsperspektiven sehen. Es entstehen Verwirrungen durch die Überforderung, sich für eine/n PartnerIn, einen Beruf oder eine politische Überzeugung zu entscheiden (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 93/Haußer 1995, S. 77).

In der nächsten, der sechsten Phase, der des frühen Erwachsenenalters (Intimität vs.

Isolierung), ist die gelungene Identitätsfindung in der 5. Phase die Voraussetzung für die weitere Entwicklung, in der enge dauerhafte Bindungen eingegangen werden (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 95). Intimität kann man nur erfahren, wenn man seine Identität entwickelt hat. Wenn die Fähigkeit der Intimität nicht gegeben ist, entsteht Isolation (vgl. Haußer 1995, S. 77).

Unter der siebten Phase, der des Erwachsenenalters (schöpferische Tätigkeit vs.

Stagnation), versteht Erikson die Produktivität der Arbeit und den Wunsch, eigene Kinder zu haben und diese zu erziehen. Ist dies nicht der Fall, kann das Gefühl der Stagnation, Verarmung auftreten (vgl. Haußer 1995, S. 77). Entsteht Stagnation, kann sie entweder depressiver oder narzisstischer Natur sein. Mit depressiver Stagnation ist gemeint, dass die eigene Entwicklung nicht weiter voranschreitet und man nichts bewirkt oder weitergibt. Bei der narzisstischen Stagnation kümmert man sich nur noch um sich selbst, das eigene Wohlergehen und vergisst oder berücksichtigt nicht, was nach einem kommt (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 96).

Die letzte und achte Phase, das Alter (Integrität vs. Verzweiflung), ist gekennzeichnet durch das Bestreben, mit seinem eigenen Leben zufrieden zu sein und es als harmonisch zu empfinden. Auf der anderen Seite kann Verzweiflung und Ablehnung empfunden werden (vgl. Haußer 1995, S. 77).

Wie man sehen kann, ist die Phasenlehre der psychosozialen Entwicklung nach Erikson das Modell einer lebenslangen Entwicklung, das in der Entwicklungs-psychologie heute gang und gäbe ist. Gegenüber Eriksons Entwicklungsmodell liefert Havighurst eine noch weiter ausgearbeitete Beschreibung der Entwicklung eines Menschen.

89 3.3.3. Entwicklungsaufgaben nach Robert J. Havighurst

Im Zusammenhang mit sozial- emotionalen Aspekten der Entwicklung im Jugendalter wird klar, dass Entwicklung nicht etwas ist, das von selbst passiert, sondern die Jugendlichen müssen sie anhand von Entwicklungsaufgaben selbst und aktiv bewältigen (vgl. Rossmann 2010, S. 145). Havighurst erarbeitete erstmals das Konzept der Entwicklungsaufgaben während der 1940er Jahre. Er geht davon aus, dass in den einzelnen Lebensabschnitten gewisse Entwicklungsaufgaben zu lösen sind (vgl. Rothgang 2003, S. 91). Havighurst definierte den Begriff der Entwicklungsaufgaben wie folgt:

„Eine Entwicklungsaufgabe ist eine Aufgabe, die in oder zumindest ungefähr zu einem bestimmten Lebensabschnitt des Individuums entsteht, deren erfolgreiche Bewältigung zu dessen Glück und zum Erfolg bei späteren Aufgaben führt, während das Misslingen zu Unglücksein, zu Missbilligung durch die Gesellschaft und zu Schwierigkeiten mit späteren Aufgaben führt“

(Havighurst 1976 zit. n. Rothgang/Bach 2015, S. 97).

Diese Entwicklungsaufgaben entstehen aus drei unterschiedlichen Bereichen, wobei diese drei Quellen in der Regel zusammenwirken. Die Entwicklungsaufgaben entstehen „durch körperliche Reifung, den Druck des kulturellen Prozesses auf das Individuum, die Wünsche, Ziele und Werte der entstehenden Persönlichkeit (…)“

(Havighurst 1976 zit. n. Rothgang 2003, S. 91f.). Havighurst ist es wichtig, dass der Frage nachgegangen wird, was Biologie, Psychologie, Soziologie und Sozialanthro-pologie zu den Entwicklungsaufgaben beitragen können. Hiermit macht Havighurst deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Menschen eine multidisziplinäre Ansicht erfordert (vgl. Rothgang 2003, S. 92).

