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Umfasst der Schutzbereich der Menschenwürde auch die Tätigkeit Fortpflanzung?

Teil 2: Grundrecht auf Fortpflanzung?

2.3. Einzelne Grundrechte

2.3.1.1.2. Umfasst der Schutzbereich der Menschenwürde auch die Tätigkeit Fortpflanzung?

Im Anschluss an die allgemeinen Ausführungen zur Inhaltsbestimmung des Menschenwürdebegriffs ist nunmehr zu untersuchen, ob auch die Tätigkeit der Fortpflanzung dem Schutzbereich der Menschenwürde zuzurechnen ist. Als juristischer Anknüpfungspunkt für die Untersuchung, ob die Fortpflanzung als Teil des Schutzbereichs von Art. 1 GG anzusehen ist, bietet sich die Rechtsprechung des BVerfG an, welche den engsten Bereich der privaten Lebensführung der Menschenwürde zuordnet. Diesem Bereich wurden bislang z.B. die moralische Selbstbestimmung und das Recht zur Verfügung über die engere persönliche Lebenssphäre und die eigene Person, etwa bezüglich Eingehung oder Nichteingehung einer Ehe, zugeordnet.480

Die juristische Literatur enthält in Bezug auf die Frage, ob vom Rechtsbegriff „Würde des Menschen“ auch die Tätigkeit der Fortpflanzung mit umfasst ist, die folgenden Aussagen:

Den ersten Anhaltspunkt bieten die Stellungnahmen zur Thematik der Sterilisation und Kastration. Diese weisen insoweit einen Zusammenhang mit der menschlichen Fortpflanzung auf, als hierdurch die körperlichen Voraussetzungen der Fortpflanzung zerstört werden. Zur Frage der Zulässigkeit der zwangsweisen Kastration ist im Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG wie folgt Stellung genommen worden:

“Die zwangsweise Kastration, die als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bereits gegen Art.

2 Abs. 2 S. 1 GG verstößt, verletzt auch die Würde des Menschen. Hierdurch wird der Mensch zum Objekt staatlichen Handelns degradiert und Praktiken ausgeliefert, die in den Bereich der Tierzucht gehören“.481

Trotz des Zusammenhangs mit der menschlichen Fortpflanzung ist diese Aussage nicht geeignet, die Argumentation zu stützen, dass zum Kern der menschlichen Würde auch die Fortpflanzung gehört. Es geht primär darum, dass der Einzelne nicht zum Objekt staatlichen Handelns gemacht werden darf. Ob die Fortpflanzung - unabhängig von einem staatlichen Eingriff - als Teil der Menschenwürde eingestuft wird, bleibt unklar.

Demgegenüber wird inzwischen die Entscheidung für eine freiwillige Kastration oder Sterilisation, die als endgültige Entscheidung gegen die eigene Fortpflanzung anzusehen ist, zu jenen Angelegenheiten gezählt, die der höchstpersönlichen Disposition unterliegen und vom Schutzbereich der Würdegarantie umfasst sind.482

480 ZIPPELIUS in: DOLZER, Rudolf/VOGEL, Klaus/GRAßHOF, Karin: (Hg.): Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 2004, Art. 1 Abs. 1 u. 2 RN 79, 90

481 DÜRIG in: MAUNZ, Theodor/DÜRIG, Günter (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz; Stand: 33.

Ergänzungslieferung, Nov. 1997, Art. 2 Abs. 2 RN 32

482 ZIPPELIUS in: DOLZER, Rudolf/VOGEL, Klaus/GRAßHOF, Karin: (Hg.): Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 2004, Art. 1 Abs. 1 u. 2 RN 92

Herdegen nimmt in seiner Neukommentierung von Art. 1 Abs. 1 GG zum Schutz der Fortpflanzung durch die Menschenwürde wie folgt Stellung, ohne dies jedoch näher zu begründen:

„Zur eigenverantwortlichen Selbstbestimmung unter dem Dach von Art. 1 Abs. 1 GG (und zum Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG) gehört die Verwirklichung eines Kinderwunsches. Dies schließt die Freiheit ein, sich der modernen Fortpflanzungsmedizin zu bedienen.“483

Es fehlt ansonsten an klaren Aussagen dazu, ob und in welchem Umfang die Entscheidung für die Fortpflanzung und die dazugehörigen Handlungen vom Schutzbereich des Art. 1 GG umfasst werden. In Literatur und Rechtsprechung wird allerdings bei Thematisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Zusammenhang mit fortpflanzungsrelevanten Sachverhalten i.d.R. pauschal auf die Würde des Menschen Bezug genommen (vgl. zu den Details den unmittelbar nachfolgenden Abschnitt 2.3.2.).484 Im Ergebnis führt die Auswertung von Literatur und Rechtsprechung zu Art. 1 Abs. 1 GG zu dem Schluss, dass die normale Fortpflanzung als von der Menschenwürde geschützt angesehen wird. Allerdings fehlt es in den untersuchten Quellen an einer detaillierten Begründung dieser Zuweisung. Nachfolgend soll daher versucht werden, eine Begründung dafür herauszuarbeiten, warum die Fortpflanzung als hochstehendes Rechtsgut durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützt wird.

Zu diesem Zweck ist als erstes zu überprüfen, wie die Gesellschaftswirklichkeit in Bezug auf die Fortpflanzung derzeit aussieht. Nach den Ergebnissen einer Anfang der 90er Jahre durchgeführten Studie stellt für junge Frauen in Deutschland die Absicht, zusammen mit einem festen Partner Kinder zu bekommen und diese gemeinsam aufzuziehen, auch heute noch den mit Abstand führenden Lebensentwurf dar. Ein Kinderwunsch war beim überwiegenden Teil der Frauen zwischen 20 und 30 Jahren deutlich ausgeprägt und hatte einen hohen Stellenwert. Auch war bei der überwiegenden Anzahl der Frauen der Wunsch vorhanden, in einer festen Partnerschaft Kinder zu bekommen. Der Zeitpunkt der Verwirklichung des Kinderwunsches wurde allerdings von den meisten auf unbestimmte Zeit verschoben. Die Gründe hierfür variierten, am häufigsten wurde eine unsichere berufliche und finanzielle Situation genannt. Die Frauen beabsichtigten, erst eine gewisse „materielle Sicherheit“ zu erreichen, bevor sie den Kinderwunsch realisieren wollten. Als weitere Gründe für den Aufschub des

483 HERDEGEN in: MAUNZ, Theodor/DÜRIG, Günter (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz; Art. 1 Abs. 1 RN 93, Stand: 43. Ergänzungslieferung, Februar 2004

484 BVerfG, Urteil vom 25.02.1975, Az.: 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74, BVerfGE 39, 1 ff. (42-43); BVerfG, Urteil vom 28.05.1993, Az.: 2 BvF 2/90, 4/92, 5/92, BVerfGE 88, S. 203-366, Leitsatz 5 und 7 (Auszug); BGH, Urteil v. 29.06.1976, Az.: VI ZR 68/75; BGHZ 67, 48 ff., (54); BGH, Urteil vom

17.04.1986, Az.: IX ZR 200/85, BGHZ 97, 372 ff. (379); Urteil des BFH v. 18.06.1997, III R 84/96, NJW 1998, S. 854; COESTER-WALTJEN: Die künstliche Befruchtung beim Menschen - Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen, Gutachten B für den 56. deutschen Juristentag, 1986, S. 47; STARCK, Christian: Die künstliche Befruchtung beim Menschen - Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen, Gutachten A für den 56. Deutschen Juristentag, 1986, S. 38

Kinderwunsches wurden als ungünstig empfundene gesellschaftliche Rahmenbedingungen genannt, wie z.B. zunehmende Gewalt, Umweltprobleme, Konkurrenzkampf und Ellbogengesellschaft.485

Zusätzlich belegt ein Blick auf internationale Rechtsquellen, dass der Wunsch nach Kindern und die zur Erfüllung dieses Wunsches erforderlichen Handlungen als hochrangiges Lebensziel anerkannt werden. Zum Beispiel enthalten Art. 12 der

„Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“486 (EMRK) und Art. 16 der „Declaration of Human Rights“ (UNO 1948) ein ausdrückliches Recht auf Familiengründung, dementsprechend auf Fortpflanzung.487

Wenn nach diesen Feststellungen der Wunsch nach Kindern nach wie vor eindeutig als hochrangiges Lebensziel junger Menschen einzustufen und auch im internationalen Recht anerkannt ist, stellt sich als nächstes die Frage, wodurch dieses Phänomen bedingt wird:

Warum wollen Menschen Kinder bekommen und aufziehen? Und warum genießt diese Tätigkeit grundsätzlich gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung? Es ist zumindest nicht auszuschließen, dass diese Motivationen des Kinderwunsches für die Zuordnung der Fortpflanzung zum Schutzbereich der Menschenwürde von Bedeutung sind.

Aus diesem Grund werden zunächst die allgemeinen Motivationen des Wunsches nach Reproduktion dargestellt und anschließend auf ihren Bedeutungsgehalt für eine Zuweisung der Fortpflanzung zum Schutzbereich der Menschenwürde untersucht. Dabei sind bei der Frage der Kinderwunschmotivation zwei grundlegende Konstellationen zu unterscheiden. Zum einen ist zu untersuchen, warum sich überhaupt jeder Mensch irgendwann in seinem Leben mit der Frage befasst, ob er oder sie Kinder haben möchte (allgemeine Kinderwunschmotivation) und zum anderen, warum man sich dann tatsächlich entscheidet, Kinder zu bekommen oder nicht zu bekommen (individuelle Kinderwunschmotivation). Für die Prüfung, ob die Fortpflanzung dem Schutzbereich der Menschenwürde zugeordnet werden kann, ist in erster Linie die allgemeine Kinderwunschmotivation von Interesse. Hier kann möglicherweise eine Antwort auf die Frage gefunden werden, warum der Kinderwunsch - unabhängig von individuellen Motiven - als menschliches Grundbedürfnis angesehen wird.

485 SEIDENSPINNER, Gerlinde/KEDDI, Barbara/WITTMANN, Svendy/GROSS,

Michaela/HILDEBRANDT, Karin/STREHMEL, Petra: Junge Frauen heute - Wie sie leben, was sie anders machen. Ergebnisse einer Längsschnittstudie über familiale und berufliche

Lebenszusammenhänge junger Frauen in Ost- und Westdeutschland, 1996, S. 165, 182, 183-184, 216, 219

486 Konvention vom 04.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, (BGBl. 1952 II S. 685, 953) in der Fassung der Bekanntmachung vom 17.05.2002, BGBl. II S. 1054

487 BERNAT, Erwin: Statusrechtliche Probleme im Gefolge medizinisch assistierter Zeugung, MedR 1986, S. 245-253 (253)

Auf welchen Ursachen beruht nun die allgemeine Kinderwunschmotivation? Zunächst bietet sich ein Blick auf die Definitionen der Biologie an, aus denen sich ein unmittelbarer Zusammenhang von Leben und Fortpflanzung ergibt. Leben ist biologisch definiert als

• Metabolismus (Energieumschlag)

• Mutagenität (Variabilität der Erbträger)

• Selbstreproduktion

Hält man sich allein an diese biologische Definition von Leben, so stellt man fest, dass Fortpflanzung ein unabdingbarer Bestandteil der biologischen Existenz einer Person ist.

Auch von medizinischen Stellungnahmen wird die Reproduktion als integraler Bestandteil des Lebens angesehen. Zudem wird der Wunsch, Nachkommen zu haben, als biologisch vorprogrammiert angesehen. Hierzu äußert sich Huber wie folgt:

“Leben bedeutet Reproduktion. Dadurch wird die Fortpflanzung zum biologischen Grundrecht, das niemandem leichtfertig genommen werden darf.“488

Deutsch bezeichnet die Fortpflanzung des Menschen in seinen Kindern als die

„zentrale biosoziologische Gegebenheit der Menschheit“.489

Es stellt sich bei der Betrachtung dieser Aussagen die Frage, ob eine solche biologische Grundfunktion wie die Reproduktion grundsätzlich als Teil des Inhaltes der Menschenwürde anzusehen ist. Der Argumentation mit dem „biologischen Imperativ“

steht gegenüber, dass der Mensch als denkendes Wesen in der Lage ist, diesen

„biologischen Imperativ“ rational zu erfassen und mit den Vor- und Nachteilen der Fortpflanzung individuell abzuwägen, was dazu führt, dass Menschen sich auch bewusst gegen Kinder entscheiden.490 Der Mensch ist in der Lage, über den bloßen

Geschlechtsakt hinaus die Konsequenzen dieser Handlung einzusehen. Er kann diese Konsequenzen bedenken und kulturspezifische Entscheidungen für oder gegen die biologischen Konsequenzen des Geschlechtsaktes treffen. Durch dieses Bedenken hört Fruchtbarkeit auf, ein biologisch-animalischer Vorgang zu sein.491 Infolgedessen ist zwar der Wunsch nach einem Kind als fundamentales menschliches Grundbedürfnis anerkannt, gleichzeitig wird aber gesehen, dass sich hier das biologisch begründete Bedürfnis nach Arterhaltung mit dem Streben der Einzelnen oder des Paares nach individueller und

488 HUBER, Johannes: Medizinethische Überlegungen zum FHG; in: Fortpflanzungsmedizin - Wertung und Gesetzgebung, Hrsg.: Univ.-Doz. Dr. Erwin Bernat, 1991, S. 11

489 DEUTSCH, Erwin: An der Grenze von Recht und künstlicher Fortpflanzung, VersR 1985, S. 1002

490 VOLAND, Eckart (Hg.): Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel; 1992, ders. S. 350-362

491 CROMM, Jürgen: Bevölkerung, Individuum, Gesellschaft - Theorien und soziale Dimensionen der Fortpflanzung; 1988, S. 22 m.w.N.

partnerschaftlicher Entfaltung verbindet.492 Fortpflanzung ist dementsprechend kein biologischer Automatismus (wie z.B. die vegetativen Körperfunktionen Atmung und Herzschlag), sondern ein willensgesteuertes menschliches Verhalten mit einer starken biologischen Komponente, die sowohl bei der Willensentscheidung, als auch bei den zur Fortpflanzung notwendigen Handlungen von Bedeutung ist.

Allein mit dem Argument eines biologischen Zwanges kann man deshalb auch nicht in juristischer Hinsicht die Fortpflanzung dem Schutzbereich der Menschenwürde zuordnen.

Die Vorstellung von Würde beruht ja gerade darauf, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier in der Lage ist, sich gegen biologische Zwänge zu stellen und sich frei von diesen zu entscheiden. Auch Hirsch/Hiersche lehnen bei dem Versuch, den von ihnen vorausgesetzten hohen Stellenwert der Fortpflanzungsfähigkeit zu begründen, ein vorrangiges Abstellen auf die biologische Komponente ab:

„Der hohe Stellenwert der Fortpflanzungsfähigkeit beruht nicht allein, ja nicht einmal überwiegend auf dem biologischen Aspekt von Zeugung und Empfängnis. Es ist vielmehr die Fähigkeit, bewusst neues Leben zu initiieren und gestaltend zu begleiten, welche die Fertilität von anderen körperlichen Fähigkeiten abhebt. Dieses „Stückchen Teilhabe an der Schöpfungsmacht Gottes“ und nicht die somatische Fähigkeit, Samenfäden dort zu platzieren oder platzieren zu lassen, wo sie eine Eizelle penetrieren und damit zu einer Verschmelzung der beiden Chromosomensätze führen können, rechtfertigt die Einstufung an hoher Stelle innerhalb der Rechtsguthierarchie.“493

Allein die biologische oder die medizinische Lebensdefinition genügen deshalb nicht zur Begründung der Reproduktion als Teil der Menschenwürde. Allerdings stellt die Tatsache, dass Leben, weil es grundsätzlich sterblich ist, ohne Reproduktion nicht möglich ist, ein Indiz dafür dar, dass die Reproduktion einen wichtigen Faktor im Leben eines Menschen darstellt. Der Einfluss der biologischen Komponente bei der allgemeinen Kinderwunschmotivation ist insoweit von Bedeutung, als hierdurch die Fortpflanzung von vielen anderen Lebensentscheidungen (z.B. ob man ein Auto kauft, zur Miete wohnt oder ein Haus kauft, welche Berufsausbildung man wählt etc.) abgehoben wird.

Neben dem biologisch begründeten Kinderwunsch können auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen in Bezug auf die allgemeine Fortpflanzungsmotivation von Bedeutung sein. Insbesondere ist zu hinterfragen, ob neben der biologischen Vorprägung auch eine soziale Vorprägung, oder zumindest ein sozialer Druck für den Fortpflanzungsentschluss von Bedeutung ist. Anders formuliert: Wie frei ist das Individuum bei der Entscheidung über Kinder, kann es sich insbesondere im sozialen Umfeld „frei“ (d.h. insbesondere frei von Diskriminierungen) gegen Kinder entscheiden.

Das Fehlen eines sozialen Drucks in Bezug auf die freie Entscheidung für oder gegen

492 MERZ, Bettina: Die medizinische, ethische und juristische Problematik artifizieller menschlicher Fortpflanzung: artifizielle Insemination, In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer und die Forschung an frühen menschlichen Embryonen; 1991, S. 57

493 HIRSCH, G./HIERSCHE, H.-D.: Sterilisation geistig Behinderter, MedR 1987, S. 135-140 (138)

Kinder ist für unsere derzeitige Gesellschaft zu verneinen. Bereits aus den Wertungen des Grundgesetzes in Art. 6 Abs. 1 GG ergibt sich eine eindeutige Wertentscheidung dahingehend, dass die Entscheidung für Kinder vom Staat (der ein Interesse am Fortbestehen seiner Bevölkerung hat) bevorzugt wird, auch wenn damit keine grundsätzliche Abwertung anderer Lebensentwürfe verbunden ist. Auch in der Gesellschaftswirklichkeit dominiert, aufgrund der historisch entwickelten sozialen Strukturen, die Akzeptanz der Entscheidung für Kinder, während die Entscheidung gegen Kinder als negativ eingestuft wird.494 Dies liegt u.a. darin begründet, dass durch strukturell

festgelegte soziale Position (z.B. junge Menschen in stabiler Paarbeziehung, junge Eheleute) bestimmte Verhaltensmuster gesellschaftlich vorgegeben sind, denen sich die Positionsinhaberin oder der Positionsinhaber in ihrem tatsächlichen Verhalten kaum entziehen können. Ursache hierfür ist, dass die Interaktion zwischen Individuen nicht jeweils situationsgerecht neu erfunden wird und auch nicht durch materielle Sachzwänge vorbestimmt wird. Soziales Verhalten orientiert sich vielmehr an kulturell vorgegebenen Verhaltensmustern, deren Einhaltung durch sozialen Konsens oder Zwang kontrolliert wird.495 Bei den geschlechtsspezifischen Verhaltensmustern für Mann und Frau, Ehemann und Ehefrau, Vater und Mutter handelt es sich zum einen, da sie einem allgemeinen Muster der Arbeitsteilung zugeordnet sind, um Verhaltensmuster höchster Allgemeinheit, und zum anderen, da sie bereits mit der frühkindlichen Sozialisation verankert werden, um Muster höchster Intensität.496 Als solches Muster ist in Deutschland nach wie vor das Leben in einer bürgerlichen Familienstruktur (Vater-Mutter-Kinder) vorherrschend (vgl.

hierzu die ausführliche Darstellung im Abschnitt 2.3.6.1.1.). Dieses Verhaltensmuster legt jungen Menschen auch heute noch eine Partnerschaft mit daraus hervorgehender Elternschaft als „klassischen“ Lebensentwurf nahe. Dementsprechend äußert Merz Zweifel, ob der Kinderwunsch tatsächlich instinktives menschliches Urbedürfnis sei und

494 Soweit eine wachsende „Kinderfeindlichkeit“ der Gesellschaft zu beobachten ist, bezieht sich diese in erster Linie auf bereits vorhandene Kinder, besonders wenn sie Lärm verursachen, (Steuer-)Geld kosten oder in sonstiger Weise von Dritten als störend empfunden werden. Ideologisch hat die Entscheidung für Kinder aber nach wie vor einen hohen Stellenwert. (SEIDENSPINNER,

Gerlinde/KEDDI, Barbara/WITTMANN, Svendy/GROSS, Michaela/HILDEBRANDT, Karin/STREHMEL, Petra: Junge Frauen heute - Wie sie leben, was sie anders machen. Ergebnisse einer

Längsschnittstudie über familiale und berufliche Lebenszusammenhänge junger Frauen in Ost- und Westdeutschland, 1996, S. 165, 182, 183-184, 216, 219)

495 HAUSEN, Karin „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘ - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“ in: CONZE, Werner (Hg.): Industrielle Welt - Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, Band 21: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, 1976, S. 364

496 HAUSEN, Karin „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘ - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“ in: CONZE, Werner (Hg.): Industrielle Welt - Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, Band 21: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, 1976, S. 364

führt an, dass er möglicherweise auch ein kulturell produziertes Gefühl darstellen könnte.497 Zumindest hat der Kinderwunsch mit Sicherheit neben biologischen auch soziale Komponenten.

Welche Rückschlüsse erlaubt nun die Feststellung dieser sozialen Komponenten des Kinderwunsches in Bezug auf die Bestimmung des Schutzbereiches der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG? Wenn innerhalb einer Gesellschaft von einer Person allgemein ein bestimmtes Verhalten erwartet wird, wie z.B. von jungen Menschen die Familiengründung und die Fortpflanzung, so ist dies auch bei der Bestimmung des Menschenwürdeschutzes von Bedeutung. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung des vom BVerfG aufgestellten Grundsatzes, dass das Individuum bei der Bestimmung seiner Menschenwürde durch seine Gemeinschaftsbezogenheit begrenzt wird.498 Dieser Grundsatz markiert nämlich keine Einbahnstrasse, sondern ein wechselseitiges Verhältnis:

In dem Umfang, wie die Gemeinschaft auf den Einzelnen einwirkt, muss sie ihm auch eine entsprechende Bestimmung seines Menschenwürdeschutzes zugestehen. Es gehört auch zur Menschenwürde, dass einer Person die Möglichkeit eingeräumt wird, sich entsprechend den sozialen Verhaltensmustern, die von Staat und Gesellschaft erwartet werden, zu verhalten. Dementsprechend ist auch das aufgrund der Gesellschaftswirklichkeit erwartete Verhalten eines Individuums bei der Bestimmung des Schutzbereichs der Menschenwürde in Bezug auf die Fortpflanzung ein wichtiges Kriterium.

Als Ergebnis aus der Untersuchung der allgemeinen Kinderwunschmotivation bleibt festzuhalten, dass sich eine Person insoweit nicht frei entscheidet, sondern dass der allgemeine Kinderwunsch biologisch und sozial vorgegeben ist. Das aus der Vermischung von biologischen und sozialen Komponenten hervorgehende Grundbedürfnis nach Nachkommen führt dazu, dass sich nahezu jede Person irgendwann in ihrem Leben mit der Frage beschäftigt, ob sie Kinder haben und aufziehen möchte. Die willensgesteuerte Komponente der Fortpflanzung (individuelle Kinderwunschmotivation) wird erst durch die allgemeine Kinderwunschmotivation ausgelöst. Aufgrund der menschlichen Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstreflexion wird der allgemeine Kinderwunsch rational erfasst und dann eine individuelle positive oder negative Fortpflanzungsentscheidung getroffen.

497 MERZ, Bettina: Die medizinische, ethische und juristische Problematik artifizieller menschlicher Fortpflanzung: artifizielle Insemination, In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer und die Forschung an frühen menschlichen Embryonen; 1991, S. 67

498 BVerfG, Urteil vom 20.07.1954, 1 BvR 459, 484, 548, 555, 623, 651, 748, 783, 801/52, 5, 9/53, 96, 114/54, BVerfGE 4, 7 (15-16); BVerfG, Urteil vom 15.12.1970, 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69, BVerfGE 30, 1 (20); BVerfG, Beschluss vom 29.07.1968, 1 BvL 20/63, 31/66 und 5/67, BVerfGE 24, 119 (144); DÜRIG in: MAUNZ, Theodor/DÜRIG, Günter (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 33. Ergänzungslieferung, Nov. 1997, Art. 1 Abs. I RN 46

Als weiteres Argument für einen hohen Rang der Fortpflanzung innerhalb menschlicher Handlungsoptionen kann angeführt werden, dass sich aufgrund der allgemeinen Kinderwunschmotivation tatsächlich auch viele Menschen dazu entscheiden, sich fortzupflanzen. Die bewusste Entscheidung gegen Kinder ist nach wie vor selten.

Häufiger ist das Aufschieben des Kinderwunsches auf einen späteren Zeitpunkt, mit späterem Scheitern der Realisierung aus den verschiedensten Gründen.499 Für Personen, die sich aufgrund der allgemeinen Kinderwunschmotivation mit der Fortpflanzungsfrage befassen und dann eine individuelle positive Kinderwunschmotivation entwickeln, stellt der einmal gefasste Entschluss, Kinder in die Welt zu setzen, in der Regel ein hochstehendes persönliches Lebensziel dar. Bei solchen hochstehenden Zielen wird ein Erfolg vom Individuum mit höchster Priorität angestrebt, dem andere Lebensziele bereitwillig untergeordnet werden. Die Entscheidung für Kinder hat dementsprechend einen ähnlich zu beurteilenden Stellenwert im Leben einer Person wie z.B. die Entscheidung über die Eingehung einer Ehe. All diese Punkte sind ebenfalls ein Indiz dafür, der Entscheidung für die Fortpflanzung und den zur Umsetzung der hierzu erforderlichen Handlungen einen besonderen Stellenwert einzuräumen.

Anhand dieser Gesamtschau der möglichen Gründe für eine Einordnung der Fortpflanzung als hochstehende menschliche Handlungsoption kann die These aufgestellt werden, dass die Entscheidung für Kinder und für die zur Umsetzung dieser Entscheidung notwendigen Handlungen auf einer hochrangigen Entscheidung der persönlichen Lebensplanung beruhen. Dabei beruht der allgemeine Kinderwunsch nicht auf einer völlig freien Entscheidung, sondern stellt eine gemischt biologisch-sozial motivierte, mit individuellen Faktoren abgewogene Vorgabe der menschlichen Existenz dar. Erst aufgrund des allgemeinen Kinderwunsches wird die individuelle Willensentscheidung für oder gegen Kinder aufgrund verschiedenster Motive getroffen.

All diese Faktoren rechtfertigen es bereits, die Entscheidung für Kinder und die zur Umsetzung dieser Entscheidung erforderlichen Handlungen dem Schutzbereich der Menschenwürde zuzuweisen.

Diese Annahme der Zuordnung der Fortpflanzung zu einer hochrangigen Entscheidung der persönlichen Lebensplanung wird durch die Rechtsprechung zu Fragen aus dem Umfeld der menschlichen Fortpflanzung gestützt, nach der ein positiver oder negativer individueller Kinderwunsch keiner besonderen Rechtfertigung bedarf und nicht gerichtlich überprüft werden kann.500 Warum der Kinderwunsch als hochrangig anzusehen ist, wird allerdings nicht detailliert begründet. Dieses in der Rechtsprechung zu erkennende

499 SEIDENSPINNER, Gerlinde/KEDDI, Barbara/WITTMANN, Svendy/GROSS,

Michaela/HILDEBRANDT, Karin/STREHMEL, Petra: Junge Frauen heute - Wie sie leben, was sie anders machen. Ergebnisse einer Längsschnittstudie über familiale und berufliche

Lebenszusammenhänge junger Frauen in Ost- und Westdeutschland, 1996, S. 165, 182, 183-184, 216, 219

500 BGH, Entscheidung vom 21.02.2001 (XII ZR 34/99), BGHZ 146, 391-401 (397-398); BGH, Entscheidung vom 21.02.2001 (XII ZR 34/99), BGHZ 146, 391-401 (400)

Phänomen der hochrangigen Einstufung eines Kinderwunsches kann mit der

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