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II. Perspektivische Klärung von Gender (Eva Schirmetz & Magdalena

3. Entwicklung zur Geschlechtsidentität (Eva Schirmetz)

3.3. Identitätsentwicklung von jungen Erwachsenen

3.3.2. Entwicklungsmodell von Erik Erikson

Eriksons Entwicklungsmodell ist eine Erweiterung und Weiterentwicklung des psychoanalytischen Entwicklungsmodells von Freud. Sein Modell teilt die mensch-liche Entwicklung in acht Phasen ein, die das gesamte Leben umfassen. Erikson geht wie Freud von psychosexuellen Kräften aus. Dennoch ist er stärker auf die sozialen Bezüge innerhalb der Entwicklung fokussiert. Nach Erikson ist die Ent-wicklung eines Menschen ein Zusammenspiel von körperlichen, psychischen und sozialen Prozessen (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 88). Nach Auffassung von Erikson ist die Identitätsentwicklung eine immer wiederkehrende Wechselwirkung zwischen einem Menschen und der Gesellschaft. Die psychosoziale Entwicklung folgt einem universellen Grundschema. In diesem Schema werden bestimmte Thematiken im menschlichen Lebenslauf in einer Abfolge unterschieden. Jede Thematik besteht das ganze Leben lang, doch in einer bestimmten Phase des Lebens dominiert und verschärft sich diese zu einer potentiellen Krise. In dieser Krise schwankt das Individuum zwischen zwei Polen der betreffenden Thematik. Der Konflikt wird durch Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft ausgelöst. Dieser Konflikt kann auch zu einer weiteren Krise führen. In dieser Krise fühlt sich das Individuum zu beiden Polen hingezogen. Das Individuum muss sich selbst mit diesen ambivalenten

87 Gefühlen beschäftigen, sie verarbeiten und eine Lösung dafür finden. Danach wird die Phase abgeschlossen (vgl. Haußer 1995, S. 75f.).

In der ersten Phase, dem Säuglingsalter (Vertrauen im Gegensatz zu Misstrauen), besteht die Krise darin, dass sich die Mutter (Bezugsperson) räumlich-zeitlich von dem Kind entfernt. Das Kind kann sich also nicht sicher sein, dass die Mutter wieder zurückkommt (vgl. Haußer 1995, S. 76f.). Das Grundvertrauen entsteht, wenn das Kind von der Umwelt Fürsorge erfährt und Nahrung, Wärme, Kontakt, Zuwendung etc., also bekommt, was es braucht. Wird diese Fürsorge auf gleichbleibende Weise gesichert, so gewinnt das Kind an Vertrauen und Sicherheit und kann sich auf seine Umwelt und auch auf sich selbst verlassen. Beides zusammen macht für Erikson das Grundvertrauen aus und stellt einen stabilen Grundstein für die weitere Entwicklung dar (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 90).

Die zweite Phase, das Kleinkindalter (Autonomie vs. Scham und Zweifel), entspricht der analen Phase von Freuds Entwicklungsmodell. Erikson weist hier aber nicht nur auf die Ausscheidungsvorgänge hin, sondern auch auf die Bedeutung, die die zunehmende Muskelkontrolle für das Kind hat. Das Kind ist nicht mehr nur auf die Umwelt angewiesen, sondern entwickelt eine Autonomie. Doch in dieser Entwicklung der Autonomie kommt es zu Misserfolgen, die dann Scham entstehen lassen können (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 90). Es geht um den Konflikt des Festhaltens und Loslassens, setzt das Kind seinen Willen durch oder passt es sich den Wünschen der Eltern an. Unterordnen heißt so viel wie sich schämen oder zweifeln. Das Kind kann nur eine autonome Persönlichkeit entwickeln, wenn es in der vorausgegangenen Phase Vertrauen gelernt hat (vgl. Haußer 1995, S. 77).

In der dritten Phase, dem Spielalter (Initiative vs. Schuldgefühle), spielen ödipale Konflikte eine Rolle, wie bei Freud. Das Kind fühlt sich durch die vorherige Ent-wicklung mächtig genug, um alles Mögliche zu unternehmen und auszuprobieren. Es lernt, dass es Grenzen gibt, woraus sich Schuldgefühle entwickeln können (vgl. ebd.

