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Der staatliche Umgang mit Verhütungsmitteln

Teil 2: Grundrecht auf Fortpflanzung?

2.1. Rechtsgeschichte: Behandlung der Fortpflanzung zwischen 1871 und 1933

2.1.2. Der staatliche Umgang mit Verhütungsmitteln

Die Entwicklung der Bevölkerung im Gebiet des Deutschen Reiches war im Untersuchungszeitraum geprägt durch kontinuierlich sinkende Geburtenzahlen (zwischen 1880 und 1930 sank die Geburtenrate um ca. 40 %), bei gleichzeitigem deutlichen Rückgang der Säuglingssterblichkeit (zwischen 1901 und 1930 halbierte sich die Säuglingssterblichkeit im Durchschnitt, allerdings starben überproportional viele uneheliche Kinder im Säuglingsalter).316 Das Sinken der ehelichen Geburtenziffern begann ab 1871 und verlief zunächst langsam, ab 1900 sanken die Geburtenziffern dann stärker.

Diese Entwicklung ist nach heutigem Wissensstand in erheblichem Umfang der zunehmenden ehelichen Empfängnisverhütung zuzuschreiben.317

Trotz des allgemeinen Geburtenrückgangs erlebte Deutschland um die Jahrhundertwende aber (u.a. wegen der verminderten Säuglingssterblichkeit) die höchsten Bevölkerungswachstumsraten, die es in seiner Geschichte zu verzeichnen gibt, diese Entwicklung endete mit dem 1. Weltkrieg.318 Die Fruchtbarkeit der Bevölkerung variierte, je nach Region, religiöser Überzeugung, Berufsgruppe und Bildungsstand innerhalb einer Berufsgruppe: Als grobe Regel kann angegeben werden, dass in Deutschland im Untersuchungszeitraum die Bevölkerung in ländlichen Gebieten fruchtbarer war als in den Städten, die Fruchtbarkeit in katholischen Familien höher lag als in evangelischen und in christlichen höher als in jüdischen. Die Fruchtbarkeit der Arbeiterschaft war höher als bei Angestellten, bei Angestellten war sie wiederum höher als beim Bildungsbürgertum (höhere Beamte, Lehrer und Freiberufler).319

Die Rechtslage in Bezug auf Verhütungsmittel lässt sich wie folgt zusammenfassen: Es bestand im Untersuchungszeitraum kein gesetzliches Verbot der Empfängnisverhütung oder des Vertriebes von Verhütungsmitteln. Auch die Herstellung von Verhütungsmitteln320 unterlag keinerlei gesetzlichen Beschränkungen.321 Allerdings stellte

316 SAATZ, Ursula: § 218, Das Recht der Frau ist unteilbar - Über die Auswirkungen des § 218 und die Bewegung gegen die Abtreibungsgesetzgebung zur Zeit der Weimarer Republik, 1991, S. 16-17

317 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 26, 29

318 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 27, 29, 34

319 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 28

320 Die deutsche Verhütungsmittelindustrie produzierte im Untersuchungszeitraum Gummikondome und sonstige Gummiwaren sowohl für den Inlandsbedarf als auch für den Export. Die wesentlich teureren, als Luxusgüter einzustufenden Kondome aus Schafdarm oder Fischblasen stammten demgegenüber in der Regel aus Frankreich.

321 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 45, 47

die im Jahr 1900 neu gefasste Vorschrift des § 184 StGB-1871322 die Ausstellung, Ankündigung und Anpreisung von „Gegenständen zum unzüchtigen Gebrauch“ unter Strafe.323 Nach der ursprünglichen Fassung des § 184 StGB-1871 war nur Ausstellung und Verbreitung unzüchtiger Schriften, Abbildungen und Darstellungen strafbar.324 Die mit Gesetz vom 25.06.1900325 in Bezug auf Verhütungsmittel als Nr. 3 neu eingefügte Vorschrift des § 184 StGB-1871 hatte folgenden Wortlaut:

„Mit Gefängniß bis zu Einem Jahre und mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark oder mit einer dieser Strafen wird bestraft, wer [...]

