• Keine Ergebnisse gefunden

Untersuchung des Schutzes der medizinisch assistierten Fortpflanzung durch das GG

Teil 2: Grundrecht auf Fortpflanzung?

2.2. Gibt es ein Grundrecht auf Fortpflanzung im Grundgesetz?

2.2.2. Untersuchung des Schutzes der medizinisch assistierten Fortpflanzung durch das GG

Da es auch ein Ziel dieser Arbeit darstellt zu untersuchen, ob und in welchem Umfang die Nutzung der neuen Methoden der medizinisch assistierten Fortpflanzung Grundrechtsschutz genießt, wird ebenfalls überprüft, wie weit der jeweilige Schutzbereich eines Grundrechts insoweit reicht.

Ein möglicherweise vorliegender Grundrechtsschutz in Bezug auf die Nutzung der Reproduktionsmedizin stellt ein verfassungsrechtliches Novum dar, da die Nutzung solcher Methoden bis vor wenigen Jahren noch nicht möglich war. Bis zur Einführung der medizinisch assistierten Fortpflanzung existierte für bestimmte Formen der Sterilität keine Behandlungsmöglichkeit, daher war die Sterilität schicksalshaft bedingt. Der Staat hatte keinerlei Einflussmöglichkeit und das betroffene Individuum musste seine körperlichen Gegebenheiten oder solche Gegebenheiten bei seiner Partnerin oder seinem Partner hinnehmen. Seit die Möglichkeiten der medizinisch assistierten Fortpflanzung existieren,

426 Mit der 43. Ergänzungslieferung, Februar 2004, wurde eine völlige Neukommentierung zu Art. 2 Abs. 2 GG , erstellt von Dr. Dr. Udo Di Fabio in „MAUNZ, Theodor/DÜRIG, Günter (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz“ aufgenommen. Diese Ausführungen haben dementsprechend bei der Einleitung des Promotionsverfahrens noch keine Berücksichtigung gefunden und sind erst bei der Aktualisierung der Arbeit zum Zweck der Publikation eingefügt worden. Da die frühere Kommentierung von Dr. Günter Dürig einen erheblichen Einfluss auf die bisherige juristische Literatur zum Thema „Grundrechtsschutz der Fortpflanzung“ hatte, wird jedoch auch parallel auf seine Ausführungen zurückgegriffen (zit. als:

DÜRIG in: MAUNZ, Theodor/DÜRIG, Günter (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz; Stand: 33.

Ergänzungslieferung, Nov. 1997, Art. 2 Abs. 2).

427 RAMM, Thilo: Die Fortpflanzung - Ein Freiheitsrecht? JZ 1989, S. 861 ff.

sind bestimmte Formen der Sterilität nicht mehr schicksalshaft. Es hat eine Änderung auf der tatsächlichen Ebene stattgefunden: Sterilität ist eine heilbare Krankheit oder ein im Einzelfall umgehbarer Zustand geworden. Erst hierdurch entstand die Frage, ob der Staat die zur Fortpflanzung notwendige ärztliche Hilfe verbieten kann, ohne in Grundrechte einzugreifen. Dieser Punkt ist bislang in Literatur, Politik und Rechtsprechung nicht systematisch aufgearbeitet worden. In der juristischen Diskussion neuer Fortpflanzungstechnologien, insbesondere in der hierzu veröffentlichten Literatur haben von Anfang an Fragen der Menschenwürde des mittels dieser Technologie entstehenden Embryos, bzw. des Kindes im Vordergrund gestanden. Grundrechte der Wunscheltern wurden entweder überhaupt nicht oder nur als Randproblem behandelt.428

Die Stellungnahmen in den Beratungen des Deutschen Bundestages zur Verabschiedung des ESchG lassen zwar erkennen, dass der Gesetzgeber sich der Möglichkeit bewusst war, dass durch das ESchG der private Lebensbereich der fortpflanzungswilligen Personen berührt sein könnte, in den Debatten während des Gesetzgebungsverfahrens standen aber eindeutig Aspekte des Embryonenschutzes und die Verhinderung missbräuchlicher Anwendungen der neuen Technologie im Vordergrund.429