1995, S. 77).

Das Schulalter ist die vierte Phase (Tätigkeit vs. Minderwertigkeitsgefühle) und kann mit der Latenzperiode von Freud verglichen werden. In dieser Phase ist das Kind gefordert Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. In der Schule werden aber auch Defizite, Schwächen und persönliches Scheitern deutlich. Daher ist es wichtig, dass Kinder unterstützt werden und Anerkennung bekommen (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 91f.). Durch weitere Tätigkeiten, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die das Kind schon

88 beherrscht, will sich das Individuum Anerkennung verschaffen. Gelingt dies allerdings nicht, können Minderwertigkeitsgefühle entstehen (vgl. Haußer 1995, S. 77).

Die fünfte Phase, die Adoleszenz (Identität vs. Identitätsverwirrung), ist durch die Auseinandersetzung mit Zielen, Werten und Überzeugungen gekennzeichnet.

Frühere eigene Erfahrungen, die Fähigkeiten und Rollenausübungen werden zur Identität integriert. Wenn dies nicht gelingt, kommt es zu Identitätskonfusion oder Identitätsdiffusion. Dies ist der Zustand, in dem Jugendliche über sich selbst im Unklaren sind und keine Zukunftsperspektiven sehen. Es entstehen Verwirrungen durch die Überforderung, sich für eine/n PartnerIn, einen Beruf oder eine politische Überzeugung zu entscheiden (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 93/Haußer 1995, S. 77).

In der nächsten, der sechsten Phase, der des frühen Erwachsenenalters (Intimität vs.

Isolierung), ist die gelungene Identitätsfindung in der 5. Phase die Voraussetzung für die weitere Entwicklung, in der enge dauerhafte Bindungen eingegangen werden (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 95). Intimität kann man nur erfahren, wenn man seine Identität entwickelt hat. Wenn die Fähigkeit der Intimität nicht gegeben ist, entsteht Isolation (vgl. Haußer 1995, S. 77).

Unter der siebten Phase, der des Erwachsenenalters (schöpferische Tätigkeit vs.

Stagnation), versteht Erikson die Produktivität der Arbeit und den Wunsch, eigene Kinder zu haben und diese zu erziehen. Ist dies nicht der Fall, kann das Gefühl der Stagnation, Verarmung auftreten (vgl. Haußer 1995, S. 77). Entsteht Stagnation, kann sie entweder depressiver oder narzisstischer Natur sein. Mit depressiver Stagnation ist gemeint, dass die eigene Entwicklung nicht weiter voranschreitet und man nichts bewirkt oder weitergibt. Bei der narzisstischen Stagnation kümmert man sich nur noch um sich selbst, das eigene Wohlergehen und vergisst oder berücksichtigt nicht, was nach einem kommt (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 96).

Die letzte und achte Phase, das Alter (Integrität vs. Verzweiflung), ist gekennzeichnet durch das Bestreben, mit seinem eigenen Leben zufrieden zu sein und es als harmonisch zu empfinden. Auf der anderen Seite kann Verzweiflung und Ablehnung empfunden werden (vgl. Haußer 1995, S. 77).

Wie man sehen kann, ist die Phasenlehre der psychosozialen Entwicklung nach Erikson das Modell einer lebenslangen Entwicklung, das in der Entwicklungs-psychologie heute gang und gäbe ist. Gegenüber Eriksons Entwicklungsmodell liefert Havighurst eine noch weiter ausgearbeitete Beschreibung der Entwicklung eines Menschen.