3.3.3.1. Charakteristika der Entwicklungsaufgaben

Die Entwicklungsaufgaben von Havighurst werden durch drei verschiedene Charakteristika beschrieben und zwar durch die Interdependenz von Entwicklungs-aufgaben, die Häufigkeit und den Zeitpunkt des Auftretens und der Kulturab-hängigkeit.

90 1. Interdependenz von Entwicklungsaufgaben

Die Entwicklungsaufgaben können nicht voneinander getrennt werden, sondern hängen auch in vielfacher Hinsicht zusammen. Wenn eine Entwicklungsaufgabe einer früheren Entwicklungsstufe bewältigt oder auch nicht bewältigt wurde, hat dies Auswirkungen auf die späteren Entwicklungsstufen. Ein Beispiel dafür ist: Wer in der mittleren Kindheit nicht Lesen, Schreiben und Rechnen erlernt hat, wird im Jugendalter Schwierigkeiten haben, eine Berufsperspektive zu entwickeln und später als Erwachsener den Berufseinstieg nur schwer schaffen. Diese Entwicklungs-aufgaben beeinflussen nicht nur die Bewältigung der weiteren Entwicklungsstufen, sondern die Aufgaben hängen auch innerhalb der Entwicklungsstufen zusammen (vgl. Rothgang 2003, S. 92).

2. Häufigkeit und Zeitpunkt des Auftretens

Es gibt aber auch Entwicklungsstufen, die nur einmal zu bewältigen sind, wie beispielsweise die grundlegenden Techniken des Lesens, Schreibens und Rechnens zu erlernen. Werden diese Techniken beherrscht, müssen diese Entwicklungs-aufgaben nicht nochmal wiederholt werden. Im Gegensatz zu beispielsweise dem Zurechtkommen mit altersgleichen Personen. Diese Aufgabe muss in den unterschiedlichen Entwicklungsstufen immer wieder wiederholt werden, egal ob im Kindergarten, in der Schule, im Beruf oder auch im Altersheim (vgl. Rothgang 2003, S. 92f.).

3. Kulturabhängigkeit

Nach Havighurst gibt es auch universelle Entwicklungsaufgaben, die in allen Kulturen zu bewältigen sind. Unter diesen Aspekt fällt auch der Erwerb der männlichen und weiblichen Geschlechterrollen. Auf der anderen Seite gibt es auch kulturspezifische Entwicklungsaufgaben, die von Kultur zur Kultur unterschiedlich sind, wie beispiels-weise das Leben in einer Sippe und dann das Ablösen von dieser Herkunftsfamilie, wenn man diese verlässt (vgl. Rothgang 2003, S. 93). Die Entwicklung der Menschen wird somit von kulturellen Werten, Normen und Überzeugungen beeinflusst, denn es gibt Entwicklungsprozesse, die von bestimmten kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten geprägt werden (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 98).

91 3.3.3.2. Entwicklungsaufgaben im Überblick

Havighurst unterscheidet zwischen sechs Entwicklungsstufen und auch zwischen verschiedenen Entwicklungsaufgaben. Diese Einteilung der Entwicklungsaufgaben sollte als eine grobe Beschreibung der Aufgaben verstanden werden (vgl. Rothgang 2003, S. 93).

Entwicklungsaufgaben des Kindes- und Jugendalter (nach Havighurst 1976) Frühe Kindheit (0 – 6 Jahre)

1. Lernen zu laufen

2. Lernen, feste Nahrung aufzunehmen 3. Lernen zu sprechen

4. Lernen, die Ausscheidungsvorgänge zu kontrollieren

5. Lernen von Geschlechtsunterschieden und sexueller Scham

6. Bildung von Konzepten und Lernen sprachlicher Begriffe zur Beschreibung der physischen und sozialen Realität

7. Entwicklung der Bereitschaft, lesen zu lernen

8. Lernen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden und Entwicklung eines Gewissens

Mittlere Kindheit (6 – 12 Jahre)

1. Erlernen von Fähigkeiten, die für normales Spielen nötig sind

2. Aufbau einer gesunden Einstellung zur eigenen Person als einem wachsenden Organismus

3. Lernen, mit Altersgenossen zurechtzukommen

4. Erlernen einer passenden männlichen und weiblichen Rolle

5. Entwicklung grundlegender Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen 6. Entwicklung von Konzepten, die für das Verstehen des alltäglichen Lebens

notwendig sind

7. Entwicklung von Gewissen, Moral und Wertmaßstäben 8. Erreichen persönlicher Unabhängigkeit

9. Entwicklung einer Einstellung gegenüber sozialen Gruppen und Institutionen Adoleszenz (12 – 18 Jahre)

1. Erreichen neuerer und reiferer Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts

92 2. Erreichen einer männlichen und weiblichen Geschlechtsrolle

3. Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung und effektiven Nutzung des Körpers