Urteile des BVerfG, die sich mit einem möglichen Recht auf Fortpflanzung (positive Fortpflanzungsentscheidung) in Bezug auf die Inanspruchnahme von Methoden der medizinisch assistierten Fortpflanzung auseinandersetzen, existieren nicht. Vielmehr ist seit Inkrafttreten des ESchG 1991 zu diesem Gesetz kein einziges Gerichtsverfahren durchgeführt worden. In den letzten Jahren sind verstärkt Urteile der obersten Bundesgerichte (insbes. BFH, BGH, BSG) zu Randproblemen der medizinisch assistierten Fortpflanzung (z.B.: steuerliche Absetzbarkeit von Behandlungskosten, Erstattung von Behandlungskosten durch gesetzliche und private Krankenkassen, Arzthaftung, Unterhaltspflichten, vgl. hierzu Teil 1, Abschnitt 1.4.3.-1.4.6.) ergangen, denen die gemeinsame Tendenz zu entnehmen ist, dass die medizinisch assistierte Fortpflanzung in irgendeiner Form Grundrechtsschutz genießt. Z.B. wurde ein Urteil, das explizit darauf eingeht, dass auch die Inanspruchnahme bestimmter Methoden der medizinisch assistierten Fortpflanzung Grundrechtsschutz genießen könnte, 1998 vom

428 Aussagekräftige Stellungnahmen zu Grundrechten der Wunscheltern enthalten insbesondere die folgenden Publikationen: RAMM, Thilo: Die Fortpflanzung - Ein Freiheitsrecht? JZ 1989, S. 861 ff.;

STARCK, Christian: Die künstliche Befruchtung beim Menschen - Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen, Gutachten A für den 56. Deutschen Juristentag, 1986; COESTER-WALTJEN: Die künstliche Befruchtung beim Menschen - Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen, Gutachten B für den 56.

deutschen Juristentag, 1986; RICHTER, Ingo: „Von der Freiheit, Kinder zu haben - Verfassungsfragen der gesellschaftlichen Reproduktion“, in: NAUCK, Bernhard/ONNEN-ISEMANN, Corinna (Hg.): Familie im Brennpunkt von Wissenschaft und Forschung, 1995, S. 37-46

429 vgl. hierzu die Gesetzgebungsmaterialien, insbes.: 230. Sitzung des Bundestages vom 24.10.1990, 11. Wahlperiode, Tagesordnungspunkt 2, zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz - ESchG)

BFH gefällt.430 Der BFH legt sich aber in der Urteilsbegründung nicht in der möglichen Reichweite des Schutzbereiches eines solchen Grundrechts fest und liefert auch keine Begründung, sondern begnügt sich mit dem Verweis auf zwei Urteile des Schweizerischen Bundesgerichts vom 15.03.1989431 und 22.12.1993432. Das Urteil des BFH stellt im Ergebnis nur fest, dass die Kosten einer homologen künstlichen Befruchtung als außergewöhnliche Belastung steuerlich absetzbar sein können (vgl. Teil 1, Abschnitt 1.4.6.). All diese Urteile werden nachfolgend bei den entsprechenden Grundrechten genauer auf ihren Aussagegehalt untersucht werden.

Bei der notwendigen Verfassungsinterpretation in Bezug auf die Methoden der medizinisch assistierten Fortpflanzung besteht bei der Überprüfung eines Schutzes durch das Grundgesetz folgendes Grundproblem: Die hochtechnologisierten Methoden der medizinisch assistierten Fortpflanzung, die eine extrakorporale Zeugung menschlichen Lebens ermöglichen (z.B. ivF und ICSI mit den jeweils anschließend erforderlichen Embryotransfer) wurden erst lange nach Entwurf des Grundgesetzes als Behandlungsmethode für die ärztliche Praxis entwickelt (eine IVF führte erstmals im Jahr 1978 zur Geburt eines Kindes, vgl. zur Entwicklung der medizinisch assistierten Fortpflanzung Teil 1, Abschnitt 1.3.). Eine Ausnahme bilden die Möglichkeiten der Hormonbehandlung und der Insemination, die - zumindest in Grundzügen - bereits beim Erlass des Grundgesetzes bekannt waren und angewendet wurden. Es ist daher in Bezug auf die völlig neuen Methoden der medizinisch assistierten Fortpflanzung, die dem Verfassungsgeber unbekannt waren, zu prüfen, ob überhaupt eine Verfassungsinterpretation zulässig ist, oder ob eine Verfassungsänderung zur Klärung eines Grundrechtes auf Fortpflanzung bei medizinisch assistierter Fortpflanzung erforderlich wäre.