89 3.3.3. Entwicklungsaufgaben nach Robert J. Havighurst

Im Zusammenhang mit sozial- emotionalen Aspekten der Entwicklung im Jugendalter wird klar, dass Entwicklung nicht etwas ist, das von selbst passiert, sondern die Jugendlichen müssen sie anhand von Entwicklungsaufgaben selbst und aktiv bewältigen (vgl. Rossmann 2010, S. 145). Havighurst erarbeitete erstmals das Konzept der Entwicklungsaufgaben während der 1940er Jahre. Er geht davon aus, dass in den einzelnen Lebensabschnitten gewisse Entwicklungsaufgaben zu lösen sind (vgl. Rothgang 2003, S. 91). Havighurst definierte den Begriff der Entwicklungsaufgaben wie folgt:

„Eine Entwicklungsaufgabe ist eine Aufgabe, die in oder zumindest ungefähr zu einem bestimmten Lebensabschnitt des Individuums entsteht, deren erfolgreiche Bewältigung zu dessen Glück und zum Erfolg bei späteren Aufgaben führt, während das Misslingen zu Unglücksein, zu Missbilligung durch die Gesellschaft und zu Schwierigkeiten mit späteren Aufgaben führt“

(Havighurst 1976 zit. n. Rothgang/Bach 2015, S. 97).

Diese Entwicklungsaufgaben entstehen aus drei unterschiedlichen Bereichen, wobei diese drei Quellen in der Regel zusammenwirken. Die Entwicklungsaufgaben entstehen „durch körperliche Reifung, den Druck des kulturellen Prozesses auf das Individuum, die Wünsche, Ziele und Werte der entstehenden Persönlichkeit (…)“

(Havighurst 1976 zit. n. Rothgang 2003, S. 91f.). Havighurst ist es wichtig, dass der Frage nachgegangen wird, was Biologie, Psychologie, Soziologie und Sozialanthro-pologie zu den Entwicklungsaufgaben beitragen können. Hiermit macht Havighurst deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Menschen eine multidisziplinäre Ansicht erfordert (vgl. Rothgang 2003, S. 92).

3.3.3.1. Charakteristika der Entwicklungsaufgaben

Die Entwicklungsaufgaben von Havighurst werden durch drei verschiedene Charakteristika beschrieben und zwar durch die Interdependenz von Entwicklungs-aufgaben, die Häufigkeit und den Zeitpunkt des Auftretens und der Kulturab-hängigkeit.

90 1. Interdependenz von Entwicklungsaufgaben

Die Entwicklungsaufgaben können nicht voneinander getrennt werden, sondern hängen auch in vielfacher Hinsicht zusammen. Wenn eine Entwicklungsaufgabe einer früheren Entwicklungsstufe bewältigt oder auch nicht bewältigt wurde, hat dies Auswirkungen auf die späteren Entwicklungsstufen. Ein Beispiel dafür ist: Wer in der mittleren Kindheit nicht Lesen, Schreiben und Rechnen erlernt hat, wird im Jugendalter Schwierigkeiten haben, eine Berufsperspektive zu entwickeln und später als Erwachsener den Berufseinstieg nur schwer schaffen. Diese Entwicklungs-aufgaben beeinflussen nicht nur die Bewältigung der weiteren Entwicklungsstufen, sondern die Aufgaben hängen auch innerhalb der Entwicklungsstufen zusammen (vgl. Rothgang 2003, S. 92).

2. Häufigkeit und Zeitpunkt des Auftretens

Es gibt aber auch Entwicklungsstufen, die nur einmal zu bewältigen sind, wie beispielsweise die grundlegenden Techniken des Lesens, Schreibens und Rechnens zu erlernen. Werden diese Techniken beherrscht, müssen diese Entwicklungs-aufgaben nicht nochmal wiederholt werden. Im Gegensatz zu beispielsweise dem Zurechtkommen mit altersgleichen Personen. Diese Aufgabe muss in den unterschiedlichen Entwicklungsstufen immer wieder wiederholt werden, egal ob im Kindergarten, in der Schule, im Beruf oder auch im Altersheim (vgl. Rothgang 2003, S. 92f.).

3. Kulturabhängigkeit

Nach Havighurst gibt es auch universelle Entwicklungsaufgaben, die in allen Kulturen zu bewältigen sind. Unter diesen Aspekt fällt auch der Erwerb der männlichen und weiblichen Geschlechterrollen. Auf der anderen Seite gibt es auch kulturspezifische Entwicklungsaufgaben, die von Kultur zur Kultur unterschiedlich sind, wie beispiels-weise das Leben in einer Sippe und dann das Ablösen von dieser Herkunftsfamilie, wenn man diese verlässt (vgl. Rothgang 2003, S. 93). Die Entwicklung der Menschen wird somit von kulturellen Werten, Normen und Überzeugungen beeinflusst, denn es gibt Entwicklungsprozesse, die von bestimmten kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten geprägt werden (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 98).