4. Erreichen emotionaler Unabhängigkeit von den Eltern und anderen Erwachsenen

5. Vorbereitung auf Ehe und Familienleben 6. Vorbereitung auf eine berufliche Laufbahn

7. Erwerben eines Wertesystems und ethischen Systems als Richtschnur für das Verhalten – Entwicklung einer Ideologie

8. Anstreben und Erreichen eines soziale verantwortlichen Verhaltens Frühes Erwachsenenalter (18 – 30 Jahre)

1. Wahl eines Partners

2. Lernen, mit einem Ehepartner zu leben 3. Gründung einer Familie

4. Erziehen von Kindern 5. Führen eines Haushaltes 6. Beginn im Beruf

7. Verantwortung als Bürger übernehmen 8. Finden eines passenden Freundeskreises Mittleres Erwachsenenalters (ca. 30 – 60 Jahre)

1. Eigene Kinder darin unterstützen, verantwortliche und glückliche Erwachsene zu werden

2. Erreichen sozialer und öffentlicher Verantwortlichkeiten als Erwachsener 3. Erreichen und Aufrechterhalten befriedigender Leistungen im Beruf 4. Entwicklung angemessener Freizeitaktivitäten

5. Pflege der Beziehung zum Partner

6. Die physiologischen Veränderungen des mittleren Lebensalters akzeptieren und sich daran anpassen

7. Anpassung an alte Eltern

Späteres Erwachsenenalter (ab 60 Jahre)

1. Anpassung an das Nachlassen der Kräfte und der Gesundheit 2. Anpassung an den Ruhestand und ein vermindertes Einkommen 3. Anpassung beim Tod des Partners

4. Aufbau eines gezielten Anschlusses an die eigene Altersgruppe

93 5. In flexibler Weise die sozialen Rollen annehmen und sich daran anpassen 6. Aufbau befriedigender Lebensumstände

Tabelle 1: Entwicklungsaufgaben nach Havighurst (Rothgang 2015, S. 99f.)

Diese Auflistung der Entwicklungsaufgaben von Havighurst zeigt auf, wie vielfältig diese Aufgaben sind, die im Laufe des Lebens bewältigt werden sollen. Doch stellt sich die Frage, ob das Entwicklungsmodell, das ursprünglich 1948 erschienen ist, schlussendlich doch nur von historischem Interesse ist? Da die Entwicklungs-aufgaben von individuellen Wert- und Zielentscheidungen und gesellschaftlichen Anforderungen abhängig sind, die sich verändern können, können die Entwicklungs-aufgaben einem historischen Wandel unterliegen. Hier stellt sich die Frage, wie groß der Wandel ist und ob neue Entwicklungsaufgaben hinzukommen oder andere wegfallen (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 100f.).

3.3.4. Zusammenfassung der Entwicklungsmodelle

Freuds psychoanalytisches Entwicklungsmodell hat große Bedeutung für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung der frühen Kindheit. Doch liegt hier eine gewisse Befangenheit der Betrachtung vor. Während der Kindheit größerer Beachtung geschenkt wird, wird dem Erwachsenenalter nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. In der Praxis gilt es allerdings dies zu vermeiden. Die Psychoanalyse hat mit der Erkenntnis der kindlichen Sexualität eine aufklärende Wirkung erzielt und hat das Verständnis des menschlichen Verhaltens und der Entwicklung in die Wege geleitet.

Freud sieht die psychosexuellen Kräfte als sehr wichtig an und schenkt den Aspekten der Entwicklung der Wahrnehmung, des Denkens, dem Gedächtnis und der Sprache nur sehr wenig Beachtung. Das liegt offensichtlich daran, dass laut Freud innerpsychische Faktoren eine wichtigere Rolle spielen als äußere Faktoren (vgl.

Rothgang 2003, S. 82). Das Modell von Erikson ist auch in außerwissenschaftlichen Bereichen sehr beliebt, da seine Überlegungen sehr einleuchtend sind und sie jeder/jede mit eigenen Erfahrungen leicht abstimmen kann. Bei Eriksons

„Erweiterungsmodell“ von Freuds Konzept werden Entwicklungsphasen aufgestellt,

„Erweiterungsmodell“ von Freuds Konzept werden Entwicklungsphasen aufgestellt,