Eine grundrechtsdogmatisch vergleichbare Sachlage (Entwicklung einer Technologie nach Verabschiedung des GG) liegt bei der Frage der Genmanipulation an menschlichen Keimbahnzellen vor. Insoweit vertritt Zippelius die Ansicht, dass solche grundlegend neuen Fragen, die nicht in den Willen des Verfassungsgebers aufgenommen sein konnten, nicht durch die Auslegung der Verfassung beantwortet werden können. Seiner Ansicht nach ist der Gesetzgeber gehalten, die Lücke zu schließen. Dieser soll sich am vernunftgeleiteten Rechtsgewissen der Mehrheit zu orientieren haben.433 Dieser Satz kann nicht auf alle Bereiche der medizinisch assistierte Fortpflanzung übertragen werden, weil z.B. die Insemination und die Hormonbehandlung bereits bei Entwurf und

430 Urteil des BFH v. 18.06.1997, III R 84/96, NJW 1998, S. 854

431 Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, Urteil vom 15.03.1989, Az.: 1 P.251 und 254/1988; EuGRZ 1989, 370 ff.

432 Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, Urteil vom 22.12.1993, Az.: 1 P.741/1990;

EuGRZ 1994, 223 ff.

433 ZIPPELIUS in: DOLZER, Rudolf/VOGEL, Klaus/GRAßHOF, Karin: (Hg.): Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 2004, Art. 1 Abs. 1 u. 2, RN 78

Inkrafttreten des Grundgesetzes bekannt waren. Aber auch für neue wissenschaftliche Möglichkeiten erscheint ein Ausschluss der Verfassungsinterpretation nicht angebracht. Es ist in Bezug auf das GG anerkannt, dass die Aufzählung der Grundrechte lückenhaft ist.434 Die klassischen, von Rechtsprechung und Lehre entwickelten und angewandten Methoden der Verfassungsinterpretation haben dazu geführt, dass bestimmte Grundentscheidungen der Verfassung festgestellt wurden, mit deren Hilfe bereits bei Inkrafttreten des Grundgesetzes vorhandene Lücken geschlossen wurden. Es ist nicht ersichtlich, warum diese Methoden nicht auch auf neu entstandene Verfassungslücken angewendet werden können, da die historische Auslegung nicht die einzige Form der Verfassungsinterpretation darstellt. Wurden vom Verfassungsgeber spezielle Konfliktfelder übersehen oder hat ein Wandel der sozialen Verhältnisse stattgefunden, so darf das BVerfG als Teil der Judikative sogar insoweit frei die Besonderheiten eines Konfliktes berücksichtigen, ohne an die Meinung des Gesetzgebers im Entstehungsprozess gebunden zu sein.435 Für gesellschaftliche Veränderungen ist ausdrücklich anerkannt, dass diese bei der Verfassungsanwendung zu berücksichtigen sind.436

Das BVerfG hat bereits in zwei Entscheidungen aus den Jahren 1953 und 1954 zu diesem Punkt wie folgt Stellung genommen:

„Allerdings kann eine Verfassungsbestimmung einen Bedeutungswandel erfahren, wenn in ihrem Bereich neue, nicht vorausgesehene Tatbestände auftauchen oder bekannte Tatbestände durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen.“437