91 3.3.3.2. Entwicklungsaufgaben im Überblick

Havighurst unterscheidet zwischen sechs Entwicklungsstufen und auch zwischen verschiedenen Entwicklungsaufgaben. Diese Einteilung der Entwicklungsaufgaben sollte als eine grobe Beschreibung der Aufgaben verstanden werden (vgl. Rothgang 2003, S. 93).

Entwicklungsaufgaben des Kindes- und Jugendalter (nach Havighurst 1976) Frühe Kindheit (0 – 6 Jahre)

1. Lernen zu laufen

2. Lernen, feste Nahrung aufzunehmen 3. Lernen zu sprechen

4. Lernen, die Ausscheidungsvorgänge zu kontrollieren

5. Lernen von Geschlechtsunterschieden und sexueller Scham

6. Bildung von Konzepten und Lernen sprachlicher Begriffe zur Beschreibung der physischen und sozialen Realität

7. Entwicklung der Bereitschaft, lesen zu lernen

8. Lernen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden und Entwicklung eines Gewissens

Mittlere Kindheit (6 – 12 Jahre)

1. Erlernen von Fähigkeiten, die für normales Spielen nötig sind

2. Aufbau einer gesunden Einstellung zur eigenen Person als einem wachsenden Organismus

3. Lernen, mit Altersgenossen zurechtzukommen

4. Erlernen einer passenden männlichen und weiblichen Rolle

5. Entwicklung grundlegender Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen 6. Entwicklung von Konzepten, die für das Verstehen des alltäglichen Lebens

notwendig sind

7. Entwicklung von Gewissen, Moral und Wertmaßstäben 8. Erreichen persönlicher Unabhängigkeit

9. Entwicklung einer Einstellung gegenüber sozialen Gruppen und Institutionen Adoleszenz (12 – 18 Jahre)

1. Erreichen neuerer und reiferer Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts

92 2. Erreichen einer männlichen und weiblichen Geschlechtsrolle

3. Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung und effektiven Nutzung des Körpers

4. Erreichen emotionaler Unabhängigkeit von den Eltern und anderen Erwachsenen

5. Vorbereitung auf Ehe und Familienleben 6. Vorbereitung auf eine berufliche Laufbahn

7. Erwerben eines Wertesystems und ethischen Systems als Richtschnur für das Verhalten – Entwicklung einer Ideologie

8. Anstreben und Erreichen eines soziale verantwortlichen Verhaltens Frühes Erwachsenenalter (18 – 30 Jahre)

1. Wahl eines Partners

2. Lernen, mit einem Ehepartner zu leben 3. Gründung einer Familie

4. Erziehen von Kindern 5. Führen eines Haushaltes 6. Beginn im Beruf

7. Verantwortung als Bürger übernehmen 8. Finden eines passenden Freundeskreises Mittleres Erwachsenenalters (ca. 30 – 60 Jahre)

1. Eigene Kinder darin unterstützen, verantwortliche und glückliche Erwachsene zu werden

2. Erreichen sozialer und öffentlicher Verantwortlichkeiten als Erwachsener 3. Erreichen und Aufrechterhalten befriedigender Leistungen im Beruf 4. Entwicklung angemessener Freizeitaktivitäten

5. Pflege der Beziehung zum Partner

6. Die physiologischen Veränderungen des mittleren Lebensalters akzeptieren und sich daran anpassen

7. Anpassung an alte Eltern

Späteres Erwachsenenalter (ab 60 Jahre)

1. Anpassung an das Nachlassen der Kräfte und der Gesundheit 2. Anpassung an den Ruhestand und ein vermindertes Einkommen 3. Anpassung beim Tod des Partners

4. Aufbau eines gezielten Anschlusses an die eigene Altersgruppe

93 5. In flexibler Weise die sozialen Rollen annehmen und sich daran anpassen 6. Aufbau befriedigender Lebensumstände

Tabelle 1: Entwicklungsaufgaben nach Havighurst (Rothgang 2015, S. 99f.)

Diese Auflistung der Entwicklungsaufgaben von Havighurst zeigt auf, wie vielfältig diese Aufgaben sind, die im Laufe des Lebens bewältigt werden sollen. Doch stellt sich die Frage, ob das Entwicklungsmodell, das ursprünglich 1948 erschienen ist, schlussendlich doch nur von historischem Interesse ist? Da die Entwicklungs-aufgaben von individuellen Wert- und Zielentscheidungen und gesellschaftlichen Anforderungen abhängig sind, die sich verändern können, können die Entwicklungs-aufgaben einem historischen Wandel unterliegen. Hier stellt sich die Frage, wie groß der Wandel ist und ob neue Entwicklungsaufgaben hinzukommen oder andere wegfallen (vgl. Rothgang/Bach 2015, S. 100f.).

3.3.4. Zusammenfassung der Entwicklungsmodelle

Freuds psychoanalytisches Entwicklungsmodell hat große Bedeutung für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung der frühen Kindheit. Doch liegt hier eine gewisse Befangenheit der Betrachtung vor. Während der Kindheit größerer Beachtung geschenkt wird, wird dem Erwachsenenalter nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. In der Praxis gilt es allerdings dies zu vermeiden. Die Psychoanalyse hat mit der Erkenntnis der kindlichen Sexualität eine aufklärende Wirkung erzielt und hat das Verständnis des menschlichen Verhaltens und der Entwicklung in die Wege geleitet.

Freud sieht die psychosexuellen Kräfte als sehr wichtig an und schenkt den Aspekten der Entwicklung der Wahrnehmung, des Denkens, dem Gedächtnis und der Sprache nur sehr wenig Beachtung. Das liegt offensichtlich daran, dass laut Freud innerpsychische Faktoren eine wichtigere Rolle spielen als äußere Faktoren (vgl.

Rothgang 2003, S. 82). Das Modell von Erikson ist auch in außerwissenschaftlichen Bereichen sehr beliebt, da seine Überlegungen sehr einleuchtend sind und sie jeder/jede mit eigenen Erfahrungen leicht abstimmen kann. Bei Eriksons

„Erweiterungsmodell“ von Freuds Konzept werden Entwicklungsphasen aufgestellt, die aber nicht kennzeichnen, welche Prozesse sie einleiten bzw. beenden. Es ist auch nicht ganz klar, wann die Phasen abgeschlossen sind. Allerdings ist Erikson mit seinem Verständnis von lebenslanger Entwicklung eines Menschen mit aktuellen

94 Strömungen der Entwicklungspsychologie im Einklang (vgl. ebd. 2003, S. 91).

Havighursts Entwicklungsmodell bietet eine wichtige Grundlage von Aufgaben und Anforderungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens zu bewältigen hat. Aus diesen Überlegungen lassen sich einfache Strategien zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in den verschiedenen Altersgruppen ableiten. Mit den altersbezogenen Angeboten der Sozialen Arbeit kann die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben ermöglicht und auch erleichtert werden. Durch die erfolgreiche Bewältigung dieser Aufgaben lernt man, dass man selbst Einfluss auf die eigene Entwicklung nehmen kann und sich auch selbst etwas zutrauen sollte. Dies wird auch im Konzept von Erikson beschrieben. Doch auch das Modell von Havighurst hat eine Schwachstelle aufzuweisen, da die drei Quellen, die bereits im Kapitel 3.3.3 kurz erläutert wurden, nicht aus empirischen Daten abgeleitet, sondern eher postuliert wurden. Dies muss allerdings nicht gegen die Praxisrelevanz sprechen (vgl. ebd. 2003, S. 100). Im Großen und Ganzen weisen alle drei Modelle wichtige Aspekte für die Entwicklungspsychologie des Menschen auf, haben allerdings auch kleine Mängel, die es zu berücksichtigen gilt.

Nicht nur diese Modelle erklären die Identitätsentwicklung eines Menschen, sondern auch die Umwelteinflüsse spielen bei der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung eine wichtige Rolle. Die Familie ist hier eine der zentralen Sozialisationsinstanzen, aber auch die Schule, die Peerkontakte und die Medien sind wichtige Einflussfaktoren, die in weiterer Folge erläutert werden.

3.4. Identität durch Sozialisation, Erziehung und Bildung

Sozialisation ist ein „(…) Prozeß der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt. Vorrangig thematisch ist dabei (…), wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt bildet“ (Geulen/Hurrelmann 1980, S. 51). Hier ist der Zusammenhang zwischen der Persönlichkeit eines Menschen, wie Eigenschaften, Einstellungen und Handlungskompetenzen und der Umwelt entscheidend (vgl. Rieländer 2000, S. 8). Der Sozialisationsprozess verläuft ein ganzes Leben lang und kann in unterschiedliche Phasen unterteilt werden. Die erste Phase ist die Säuglingsphase im Alter von 0 bis 1 Jahr. Die zweite Phase umfasst die frühe Kindheit im Alter von 2 bis 4 Jahren, in der die Familie und der Kindergarten

95 eine wichtige Sozialisationsinstanz darstellt. Im Alter von 5 bis 12 Jahren beginnt die dritte Phase. Hier verkörpern die Schule, aber auch die Medien zentrale Sozialisationsinstanzen. In der vierten Phase, ab dem 13. Lebensjahr, sind die Schule, die peer-group (die Gleichaltrigengruppe) und die Medien die wichtigsten Instanzen dieser Sozialisationsphase. Die fünfte Phase – also der Übergang ins Erwachsenenalter – kann man nicht genau von der Jugendphase abgrenzen. In dieser Phase spielt der Beruf eines Menschen die zentrale Rolle. Daher endet diese Phase auch mit etwa dem 65. Lebensjahr. Die sechste und letzte Phase gilt ab der Pensionierung (etwa 65. Lebensjahr) bis zum Tod (vgl. Jobst 2008, S. 160). Diese Phasen der Sozialisation eines Menschen lassen sich auch in primäre, sekundäre und tertiäre Sozialisation unterteilen. Jede dieser Phasen hat unterschiedliche Sozialisationsprozesse und -ziele, die zu unterscheiden sind. Der Sozialisations-prozess, der von klein auf erfolgt, wird in primäre und sekundäre Sozialisation gegliedert. Die primäre Sozialisation, die auch als frühkindliche Sozialisation bezeichnet wird, findet in den ersten fünf Lebensjahren statt. Hier spielt die Familie eine sehr zentrale Rolle für die Sozialisation eines Kindes, in der geschlechts-spezifische Rollenbilder bewusst aber auch unbewusst den Kindern vorgelebt werden. Die sekundäre Sozialisation umfasst die darauf folgenden Lebensabschnitte eines Menschen bis zum Ende der Adoleszensphase. Der Schuleintritt sowie der Abschluss der ödipalen Phase aus der Sicht der psychoanalytischen Entwicklungstheorie sind die Übergänge von der primären zur sekundären Sozialisation. In dieser Phase haben die Schule, die Peerkontakte und die Medien großen Einfluss auf die Sozialisation des Kindes/der Jugendlichen. Kinder/

Jugendliche lernen sich beispielsweise von den Eltern abzugrenzen, indem sie Beziehungen zu außerfamiliären Personen eingehen. Die tertiäre Sozialisation umfasst das Erwachsenenalter bis zum Tod, in der es beispielsweise um die eigene Familiengründung und um die Berufslaufbahn geht (vgl. Rieländer 2000, S. 8).

In weiterer Folge werden wir auf die drei Phasen der Sozialisationsprozesse genauer eingehen. Wobei die tertiäre Sozialisation nur kurz thematisiert wird, da sie für unsere Arbeit nicht relevant ist.

96 3.4.1. Primäre Sozialisation

Wie bereits oben erwähnt, wird die primäre Sozialisation, als der Sozialisations-prozess der ersten fünf Jahre verstanden. In dieser Sozialisationsphase entwickelt das Kind seine menschlichen Fähigkeiten. Zu diesen menschlichen Fähigkeiten zählen: „die Fähigkeit zu planvollem Handeln, Sprachfähigkeit, bewußtes Erfassen der Umwelt, die Fähigkeit, das Verhalten anderer Menschen gezielt zu beeinflussen, Selbstbewußtsein, Gruppenbewußtsein, die Fähigkeit zu bewußter Kooperation mit anderen Menschen“ (Rieländer 2000, S. 8). Zentrales Ziel der primären Sozialisation ist also, dass am Ende die sozialisierte Person ein nützliches Mitglied der Gesellschaft ist.

3.4.1.1. Familie und Erziehung als Sozialisationsinstanz

Durch wichtige Personen im Leben eines Menschen vollzieht sich die primäre Sozialisation, indem man sich mit ihnen identifiziert. Am Anfang des Prozesses sind es die Eltern, die Geschwister, später sind es die KindergartenpädagogInnen im Kindergarten und die LehrerInnen in der Schule. Die Identifikation mit diesen Personen ist sehr wichtig für den Sozialisationsprozess, da wir für diese Personen positive Gefühle entwickeln (vgl. Steins 2003, S. 84). In unserer Gesellschaft, in der von dem System der Zweigeschlechtlichkeit ausgegangen wird, verläuft der Sozialisationsprozess von Mädchen und Jungen unterschiedlich (vgl. Thuma-Lobenstein 1993, S. 35).

„Je nach Geschlechtszugehörigkeit konstituieren sich jeweils unterschiedliche Lebenszusammenhänge von Menschen, die weiblichen und die männlichen – bei allen Brüchen durch die Schichtzugehörigkeit. Wenn somit die gesell-schaftliche Platzierung von Frauen und Männern anders ist, dann muß auch die Sozialisation von Mädchen und Jungen als Vorbereitung auf diese Platzierung unterschiedlich verlaufen“ (Nyssen 1990, S. 32).

Schon am Anfang einer Schwangerschaft beginnt die Differenzierung zwischen den Geschlechtern. Es werden Spekulationen über das Geschlecht des Kindes aufge-stellt und im Zuge dessen kommt es dem Geschlecht entsprechend zu Merkmalszu-schreibungen. Diese beeinflussen das elterliche Handeln und die Einstellung gegenüber dem heranwachsenden Kind. Petra Zienitzer (1999) verweist hier auf

97 Elena Belotti (1975), die über Schwangerschaft Folgendes schrieb: „(…) das Spiel der verschiedenen Eigenschaften von männlichen und weiblichen Wesens beginnt genau hier, noch ehe die Kinder geboren sind, und hört niemals mehr auf“ (Belotti 1975 zit. n. Zienitzer 1999, S. 7). Die Differenzierung der Geschlechter findet schon sehr früh statt und wird das Individuum das ganze Leben lang begleiten. Christa Bast (1991) sagt dazu: „Das Kind wird nicht als ‚geschlechtsneutrales‘ unverwechselbares Individuum mit je spezifischen Eigenschaften, Merkmalen und Fähigkeiten, die es herauszubilden, zu festigen und zu fördern gilt, begriffen, sondern das Kind wird bereits vor und spätestens bei seiner Geburt differenziert gesehen, als Mädchen oder

97 Elena Belotti (1975), die über Schwangerschaft Folgendes schrieb: „(…) das Spiel der verschiedenen Eigenschaften von männlichen und weiblichen Wesens beginnt genau hier, noch ehe die Kinder geboren sind, und hört niemals mehr auf“ (Belotti 1975 zit. n. Zienitzer 1999, S. 7). Die Differenzierung der Geschlechter findet schon sehr früh statt und wird das Individuum das ganze Leben lang begleiten. Christa Bast (1991) sagt dazu: „Das Kind wird nicht als ‚geschlechtsneutrales‘ unverwechselbares Individuum mit je spezifischen Eigenschaften, Merkmalen und Fähigkeiten, die es herauszubilden, zu festigen und zu fördern gilt, begriffen, sondern das Kind wird bereits vor und spätestens bei seiner Geburt differenziert gesehen, als Mädchen oder