3) Gegenstände, die zu unzüchtigem Gebrauche bestimmt sind, an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder solche Gegenstände dem Publikum ankündigt oder anpreist; [...]“326

Diese Vorschrift wurde durch das Innenministerium in seinen Ausführungsbestimmungen vom 11.10.1901 wie folgt erläutert:

„Besondere Bedeutung ist der Vorschrift in § 184 No. 3 a.a.O. beizumessen, welche den Zweck verfolgt, eine wirksame Bekämpfung der Ausstellung und Anpreisung der sog. Präservativs u.s.w.

zu ermöglichen, die sich auf Grund der bisherigen Vorschriften des Strafgesetzbuches nicht durchführen ließ. Ich nehme an, daß sich mit einer strengen und umfassenden Handhabung dieser Vorschrift [...] der wesentlichste Zweck der von dem Strafsenat des Kammergerichts für ungültig erklärten Polizeiverordnung vom 01. Januar 1900 wird erreichen lassen. In erster Linie wird es sich darum handeln, auf Grund des § 184 No. 3 St.G.B. mit aller Strenge gegen die Ausstellung der betreffenden Gegenstände in Schaufenstern und Aushängekästen, wie sie von einzelnen Geschäften, z.B. in der Passage, immer noch erfolgt, einzuschreiten, ferner aber auch gegen die Ankündigungen und Anpreisungen solcher Gegenstände in den Schaufenstern und Läden der Barbiere und der Gummiwarenhändler, sowie in der Presse.“327

Die vage Formulierung des Gesetzestextes führte dazu, dass das Reichsgericht (RG) in den ersten Urteilen zu § 184 Abs. 3 StGB-1871 eine Begründung dafür finden musste, warum Verhütungsmittel als „zum unzüchtigen Gebrauch“ bestimmt anzusehen waren.

Das RG begründete eine entsprechende Feststellung, indem es allein auf die Eignung solcher Mittel zur Empfängnisverhütung und zur Verhütung der Ansteckung von Geschlechtskrankheiten beim außerehelichen Geschlechtsverkehr abstellte, der als

322 Die Aufnahme dieser Vorschrift zu Verhütungsmitteln erfolgte im Rahmen des sog. „lex Heinze“;

diese Gesetzesinitiative zur Bekämpfung verschiedener Erscheinungsformen der „Unzucht“ war durch einen skandalösen Mordfall mehrere Jahre zuvor ausgelöst worden, das Gesetz wurde am 25.06.1900 verabschiedet (DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und

Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 68-69)

323 SAATZ, Ursula: § 218, Das Recht der Frau ist unteilbar - Über die Auswirkungen des § 218 und die Bewegung gegen die Abtreibungsgesetzgebung zur Zeit der Weimarer Republik, 1991, S. 15

324 DALCKE, A.: Strafrecht und Strafprozeß, 1879, S. 271

325 RGBl. S. 301

326 DAUDE, Paul: Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 mit den Entscheidungen des Reichsgerichts, 1901, S. 169-172

327 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 69-70

unzüchtig galt.328 In der Praxis der Anwendung des § 184 Abs. 3 StGB-1871 bildete sich bis 1912 eine extrem repressive Rechtsprechung heraus, deren Zweck es war, auch die üblichen verdeckten Anpreisungen von Verhütungsmitteln aus Zeitungen und Büchern verschwinden zu lassen. Im September 1913 erging ein Erlass des preußischen Justizministers an die Staatsanwaltschaften der Bezirke, der auf diese Rechtsprechung verwies und dazu aufforderte „mit größtem Nachdruck“ einzuschreiten. Als Begründung hierfür wird allerdings vorrangig der „bedenkliche Geburtenrückgang“ wegen der weiten Verbreitung von Verhütungsmitteln angeführt, auf den der Innenminister durch Berichte und Gutachten aufmerksam geworden sei.329 Damit wird die Zielrichtung des gesteigerten staatlichen Verfolgungsinteresses deutlich: Steigerung der Geburtenzahlen und nicht allein die Bekämpfung unzüchtiger Verhaltensweisen. Da Vertrieb und Herstellung von Verhütungsmitteln nicht direkt verboten waren, versuchte man, die Empfängnisverhütung mittels der Erschwerung des Zuganges zu Verhütungsmitteln und zu Verhütungsmittelwissen zu vermindern. Durch die Regelung des § 184 Abs. 3 StGB-1871 und das aus bevölkerungspolitischen Gründen gesteigerte staatliche Verfolgungsinteresse wurden der Verkauf, die Propagierung und selbst das schlichte Bekanntwerden empfängnisverhütender Mittel stark behindert. Dennoch waren Verstöße häufig und das Einschreiten gegen aus dem Ausland übersandte Preislisten oder von dort initiierte Ankündigungen war nicht möglich.330

Anfang des 20. Jahrhunderts stellte sich die Gesellschaftswirklichkeit in Bezug auf die Empfängnisverhütung wie folgt dar: Methoden der Verhinderung einer unerwünschten Schwangerschaft waren in Deutschland bereits vor dem Ersten Weltkrieg für ca. zwei Drittel der Frauen in Deutschland eine Selbstverständlichkeit.331 Während des Krieges und danach wurden sie noch wichtiger, um die Versorgung der bereits vorhandenen Familie angesichts von Inflation und Versorgungskrisen sicher zu stellen. Mit der spürbaren Zunahme der Empfängnisverhütung ab 1900 begann auch die breite öffentliche Debatte über diese Art der Geburtenregelung.332 Demgegenüber setzte die breite öffentliche Diskussion über das Phänomen des Geburtenrückganges erst zeitverzögert ab ca. 1912 ein und gewann dann sehr schnell an Umfang.333 Parallel hierzu tauchte das Thema Geburtenregelung oder Geburtenrückgang auch in der politischen Debatte in Deutschland erst nach 1900 auf. Nach Verabschiedung des Gesetzes, mit

328 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 70

329 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 70-71

330 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 71

331 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 51, 63

332 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 31-31, 36-37

333 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 33, 36-37

dem der § 184 in das StGB-1871 aufgenommen wurde, verschwand das Thema Verhütung aus der politischen Diskussion, bis im Jahr 1910 die Problematik des Geburtenrückgangs erkannt und der Zusammenhang mit der Anwendung von Verhütungsmitteln politisch aufgearbeitet wurde.334

Die mit Abstand führende Motivation für die vermehrte Verwendung von Verhütungsmitteln durch Ehepaare waren wirtschaftliche Gründe (in vielschichtiger Ausprägung).335 Es ist auch zu beobachten, dass Anfang des 20. Jahrhunderts in

Deutschland Kinderreichtum zunehmend mit Dummheit assoziiert wurde und kinderreiche Familien sich dem Spott ihrer Mitmenschen ausgesetzt sahen.336 Paare, die dennoch bewusst keine Verhütungsmittel verwendeten, taten dies überwiegend aus wertrationalen, insbesondere religiösen Motiven (z.B. Katholiken und orthodoxe Juden).337

Quellen fundierten Wissens (z.B. ärztliche, rein wissenschaftliche Vorträge und Publikationen) über Verhütungsmittel waren wegen der weiten Auslegung des Anwendungsbereichs von § 184 Abs. 3 StGB-1871 nicht verfügbar.338 Dementsprechend vielschichtig und mehr oder weniger zuverlässig waren die Quellen für das Wissen über Verhütungsmittel und Verhütungstechniken in der einfachen Bevölkerung. Eine Befragung der Hausärztin oder des Hausarztes war zwar möglich, fand aber oft aus Scham oder Geldmangel nicht statt. Männer erlangten insbesondere während ihrer Militärzeit Kenntnisse, die auch der staatlichen Sorge für die Prävention von Geschlechtskrankheiten zu verdanken waren. Demgegenüber bekamen Frauen solche Informationen von Freundinnen oder aus dem Familienkreis. Auch in der Arbeitswelt war Empfängnisverhütung für beide Geschlechter ein Thema, über das im Kollegenkreis geredet wurde.339 Allerdings fehlte oft gerade Jugendlichen, mangels jeglicher Aufklärung durch die Eltern oder durch staatliche Institutionen, das erforderliche Wissen über sexuelle Zusammenhänge und Verhütungsmethoden.340 Bei der Anwendung von

Verhütungsmittelwissen durch die betroffenen Paare ist auch zu berücksichtigen, dass im

334 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 84-87

335 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 56

336 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 58, 63

337 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 57

338 KIENLE, Else: Frauen - Aus dem Tagebuch einer Ärztin (Berlin 1932), S. 148; DIENEL, Christiane:

Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 70

339 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 51

340 KRISCHE, Maria, S. 180-186 (erstmals veröffentlicht 1929) und SCHMIDT, Wilhelm, S. 186-190 (erstmals veröffentlicht 1931) in: HOHMANN, Joachim S.: Sexualforschung und -aufklärung in der Weimarer Republik - Eine Übersicht in Materialien und Dokumenten, 1985

Untersuchungszeitraum Verhütung von der überwiegenden Anzahl der Männer als Frauensache angesehen wurde. Selbst wenn sie, wie z.B. der Ehemann und mehrfache Vater bereits vorhandener Kinder, ein eigenes Interesse an der Verhinderung weiterer Schwangerschaften ihrer Geschlechtspartnerin haben mussten, resultierte dies oft nicht in einer entsprechenden Anpassung des Sexualverhaltens. Sie verließen sich im Regelfall darauf, dass die von der Schwangerschaft und Geburt von Kindern viel existentieller betroffenen Frauen (sehr illustrierend ist das zeitgenössische Zitat „ich krieg‘ sie ja nicht“) sich um die Verhütung kümmern oder ggf. eine Abtreibung durchführen würden. Wenn als Verhütungsmittel der sog. „coitus interruptus“ vom Mann praktiziert wurde, so erfolgte dies meist auf entschiedenes Verlangen der Frau.341 Dementsprechend wurden Methoden der Empfängnisverhütung in der einfachen Bevölkerung überwiegend aufgrund der Initiative von Frauen ab ca. 25 Jahren genutzt.342 Dies liegt zum einen darin begründet, dass diese Frauen oft schon die gewünschte Anzahl Kinder hatten343, zum anderen vermutlich daran, dass sie mit zunehmendem Alter auch über die notwendigen Kenntnisse und eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit gegenüber ihren Geschlechtspartnern verfügten.

Der Vertrieb von Verhütungsmitteln an den Endverbraucher erfolgte durch Versandbetriebe, Gummihandlungen, Drogerien, Friseure, Bandagisten und ähnliche Geschäfte, sowie vereinzelt auch durch Hebammen und Ärzte. Wo entsprechende Geschäfte nicht in erreichbarer Nähe zur Verfügung standen, insbesondere auf dem Lande, erfolgte der Vertrieb von Verhütungsmitteln durch Hausierer.344 Die Versandbetriebe annoncierten ihre Waren in allen Tageszeitungen, allerdings mussten wegen des Verbotes in § 184 Abs. 3 StGB-1871 vorsichtige Formulierungen verwendet werden: Üblich war deshalb eine medizinisch-wissenschaftliche Aufmachung der Anzeigen und das daran anschließende Angebot der Zusendung von Preislisten und Katalogen auf Anforderung. Die Gestaltung dieser Anzeigen wurde allerdings durch die verschärfte Verfolgungspraxis der Behörden um 1912 immer schwieriger. Bei unaufgeforderter Zusendung von Werbematerialien an Jungverheiratete und junge Eltern wurden oft Formulierungen wie „Schutzmittel“, „Gummiwaren“ oder „hygienische Bedarfsartikel“ neben dem klaren Hinweis auf die Nachteile zu vieler Kinder verwendet.345

341 SAATZ, Ursula: § 218, Das Recht der Frau ist unteilbar - Über die Auswirkungen des § 218 und die Bewegung gegen die Abtreibungsgesetzgebung zur Zeit der Weimarer Republik, 1991, S. 32-34

342 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 26-27

343 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 26-27

344 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 46-47

345 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 47

Der Preis für den Endverbraucher hing von der Art des Verhütungsmittels346, sowie von dessen Vertriebsweg ab, am teuersten war der Bezug über Hausierer.347 Nach den zwischen 1900 und 1914 aufgrund von Marktbeobachtungen getroffenen Feststellungen des Reichsgesundheitsamtes waren die Preise für Verhütungsmittel allgemein übertrieben hoch.348

Diese Fakten belegen, dass es in Deutschland auch nach Einführung des § 184 Abs. 3 StGB-1871 möglich war, sich Verhütungsmittel zu beschaffen349, allerdings musste man über das entsprechende Wissen und die notwendigen finanziellen Mittel verfügen. Und genau hier lag das Problem: Es standen zwar theoretisch zahlreiche effektive Verhütungsmittel zur Verfügung (z.B.: Gummikondome, Vaginalspülungen, spermizide Zäpfchen, Diaphragmen), aus verschiedenen Gründen (Armut, Unkenntnis, Scham) hatten aber gerade unverheiratete, jüngere und ärmere Paare Schwierigkeiten, diese tatsächlich zu nutzen. Als Ausweg wählten die meisten dieser Paare den „coitus interruptus“ zur Empfängnisverhütung, der zwar nicht unwirksam ist, bei dem aber Fehlschläge vorprogrammiert waren.350 Es ist davon auszugehen, dass die hohen Abtreibungszahlen im Untersuchungszeitraum (vgl. hierzu den unmittelbar anschließenden Abschnitt 2.1.3.) dadurch mitverursacht wurden, dass der Zugang zu empfängnisverhütenden Mitteln durch den § 184 Abs. 3 StGB-1871 erschwert worden war.351 Aus all diesen Gründen ist das Werbeverbot für Verhütungsmittel bereits im Untersuchungszeitraum immer wieder kritisiert worden.352 Die sozial engagierte Frauenärztin Else Kienle beschreibt im Jahr 1932 die negativen Auswirkung des § 184 StGB-1871 wie folgt:

„„Es ist eine Schande unseres Jahrhunderts, daß wir - wie auf so vielen anderen Gebieten! - auch in der Frage der Geburtenregelung unsere Möglichkeiten nur schlecht oder gar nicht ausnutzen. Hundertfach verderblicher als die Gesetze gegen die Abtreibung sind jene

346 Preisbeispiele für Verhütungsmittel zwischen 1900 und 1918:

- 12 Kondome: 3,5 bis 5 Mark (Gummi), mehr als 6 Mark (Schafdarm), 6-12 Mark (Fischblase), zu beachten ist, dass Kondome damals mehrfach verwendet wurden

- Pessare (nebst ärztlicher Anpassung): 2-3 Mark

- Spül- oder Blasapparate für Frauen (deren Effektivität zweifelhaft war, die aber zum Teil auch zu Abtreibungszwecken verwendet werden konnten): 15-30 Mark

347 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 47

348 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 48

349 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 62

350 DIENEL, Christiane: „Das 20. Jahrhundert (I) - Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau“, in: JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 143

351 KIENLE, Else: Frauen - Aus dem Tagebuch einer Ärztin (Berlin 1932), S. 147-148

352 GAMPE, Franz in: HOHMANN, Joachim S.: Sexualforschung und -aufklärung in der Weimarer Republik - Eine Übersicht in Materialien und Dokumenten, 1985, S. 191-193 (erstmals veröffentlicht 1931)

Paragraphen, die den Vertrieb vorbeugender Schutzmittel einengen und behindern.353 [...]

Dadurch wird - wieder einmal - ein Fortschritt verfemt, eine Möglichkeit, das Leben leichter und freier zu machen, versperrt. Das, was jede Frau, jedes junge Mädchen rechtzeitig und gründlich kennenlernen müßte, wird abgebogen und abgedrängt ins Halbgeheime, Verbotene, Zweideutige. Eine selbstverständliche eugenische Maßnahme, eine wertvolle Kenntnis wird mit dem Makel der Lüsternheit gebrandmarkt. Auf diese Art treibt der Staat besonders die armen und unwissenden Frauen zur Abtreibung. Weil die den leichten, sauberen Weg der Verhütung nicht kennenlernen können, müssen sie später die bitteren Leiden, die Gefahren und die Schmach der Unterbrechung durchmachen. Eine weitere Folge dieses unverständigen Gesetzes ist die, daß geschickte, medizinisch einwandfreie Vorbeugungsmittel wiederum nahezu ein Privileg der besitzenden Klasse sind oder doch bis vor kurzem waren. Die junge wohlhabende Frau kann sich von ihrem Hausarzt beraten lassen. Die Proletariermädchen, die junge Arbeiterin aber erfahren fast nichts von den vorbeugenden Mitteln. Vielfach ist unter den einfachen Leuten die Meinung verbreitet, die Empfängnisverhütung an sich sei, ebenso wie die Abtreibung, gesetzlich verboten.

Und die Heimlichtuerei, mit der alle Fragen der Geburtenregelung behandelt werden, hält diese irrige Ansicht aufrecht. Zugleich bedeutet diese Geheimniskrämerei eine Verteuerung der vorbeugenden Mittel.“354

Im Ergebnis zeigte das Verbot der Werbung für Verhütungsmittel auch nicht die vom Staat erwünschten Folgen, da hierdurch weder der Unzucht Einhalt geboten werden konnte, noch eine Steigerung der Geburtenzahlen zu verzeichnen war. Bis 1918 wurden deshalb mehrere Versuche unternommen, durch neue gesetzliche Vorschriften den Zugang zu Verhütungsmitteln weiter zu erschweren, aus verschiedenen Gründen kam es jedoch nicht zur Verabschiedung dieser Gesetzesentwürfe.355 Statt dessen wurde durch das im Jahr 1927 erlassene „Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ eine Beschränkung des Anpreisens und Verkaufens von Verhütungsmitteln von einem nie eingeführten staatlichen Prüfungsverfahren abhängig gemacht und dadurch - trotz formalem Fortbestehen - in der Rechtspraxis unanwendbar.356

Aus der Regelung der Empfängnisverhütung durch den Staat lassen sich die folgenden Rückschlüsse für die Rechtsstellung der Fortpflanzung im Untersuchungszeitraum ziehen:

Da die Empfängnisverhütung selbst und der Erwerb dieser Mittel nicht verboten waren, wurde zumindest beim Erlass des § 184 Abs. 3 StGB-1871 die Entscheidung von Geschlechtspartnern als legal angesehen, solche Mittel zu verwenden. Es ist allerdings fraglich, ob hieraus geschlossen werden kann, dass der Staat ein entsprechendes Recht auf freie Entscheidung über eine Fortpflanzung bei einvernehmlichem Geschlechtsverkehr anerkannte. Denn einige empfängnisverhütende Mittel, wie z.B. Kondome dienten auch der Prävention von Geschlechtskrankheiten, woran der Staat ein erhebliches Interesse hatte. Dieses Interesse wird besonders deutlich, wenn man berücksichtigt, dass die de facto Aufhebung der Regelung in § 184 Abs. 3 StGB (trotz formellen Fortbestehens)

353 KIENLE, Else: Frauen - Aus dem Tagebuch einer Ärztin (Berlin 1932), S. 145

354 KIENLE, Else: Frauen - Aus dem Tagebuch einer Ärztin (Berlin 1932), S. 147-148

355 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 84-87

356 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 87

durch das „Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ von 1927 erfolgte. Auch war zum Zeitpunkt des Erlasses des § 184 Abs. 3 StGB-1871 im Jahr 1900 das Problem eines durch Empfängnisverhütung möglicherweise entstehenden Bevölkerungsrückganges noch gar nicht erkannt worden, die Aufnahme der Vorschrift in das StGB-1871 diente vielmehr ursprünglich der Eindämmung der Unzucht.

Dementsprechend können auch andere Gründe als die staatliche Anerkennung einer freien Fortpflanzungsentscheidung für das fehlende Verbot der Empfängnisverhütung oder das fehlende Verbot des Vertriebes empfängnisverhütender Mittel entscheidend gewesen sein. Dass eine staatliche Anerkennung der freien Fortpflanzungsentscheidung, insbesondere von verheirateten Personen insoweit nicht existierte, zeigt das Verhalten der Strafverfolgungsbehörden, nachdem das Problem des Bevölkerungsrückganges erkannt worden war: Wie sich aus dem Erlass des Justizministeriums vom September 1913 ergibt, hatten zumindest die Justizbehörden keinerlei Bedenken, auch aus bevölkerungspolitischen Erwägungen die Verfolgung von Verstößen gegen den § 184 Abs. 3 StGB-1871 zu verschärfen. Auch war seitens der Legislative mittels einiger Gesetzesinitiativen versucht worden, ein Verbot des Vertriebes empfängnisverhütender Mittel einzuführen. Diese Vorhaben scheiterten aus verschiedenen Gründen (z.B. wegen des 1. Weltkrieges, Ende des Kaiserreiches),357 aber nicht deshalb, weil ein Recht von

Dementsprechend können auch andere Gründe als die staatliche Anerkennung einer freien Fortpflanzungsentscheidung für das fehlende Verbot der Empfängnisverhütung oder das fehlende Verbot des Vertriebes empfängnisverhütender Mittel entscheidend gewesen sein. Dass eine staatliche Anerkennung der freien Fortpflanzungsentscheidung, insbesondere von verheirateten Personen insoweit nicht existierte, zeigt das Verhalten der Strafverfolgungsbehörden, nachdem das Problem des Bevölkerungsrückganges erkannt worden war: Wie sich aus dem Erlass des Justizministeriums vom September 1913 ergibt, hatten zumindest die Justizbehörden keinerlei Bedenken, auch aus bevölkerungspolitischen Erwägungen die Verfolgung von Verstößen gegen den § 184 Abs. 3 StGB-1871 zu verschärfen. Auch war seitens der Legislative mittels einiger Gesetzesinitiativen versucht worden, ein Verbot des Vertriebes empfängnisverhütender Mittel einzuführen. Diese Vorhaben scheiterten aus verschiedenen Gründen (z.B. wegen des 1. Weltkrieges, Ende des Kaiserreiches),357 aber nicht deshalb, weil ein Recht von

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