Für den Bereich der Anwendung des einfachen Rechts hat das BVerfG festgestellt, dass es der Grundsatz der Gewaltenteilung dem Richter nicht verwehre, das Recht fortzuentwickeln, sofern er sich dabei nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck eines Gesetzes entziehe. Vielmehr sei er verpflichtet, das vom Gesetzgeber vorgegebene Recht unter den gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen.438 Zur Rechtsfortbildung bei neuen wissenschaftlichen Entwicklungen führt das BVerfG aus:

„Handelt es sich bei den veränderten Bedingungen um neuartige, durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt geschaffene Handlungs- oder Einwirkungsmöglichkeiten, so wird die

434 DÜRIG in: MAUNZ, Theodor/DÜRIG, Günter (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 33.

Ergänzungslieferung, Nov. 1997, Art. 1 Abs. 2 RN 86-88

435 STEIN, Ekkehart in: DENNINGER, Erhard/ ... (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz für die

Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), Stand: August 2002, Einleitung II, RN 59

436 STEIN, Ekkehart in: DENNINGER, Erhard/ ... (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz für die

Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), Stand: August 2002, Einleitung II, RN 89

437 Entscheidung des BVerfG vom 01.07.1953, 1 BvL 23/51, BVerfGE 2; 380-406 (401);

Entscheidung des BVerfG vom 16.06.1954, 1 PBvV 2/52, BVerfGE 3, 407-439 (422)

438 BVerfG, Beschluss vom 12.11.1997, 1 BvR 479/92 und 307/94, BVerfGE 96, 375 ff. (394)

Rechtsfindung in der Regel in einer Ausweitung des Anwendungsfeldes einer bereits geläufigen Auslegung bestehen. Die Zwecksetzungsprärogative des Gesetzgebers wird dadurch regelmäßig nicht berührt.“439

Es ist dementsprechend grundsätzlich zulässig, neue Handlungsmöglichkeiten dem Schutzbereich vorhandener Grundrechte zuzuordnen, sofern der entsprechende Schutzbereich eine solche Zuordnung erlaubt. Für die Frage, ob die Entscheidung für Kinder und die ggf. zur Umsetzung dieser Entscheidung erforderliche Inanspruchnahme von Methoden der medizinisch assistierten Fortpflanzung Grundrechtsschutz genießen, ist es daher zulässig, den Schutzbereich der Artikel des GG auf einen möglichen Einschluss auch dieser Möglichkeit der Fortpflanzung zu überprüfen.

Bei der Verfassungsinterpretation ist zu berücksichtigen, dass die Entstehungsgeschichte einer Verfassungsnorm nur insoweit für die Interpretation der Norm nutzbar gemacht werden kann, wie die dieser Normentscheidung vorausgehende Meinungs- und Willensbildung des verfassungsgebenden Organs einen bestimmten Konflikt umfasst.440 Wegen ihrer Entwicklung nach Inkrafttreten des Grundgesetzes ist deshalb bei der Grundrechtsauslegung der Wille des Verfassungsgebers für nahezu alle hochtechnologisierten Bereiche der medizinisch assistierten Fortpflanzung (Ausnahme:

Insemination und Hormonbehandlung) nur eingeschränkt verwertbar. Dies liegt darin begründet, dass sich der Verfassungsgeber beim Erlass des Grundgesetzes über nichts Gedanken machen konnte, was es noch nicht gab und auch noch nicht einmal ansatzweise im Raume stand. In Bezug auf die neuen Möglichkeiten der medizinisch assistierten Fortpflanzung ist dementsprechend die historische Interpretation der Grundrechtsordnung mit äußerster Vorsicht anzuwenden. Allerdings können die für die normale Fortpflanzung getroffenen Wertentscheidungen des Verfassungsgebers auf die medizinisch assistierte Fortpflanzung übertragen werden. Bei dieser Übertragung von Grundentscheidungen der Verfassung ist jeweils im Einzelfall zu überprüfen, ob die der Wertentscheidung des Verfassungsgebers zugrunde liegenden äußeren Umstände vergleichbar sind oder ob sonstige Umstände (z.B. eine gesellschaftliche Folgenprognose oder das Hinzutreten weiterer Grundrechtsträger) eine Übertragbarkeit einer Grundentscheidung zur Fortpflanzung auf die Nutzung von Methoden der medizinisch assistierten Fortpflanzung fragwürdig erscheinen lassen.

Ein staatlicher Eingriff in Grundrechte, die die Fortpflanzung mit medizinischer Hilfe schützen, könnte z.B. darin liegen, dass der Staat die Inanspruchnahme einer medizinischen Behandlungsmöglichkeit verbietet (Kontrollfrage: Darf der Staat das Verbot einer medizinischen Behandlung, die der Beseitigung ungewollter Kinderlosigkeit dient, aufstellen?). Dies ist von einem möglichen Recht auf Beschaffung einer neuen Technologie durch den Staat (Kontrollfrage: Muss der Staat sich bemühen, seinen

439 BVerfG, Beschluss vom 12.11.1997, 1 BvR 479/92 und 307/94, BVerfGE 96, 375 ff. (394-395)

440 STEIN, Ekkehart in: DENNINGER, Erhard/ ... (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz für die

Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), Stand: August 2002, Einleitung II, RN 59

Bürgerinnen und Bürgern den tatsächlichen Zugang zu Möglichkeiten der Behandlung ungewollter Kinderlosigkeit zu verschaffen, z.B. durch Forschung?) ebenso abzugrenzen, wie von einem Anspruch auf Schaffung der finanziellen Möglichkeit der Teilhabe an einer neuen Technologie (Kontrollfrage: Besteht ein Anspruch auf Kostenübernahme durch den Staat?). Eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von konkreten staatlichen Eingriffen ist allerdings dem Teil 3 vorbehalten. Im Rahmen des Teil 2 geht es lediglich um die Frage, ob grundsätzlich die Nutzung von Methoden der medizinisch assistierten Fortpflanzung vom Schutzbereich fortpflanzungsbezogener Grundrechte umfasst ist, und wenn ja, in welchem Umfang.

Ein Recht darauf, dass der Staat die Nutzung einer Technologie nicht verbietet, kann überhaupt nur dann in Frage kommen, wenn die Anwendung dieser Technologie nicht auf grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken stößt. Spätestens seit Erlass des ESchG ist die generelle Zulässigkeit der medizinisch assistierten Fortpflanzung auch in der Rechtslehre unstreitig.441 Insbesondere haben viele der früher gegen Zulässigkeit der medizinisch assistierten Fortpflanzung in der juristischen Diskussion vorgebrachten Argumente ihre Überzeugungskraft verloren. Hierzu gehört insbesondere die Argumentation mit der Schicksalshaftigkeit ungewollter Kinderlosigkeit und der Unnatürlichkeit der Anwendung medizinischer Techniken in diesem Bereich. Die Argumentation mit der schicksalshaften und deswegen von den Betroffenen zu erduldenden Kinderlosigkeit ist seit der Entwicklung von Behandlungsmöglichkeiten nicht mehr zutreffend: Seit es eine medizinische Behandlung zur Überwindung von Sterilität gibt, ist allein die zur Sterilität führende Erkrankung, aber nicht mehr die Kinderlosigkeit schicksalshaft. Das Argument mit der Schicksalhaftigkeit einer Erkrankung ist zur Verweigerung der Möglichkeit ärztlicher Hilfe sowieso problematisch, denn jede Krankheit ist schicksalshaft. Dies genügt aber nicht, um den Ausschluss einer Behandlungsmöglichkeit zu rechtfertigen. Heutzutage würde zum Beispiel auch niemand mehr auf die Idee kommen, jemandem eine Brille mit dem Argument zu verweigern, seine Fehlsichtigkeit sei schicksalshaft. Oft wurde in der Vergangenheit auch damit argumentiert, dass die Methoden der medizinisch assistierten Fortpflanzung unnatürlich oder „in hohem Maße technisiert“442 und deshalb nicht zulässig seien. Die Unzulässigkeit

441 z.B.: HÖFLING in: Sachs, Michael (Hg.): Grundgesetz Kommentar, 2003; Art. 1 RN 21; KELLER, Rolf/GÜNTHER, Hans-Ludwig/KAISER, Peter: Embryonenschutzgesetz, 1992; DRESSLER, Angelika: Verfassungsfragen des Embryonenschutzes hinsichtlich der Reproduktionsmedizin, Diss.

Bielefeld 1992; KOLLEK, Regine: Präimplantationsdiagnostik - Embryoselektion, weibliche Autonomie und Recht, 2000; LORENZ, Dieter (Hg.): Rechtliche und ethische Fragen der Reproduktionsmedizin, 2003; MERZ, Bettina: Die medizinische, ethische und juristische Problematik artifizieller menschlicher Fortpflanzung: artifizielle Insemination, In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer und die Forschung an frühen menschlichen Embryonen, 1991

442 Z.B. begründet der österreichische VfGH in seinem Erkenntnis vom 14.10.1999, Az.: G 91/98-13 und G 116/98-13, MedR 2000, 389 ff. das Verbot der Eizellen- und Samenspende bei in vitro Befruchtung mit dem Technisierungsgrad des Verfahrens. Diese Begründung wird von Bernat in seiner Anmerkung zu diesem Urteil (MedR 2000, 394-396) als nicht überzeugend abgelehnt. Bernat lehnt auch das Argument der „Unnatürlichkeit“ als nicht überzeugend ab.

einer Handlung kann jedoch nicht aus dem Grad ihrer Technisierung abgeleitet werden.

Die Frage, ob eine neue Technologie nutzbar oder unbrauchbar ist, erfordert vielmehr eine rationale Auseinandersetzung mit ihren Möglichkeiten, ihren grundrechtlichen Implikationen und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen. Es gehört zum zentralen Selbstverständnis des politischen Liberalismus, dass der Staat sich um die konkurrierenden Vorstellungen von gutem Leben, moralischen Werten und Prioritäten nicht zu kümmern hat, sondern deren jeweilige Realisierbarkeit durch den sich selbst bestimmenden Bürger zu gewährleisten hat.443 Eng mit dem Argument der hohen Technisierung hängt das Argument der Unnatürlichkeit der medizinisch assistierten Fortpflanzung zusammen. Auch die Unnatürlichkeit der medizinisch assistierten Fortpflanzung ist gelegentlich als juristisches Argument zur Begründung ihrer Unzulässigkeit genannt worden. Deutsch äußerte sich z.B. 1985 dergestalt, dass die artifizielle Reproduktion nur zulässig sei, „wo auch eine natürliche in Frage komme“ und lehnte mit dieser Begründung die Klonung und die künstliche Verursachung gleicher Mehrlinge ab. Allerdings relativierte Deutsch im unmittelbaren Anschluss seine Aussage sofort wie folgt:

„Allerdings ist das Vorbild der Natur nicht zwingend. In der Natur kommen Eispende und Embryotransfer nicht vor, dennoch werden sie unter besonderen, engen Bedingungen zuzulassen sein.“444

An dieser Aussage von Deutsch lässt sich sehr gut belegen, wie untauglich das Argument der Natürlichkeit in der juristischen Diskussion ist. Obwohl er zur Rechtfertigung eines Verbotes der Klonung von Menschen zunächst absolut feststellt

„die artifizielle Reproduktion ist nur zulässig, wo auch eine natürliche in Betracht käme“

erklärt er die auf natürlichem Wege nicht mögliche Eispende und den Embryotransfer

„unter besonderen, engen Bedingungen“ für zulässig.

Es fehlt jedoch bei der Argumentation mit der Natürlichkeit bereits an einer genauen Definition dieses Begriffs. Selbst wenn man sich für eine biologisch fundierte Definition des Begriffes entscheidet, sieht man sich mit der Tatsache konfrontiert, dass viele unnatürliche medizinische Praktiken von der Rechtsordnung gebilligt, ja sogar gefördert werden, wenn dies einem vom Grundgesetz gebilligten Zweck (z.B. Schutz von Leben und Gesundheit) dient. Auf das Argument der Natürlichkeit allein kann man dementsprechend keine juristische Argumentation stützen, denn unsere Gesellschaft hat sich vom natürlichen Zustand seit langem verabschiedet. Dinge wie Impfungen, Operationen und die Organspende sind ebenfalls nicht natürlich, werden aber als Segnungen der Menschheit und nicht als Fluch betrachtet. Eine neue Methode kann nicht

443 SCHÖNE-SEIFERT, Bettina: Embryonenschutz und Abtreibung, in: KAHLKE, Winfried und REITER-THEIL, Stella (Hg.): Ethik in der Medizin, 1995, S. 52

444 DEUTSCH, Erwin: An der Grenze von Recht und künstlicher Fortpflanzung, VersR 1985, S. 1002

allein deshalb als gesellschaftlich untragbar abgelehnt werden, weil sie unnatürlich ist. Was die Natur vorsieht oder nicht vorsieht ist kein Argument für die Rechtfertigung rechtlicher Regelungen.445

Grundsätzlich gilt, dass Wertmaßstäbe, an denen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der medizinisch assistierten Fortpflanzung gemessen werden kann, nicht einfach aus anderen Wissenschaftszweigen, wie z.B. der Ethik, Theologie und Philosophie übernommen werden können. Diese Wissenschaftszweige bieten lediglich Anhaltspunkte, die bei einer juristischen Beurteilung berücksichtigt werden können, aber keine allgemeingültigen Beurteilungsmaßstäbe. So stellt z.B. Merz für den Bereich der philosophischen Ethik fest, dass es in unserer heutigen Gesellschaft kein allgemeinverbindliches Wertesystem mehr gibt, an dem wertgebundene Entscheidungen im Rahmen der Reproduktionsmedizin gemessen werden könnten. Es bestehe lediglich noch ein humanitärer Minimalkonsens, der als Richtschnur einer sittlichen Entscheidung herangezogen werden könne. Als konsensfähige Werte der philosophischen Ethik nennt Merz:

• Menschenwürde;

• das Prinzip der Verantwortung;

• die „Goldene Regel“ des „was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu“;

• Fairnessprinzip (Vorteile und Lasten einer Handlung müssen gleichmäßig verteilt werden);

• Verallgemeinerungsprinzip (bestimmt durch den kategorischen Imperativ Kants:

„Handle so, daß du jederzeit wollen kannst, die Maxime deines Handelns solle allgemeines Gesetz werden“);

• Autonomieprinzip (bestimmt durch den hypothetischen Imperativ Kants, wonach der Mensch Zweck in sich selbst und nie Mittel zum Zweck ist);

• Gleichbehandlungsprinzip;

• Toleranz;

• Solidarität.446

Merz stellt weiterhin fest, dass die Wertungen der philosophischen Ethik in Bezug auf die Fortpflanzungsmedizin keine eindeutige Richtschnur für die juristische Regelung dieses Komplexes bieten, da die Meinungsvielfalt innerhalb der philosophischen Ethik von völliger Ablehnung der Reproduktionsmedizin, bis hin zu äußerst wohlwollender

445 HOERSTER, Norbert: Abtreibung im säkularen Staat - Argumente gegen den § 218, 1995, S. 30-31

446 MERZ, Bettina: Die medizinische, ethische und juristische Problematik artifizieller menschlicher Fortpflanzung: artifizielle Insemination, In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer und die Forschung an frühen menschlichen Embryonen; 1991, S. 136-137

Befürwortung reicht.447 Auch die theologischen Positionen zur medizinisch assistierten Fortpflanzung können im säkularen Staat nicht als allgemein gültige Richtschnur herangezogen werden. Die Wertmaßstäbe zur Bestimmung und Bewertung von Fortpflanzungsgrundrechten sind daher dem Wertsystem des Grundgesetzes zu entnehmen.

Ob möglicherweise Grundrechte Dritter, z.B. des Kindes oder weiterer, an der medizinisch assistierten Fortpflanzung beteiligter Personen eine Einschränkung von Fortpflanzungsgrundrechten der Wunscheltern rechtfertigen, ist eine Frage der angewandten Methode und der besonderen Umstände. Diese Überprüfung erfolgt im Teil 3 dieser Ausarbeitung.

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE