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Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch

Teil 2: Grundrecht auf Fortpflanzung?

2.1. Rechtsgeschichte: Behandlung der Fortpflanzung zwischen 1871 und 1933

2.1.3. Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch

Beim Schwangerschaftsabbruch handelt es sich um ein Phänomen, das in allen Gesellschaften, Epochen und Kulturen nachweisbar ist (sog. „Menschheitsphänomen).

Es ist als anthropologische Grundkonstante nur wenigen Veränderungen unterworfen.358 Entgegen einer weit verbreiteten historischen Fehlvorstellung hat es nach neueren Studien der Ethnomedizin immer ausreichend Mittel und Wege zu einer erfolgreichen Fruchtabtreibung gegeben, die erst in der Neuzeit langsam in Vergessenheit gerieten.

Sie wurden durch die effektiveren und sichereren Abtreibungsmethoden der modernen Medizin abgelöst, die das Wissen um althergebrachte Abtreibungsmöglichkeiten überflüssig machten.359

357 DIENEL, Christiane: Kinderzahl und Staatsräson - Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, 1995, S. 84-87

358 JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, ders. S.

9, 12

359 So waren z.B. in römischer Zeit über zweihundert abtreibende Mittel -mit mehr oder weniger starken Nebenwirkungen- bekannt, von denen 90 % auch nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen als recht wirksam einzustufen sind. Ein Großteil dieser Mittel war auch in der frühen Neuzeit noch in weiten Teilen der Bevölkerung, für die dieses Wissen relevant war, bekannt. Dieses Wissen nimmt erst ab, als es leichter wird, legal eine Abtreibung durchzuführen und den Menschen sichere empfängnisverhütende Mittel zur Verfügung stehen. (JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, ders. S. 25)

Das Recht des Schwangerschaftsabbruchs war zwischen 1871 und 1933 Teil des reichseinheitlichen Strafrechts. § 218 des am 15.05.1871 in Kraft getretenen Reichsstrafgesetzbuches (StGB-1871) regelte die Strafbarkeit eines Schwangerschaftsabbruchs, eine gesetzliche Regelung von Indikationen für einen zulässigen Schwangerschaftsabbruch existierte damals nicht. Der Text der ersten Fassung des § 218 StGB-1871 lautete:

„Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tödtet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnißstrafe nicht unter sechs Monaten ein. Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welcher mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel zu der Abtreibung oder Tödtung bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat.“360

Weitere Strafvorschriften zur Abtreibung enthielten § 219 StGB-1871 (Strafbarkeit der Abtreibung gegen Entgelt, Strafmaß: Zuchthaus bis zu 10 Jahren) und § 220 StGB-1871 (Strafbarkeit der vorsätzlichen Abtreibung gegen den Willen der Schwangeren, Strafmaß: Zuchthaus nicht unter 2 Jahren, sowie Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder lebenslänglich, wenn die Tat den Tod der Schwangeren verursacht hat).361

Ob der Schwangerschaftsabbruch rechtlich und gesellschaftlich als Unrecht eingestuft werden sollte, war bereits beim Entwurf der §§ 218-220 StGB-1871 (die an eine lange Tradition der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs in Gebiet des Deutschen Reichs anknüpften)362 mit der Frage verbunden, wo man den Zeitpunkt der Entstehung menschlichen Lebens ansetzt. Hier hat der weltliche Gesetzgeber auf die Definitionen aus der zeitgenössischen Ethik, der antiken Philosophie und insbesondere auf die Definitionen der christlichen Kirchen zurückgegriffen. Alfons von Liguori (1696-1787), einer der bedeutendsten Moraltheologen seiner Zeit hatte in seinem Werk „Theologia Moralis“

von 1748 ausgeführt, dass der Fötus bereits bei der Empfängnis (oder zumindest kurz danach) beseelt wird und nicht, wie vorher aufgrund der Feststellungen antiker Philosophen angenommen, zwischen dem 60. und 80. Tag nach der Empfängnis.363 Liguoris Feststellungen hatten bleibende Wirkung für die kirchliche Lehre364, welche die

360 DALCKE, A.: Strafrecht und Strafprozeß, 1879, S. 281

361 DALCKE, A.: Strafrecht und Strafprozeß, 1879, S. 281; SAATZ, Ursula: § 218, Das Recht der Frau ist unteilbar - Über die Auswirkungen des § 218 und die Bewegung gegen die

Abtreibungsgesetzgebung zur Zeit der Weimarer Republik, 1991, S. 12

362 vgl. zur Rechtslage vor 1871 den Überblick bei: SAATZ, Ursula: § 218, Das Recht der Frau ist unteilbar - Über die Auswirkungen des § 218 und die Bewegung gegen die

Abtreibungsgesetzgebung zur Zeit der Weimarer Republik, 1991, S. 9-12

363 Vor dem 60. bis 80. Tag nach der Empfängnis wurde der Fötus bis Mitte des 18. Jahrhunderts in Anlehnung an die Feststellungen antiker Philosophen als Teil der Eingeweide der Frau angesehen.

364 Seitens der Kirche wurde sogar dem Leben des ungeborenen Kindes Vorrang vor dem Leben der Mutter eingeräumt, diese sollte notfalls auf ihr eigenes Leben zugunsten des Lebens ihres Kindes verzichten. Eine Abtreibung wurde dementsprechend aus kirchlicher Sicht nur für zulässig erklärt, wenn sie aus einer Behandlung folgte, die die Mutter vor dem Tod retten sollte, wenn dieser Tod sowieso den Tod des ungeborenen Kindes bedeuten würde (sog. „indirekte Abtreibung“).

Abtreibung daraufhin in jedem Stadium scharf verurteilte.365 Diese Ansicht wurde von der Rechtswissenschaft übernommen.366 Auch der weltliche Gesetzgeber ließ sich bei der Regelung des Schwangerschaftsabbruches in § 218 StGB-1871 von der Vorstellung leiten, dass der Fötus ab dem Zeitpunkt der Empfängnis als strafrechtlich schutzbedürftig anzusehen ist. Das StGB-1871 äußerte sich allerdings nicht explizit zu der Frage, ob der Embryo bereits als „Mensch“ angesehen werden konnte. Statt dessen wurde negativ wie folgt abgegrenzt:

„Mensch (d.h. lebend, gesund oder krank) ist nicht die Leibesfrucht oder eine wirkliche Mißgeburt, d.h. ein Monstrum, und die Tötung der Mißgeburt ist überhaupt nicht strafbar.“367

Im juristischen Sinne begann menschliches Leben nach der im StGB-1871 niedergelegten Auffassung des Gesetzgebers mit der Geburt, somit war aus strafrechtlicher Perspektive die Abtreibung ein Verbrechen eigener Art und wurde nicht als Tötung eines Menschen angesehen.368

Ob ein grundsätzlich gemäß § 218 StGB-1871 strafbarer Schwangerschaftsabbruch aufgrund medizinischer Indikation zulässig sein konnte (= Wegfall der Rechtswidrigkeit des Abbruchs), war zunächst umstritten. Da jedoch bei Anwendung allgemeiner strafrechtlicher Grundsätze die Rechtswidrigkeit eines Abbruchs bei Notwehr der Frau gegenüber dem Kind, d.h. bei akuter Lebensgefahr für die Frau (physische Bedrohung durch das Kind) entfiel, wurde von der herrschenden Meinung ein Abbruch aufgrund (zunächst eng auszulegender) medizinischer Indikation für zulässig gehalten.369 Diese Haltung wurde durch ein Grundsatzurteil des Reichsgerichts vom 11.03.1927 bestätigt, das eine Abtreibung bei medizinischer Notlage ausdrücklich für nicht rechtswidrig erklärte. Dabei wurde die medizinische Notlage nicht - wie vorher von der herrschenden Meinung in der Rechtslehre angenommen - auf eine akute Lebensgefahr für die Mutter beschränkt: Die Rechtswidrigkeit einer Abtreibung entfiel auch dann, wenn diese „das einzige Mittel ist, um die Schwangere aus einer gegenwärtigen Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung im Sinne des § 224 zu befreien“. Damit wurde außer dem Leben der Schwangeren auch deren Gesundheit als schützenswertes Rechtsgut anerkannt, diese Rechtsgüter der Mutter wurden in Abwägung mit der Abtötung der

365 SEIDLER, Eduard: „Das 19. Jahrhundert - Zur Vorgeschichte des § 218“, in: JÜTTE, Robert (Hg.):

Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 124

366 SAATZ, Ursula: § 218, Das Recht der Frau ist unteilbar - Über die Auswirkungen des § 218 und die Bewegung gegen die Abtreibungsgesetzgebung zur Zeit der Weimarer Republik, 1991, S. 10-11

367 SEIDLER, Eduard: „Das 19. Jahrhundert - Zur Vorgeschichte des § 218“, in: JÜTTE, Robert (Hg.):

Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 134

368 SEIDLER, Eduard: „Das 19. Jahrhundert - Zur Vorgeschichte des § 218“, in: JÜTTE, Robert (Hg.):

Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 134

369 SEIDLER, Eduard: „Das 19. Jahrhundert - Zur Vorgeschichte des § 218“, in: JÜTTE, Robert (Hg.):

Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 132

Leibesfrucht vom RG als höherrangig eingestuft.370 Besonders hervorzuheben ist, dass es dem Gesetzgeber zwischen 1871 und 1933 bei der Regelung der Abtreibung nicht ausschließlich um den Schutz des werdenden menschlichen Lebens ging. Neben dem Argument des Schutzes des ungeborenen Lebens (das damals bei weitem nicht die zentrale Stellung inne hatte, die es in der heutigen Abtreibungsdiskussion einnimmt) wurde die als notwendig angesehene Steuerung der Bevölkerungsentwicklung ebenfalls als Argument für ein striktes Verbot der Abtreibung angeführt. Während noch im Kaiserreich in erster Linie die Empfängnisverhütung für das verminderte Bevölkerungswachstum verantwortlich gemacht wurde, ging man nach dem Ersten Weltkrieg davon aus, dass in der vermehrten Abtreibung die Ursache für das stagnierende Bevölkerungswachstum und die damit assoziierte „Verhinderung des nationalen Wiederaufstiegs“ nach dem verlorenen Krieg zu suchen sei.371 Gleichzeitig wurde die vermehrte Abtreibung als ein Indiz für die Degeneration des Pflichtgefühls, die Verrohung der Sitten und eine sich ausbreitende hedonistisch-gewissenlose Geisteshaltung betrachtet372. Die nach dem verlorenen Krieg schwierigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die tatsächlich für viele Frauen der Grund waren, keine (weiteren) Kinder zu bekommen373 , wurden aus der rechtlichen Diskussion weitgehend ausgeklammert.374

Das vom Staat auch mit der Absicht der Senkung der Abtreibungszahlen und der Steigerung der Geburtenziffern verhängte strafrechtliche Verbot des § 218 StGB-1871 zeigte allerdings nicht den gewünschten Erfolg: Die Abtreibung war trotz dieses Verbotes in der deutschen Gesellschaftswirklichkeit des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts eine weit verbreitete Methode zur Beendigung einer unerwünschten Schwangerschaft.375 Nach der Einführung des § 218 StGB hat die

Häufigkeit der Abtreibungen sogar noch weiter zugenommen.376 Bei der Abtreibung ging es nicht nur, wie oft angenommen, um die Verhinderung der Geburt nichtehelicher Kinder.

Ein großer Teil der abtreibungswilligen Frauen war vielmehr verheiratet und hatte bereits

370 GANTE, Michael: „Das 20. Jahrhundert (II) - Rechtspolitik und Rechtswirklichkeit 1927-1976“, in:

JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 169-170

371 SAATZ, Ursula: § 218, Das Recht der Frau ist unteilbar - Über die Auswirkungen des § 218 und die Bewegung gegen die Abtreibungsgesetzgebung zur Zeit der Weimarer Republik, 1991, S. 14

372 DIENEL, Christiane: „Das 20. Jahrhundert (I) - Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau“, in: JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 153-154

373 zahlreiche Fallstudien finden sich in: KIENLE, Else: Frauen - Aus dem Tagebuch einer Ärztin (Berlin 1932), S. 62 ff.

374 RIEPL-SCHMIDT, Maja in: KIENLE, Else: Frauen - Aus dem Tagebuch einer Ärztin (Berlin 1932), S.

158

375 SAATZ, Ursula: § 218, Das Recht der Frau ist unteilbar - Über die Auswirkungen des § 218 und die Bewegung gegen die Abtreibungsgesetzgebung zur Zeit der Weimarer Republik, 1991, S. 23

376 SEIDLER, Eduard: „Das 19. Jahrhundert - Zur Vorgeschichte des § 218“, in: JÜTTE, Robert (Hg.):

Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 135

mehrere Kinder. Die Abtreibung erfolgte dann in der Regel aus wirtschaftlichen Gründen, um die Versorgung der bereits vorhandenen Familie nicht zu gefährden.377 In den Großstädten war ca. die Hälfte der abtreibungswilligen Frauen unverheiratet, auf dem Lande war nur ca. ein Fünftel der abtreibungswilligen Frauen unverheiratet.378

Für die konkrete Durchführung einer illegalen Abtreibung gab es drei mögliche Alternativen379: (1) Selbstabtreibung durch die Schwangere380, (2) Zuhilfenahme von sog.

„Engelmacherinnen“ oder Kurpfuschern und (3) Abtreibung durch einen Arzt381. Die Schätzungen der Zahl der tödlich verlaufenden Abtreibungen weichen stark voneinander ab (von nach ärztlichen Schätzungen jährlich 4.000 bis 5.000 bis zu vermutlich überhöhten Schätzungen von 40.000382 bis 50.000 pro Jahr).383 Eine andere Quelle gibt an, dass in der Zeit von 1919 bis 1933 mehr als 500.000 Frauen in Deutschland an misslungenen Abtreibungen starben, u.a. deswegen, weil ihnen das geltende Recht die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe zum Zwecke der Abtreibung verweigerte.384 Heutzutage schätzt man die Zahl der damals tödlich verlaufenden Abtreibungen auf unter 1 %.385

377 Fallstudien zu entsprechenden Abtreibungsmotiven verheirateter Frauen sind bei KIENLE, Else:

Frauen - Aus dem Tagebuch einer Ärztin (Berlin 1932), S. 76 ff. beschrieben

378 DIENEL, Christiane: „Das 20. Jahrhundert (I) - Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau“, in: JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 144

379 DIENEL, Christiane: „Das 20. Jahrhundert (I) - Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau“, in: JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 144-145; KIENLE, Else: Frauen - Aus dem Tagebuch einer Ärztin (Berlin 1932), S. 97-98; SAATZ, Ursula: § 218, Das Recht der Frau ist unteilbar - Über die Auswirkungen des § 218 und die Bewegung gegen die Abtreibungsgesetzgebung zur Zeit der Weimarer Republik, 1991, S. 25-26

380 Als Methoden der Selbstabtreibung, deren Wirksamkeit zweifelhaft ist wurden z.B. angewendet:

Heiße Umschläge, Sitzbäder, schweres Arbeiten, schweres Heben, sog. „Abtreibungspillen“ oder selbst hergestellte Rezepturen, Einführen einer Stricknadel in die Gebärmutter. Eine bekannte, wirksamere Form der Selbstabtreibung war z.B. das Spritzen von Seifenlösung in die Gebärmutter mit in Sanitätshäusern, Gummiwarenhandlungen oder durch Hausierer „zu hygienischen Zwecken“

vertriebenen, sog. Birnenspritzen.

381 Nach zeitgenössischen Schätzungen war ca. ein Fünftel der Ärzte bereit, eine illegale Abtreibung durchzuführen oder eine tatsächlich nicht vorliegende medizinische Indikation zu bescheinigen. Eine ärztlich Abtreibung erfolgte instrumentell, durch Erweiterung des Muttermundes und Curettage (sog.

„Auskratzen“ der Gebärmutter). Wegen der hohen Kosten eines ärztlich durchgeführten Abbruchs stand diese Möglichkeit im Regelfall nur wohlhabenden Frauen zur Verfügung.

382 RIEPL-SCHMIDT, Maja in: KIENLE, Else: Frauen - Aus dem Tagebuch einer Ärztin (Berlin 1932), S.

158

383 DIENEL, Christiane: „Das 20. Jahrhundert (I) - Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau“, in: JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 150; SAATZ, Ursula: § 218, Das Recht der Frau ist unteilbar - Über die Auswirkungen des § 218 und die Bewegung gegen die Abtreibungsgesetzgebung zur Zeit der Weimarer Republik, 1991, S. 25-26

384 SCHRÖDER, Hannelore: Die Rechtlosigkeit der Frau im Rechtsstaat, 1979, S. 61

385 DIENEL, Christiane: „Das 20. Jahrhundert (I) - Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau“, in: JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 150

Häufiger (in ca. 15-25 % der Fälle386 ) traten als Folge einer Abtreibung gesundheitliche Dauerschäden bei der Frau auf (z.B.: chronische Schmerzen, Verwachsungen, Unfruchtbarkeit).387

Trotz hoher Abtreibungszahlen war gleichzeitig ein erhebliches staatliches Verfolgungsdefizit zu beobachten: Obwohl für Deutschland zwischen 1882 und 1912 die Zahl der illegalen Abtreibungen pro Jahr auf zwischen 300.000 und 500.000 geschätzt wurde, kam es aufgrund des § 218 StGB im Jahresdurchschnitt zu weniger als tausend Verurteilungen.388 Während des ersten Weltkrieges und danach stieg die Zahl der illegalen Abtreibungen nochmals deutlich an und erreichte während der Weltwirtschaftskrise ihren Höhepunkt mit geschätzten 800.000 bis 1.000.000 Abtreibungen pro Jahr. Nach diesen Zahlen kam Anfang der dreißiger Jahre in Deutschland fast auf jede Geburt eine Abtreibung.389 Andere Quellen schätzen die Zahlen der illegalen Abtreibungen niedriger ein (z.B. ca. 200.000 im Jahr 1924).390 Die Zahl der Verurteilungen wegen illegaler Abtreibung lag demgegenüber zwischen 1921 und 1933 im Durchschnitt lediglich bei ca.

4.000 bis 5.000 jährlich.391

Diese extreme Diskrepanz zwischen Gesellschaftswirklichkeit und geltendem Recht beruhte u.a. darauf, dass der klaren, von der katholischen Moraltheologie übernommenen Position des Gesetzgebers zur Entstehung menschlichen Lebens, eine völlig abweichende Haltung der deutschen Frauen zur ungeborenen Leibesfrucht gegenüberstand. Diese betrachteten ihre Leibesfrucht bis ungefähr zum fünften Monat, bzw. bis zu dem Zeitpunkt, wo sich merkbare Bewegungen des Kindes fühlen ließen, als leblos und unbeseelt. Nach den 1874 getroffenen Feststellungen des Strafrechtlers Holtzendorff empfanden es auch „gebildete, religiöse und häuslich tugendhafte Frauen“

nicht als Unrecht, in der ersten Zeit nach dem befürchteten Eintritt einer Schwangerschaft

386 HAMMER, Margot: Häufigkeit, Ursachen und Folgen der kinderlosen Ehen, unter Berücksichtigung der gewollten Kinderlosigkeit, 1964, S. 45

387 DIENEL, Christiane: „Das 20. Jahrhundert (I) - Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau“, in: JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 151

388 SEIDLER, Eduard: „Das 19. Jahrhundert - Zur Vorgeschichte des § 218“, in: JÜTTE, Robert (Hg.):

Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 135, 137

389 DIENEL, Christiane: „Das 20. Jahrhundert (I) - Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau“, in: JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 143; SAATZ, Ursula: § 218, Das Recht der Frau ist unteilbar - Über die Auswirkungen des § 218 und die Bewegung gegen die Abtreibungsgesetzgebung zur Zeit der Weimarer Republik, 1991, S. 24-25

390 RIEPL-SCHMIDT, Maja in: KIENLE, Else: Frauen - Aus dem Tagebuch einer Ärztin (Berlin 1932), S.

157

391 DIENEL, Christiane: „Das 20. Jahrhundert (I) - Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau“, in: JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 151; SAATZ, Ursula: § 218, Das Recht der Frau ist unteilbar - Über die Auswirkungen des § 218 und die Bewegung gegen die Abtreibungsgesetzgebung zur Zeit der Weimarer Republik, 1991, S. 21

die Menstruation wiederherzustellen.392 Diese Haltung der Frauen blieb auch Anfang des 20. Jahrhunderts unverändert. Sie betrachteten trotz des gesetzlichen Verbotes den Abbruch der Schwangerschaft im frühen Stadium weiterhin nicht als Unrecht und griffen auf diese Methode auch als Alternative zur Empfängnisverhütung zurück.393 Dies galt insbesondere für die unteren, weniger gebildeten Volksschichten, deren Zugang zu empfängnisverhütenden Mitteln und Verhütungsmittelwissen aufgrund des strafrechtlichen Werbeverbotes erschwert war.394

Das unausgewogene Verhältnis von Rechtslage (Verbot der Abtreibung) und Gesellschaftswirklichkeit (hohe Abtreibungszahlen, mangelndes Unrechtsbewusstsein in der Bevölkerung, Strafverfolgungsdefizit) führte dazu, dass das strafrechtliche Abtreibungsverbot immer wieder in Rechtswissenschaft, Politik und Gesellschaft diskutiert wurde. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde sogar von bedeutenden Juristen die Auffassung vertreten, dass das Abtreibungsverbot völlig aufgehoben werden sollte, da es dem Ansehen der Rechtsordnung insgesamt schade, in seiner Anwendung sowieso nur die ärmeren Bevölkerungsschichten treffe und das Strafmaß viel zu hoch sei und dem Empfinden weiter Volkskreise widerspreche.395 Allerdings hat sich diese Ansicht nicht durchgesetzt. Vielmehr war die öffentliche Debatte zur Abtreibung Anfang des 20.

Jahrhunderts durch alle politischen Lager von der Überzeugung getragen, dass ein Verbot der Abtreibung auch als Mittel der quantitativen Bevölkerungspolitik erforderlich sei396, denn der Bevölkerungsrückgang (insbesondere nach dem verlorenen Ersten

Weltkrieg) wurde als ernste Gefahr für den Staat angesehen. Gleichzeitig waren in der Diskussion um die Abtreibung der Schutz der Mutter und des ungeborenen Kindes als Individuen nur von nachrangiger Bedeutung: Das Verbot der Abtreibung und die damals diskutierten Maßnahmen zu seiner besseren Durchsetzung wurden in erster Linie unter dem Aspekt der Steigerung der Geburtenziffern und der Wahrung der Gebärfähigkeit der deutschen Frauen behandelt. Zur Erreichung dieses Zwecks wurden dem Bundesrat 1918 drei Gesetzesentwürfe vorgelegt, welche die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, die Unterbindung von Werbung für Verhütungsmittel und die weitere Beschränkung der Abtreibung zum Zweck hatten. Allerdings kam es wegen der

392 SEIDLER, Eduard: „Das 19. Jahrhundert - Zur Vorgeschichte des § 218“, in: JÜTTE, Robert (Hg.):

Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 124-125; KIENLE, Else:

Frauen - Aus dem Tagebuch einer Ärztin (Berlin 1932), S. 62 ff., in deren zahlreichen Fallstudien sich eine entsprechende Haltung der abtreibungswilligen Frauen deutlich widerspiegelt

393 DIENEL, Christiane: „Das 20. Jahrhundert (I) - Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau“, in: JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 143; SAATZ, Ursula: § 218, Das Recht der Frau ist unteilbar - Über die Auswirkungen des § 218 und die Bewegung gegen die Abtreibungsgesetzgebung zur Zeit der Weimarer Republik, 1991, S. 15

394 KIENLE, Else: Frauen - Aus dem Tagebuch einer Ärztin (Berlin 1932), S. 146-148

395 SEIDLER, Eduard: „Das 19. Jahrhundert - Zur Vorgeschichte des § 218“, in: JÜTTE, Robert (Hg.):

Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 138

396 KIENLE, Else: Frauen - Aus dem Tagebuch einer Ärztin (Berlin 1932), S. 137-139

Revolution nicht zur Verabschiedung dieser Gesetze.397 Auch in der Weimarer Republik wurde die Diskussion um die Strafwürdigkeit der Abtreibung weitergeführt. Seitens der Arbeiterparteien wurden zwischen 1920 und 1924 mehrere Gesetzgebungsvorhaben zur Lockerung, bzw. Aufhebung des geltenden Abtreibungsrechts im Reichstag beantragt, alle diese Anträge wurden abgelehnt.398 Einig war man sich in politischen Kreisen allerdings weitgehend über die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung der medizinischen Indikation, zusätzlich wurde nun auch ernsthaft die Forderung nach einer sozialen Indikation diskutiert.399 1926 wurden die Vorschriften der §§ 218-220 StGB-1871 auf Betreiben der Arbeiterparteien, die ihn als eine besonders die armen Bevölkerungsschichten treffende Strafvorschrift kritisierten, abgeändert und in einem neuen § 218 StGB-1871 zusammengefasst.400 Inhaltlich wurde das Verbot der Abtreibung ebenfalls umgestaltet. Wichtigste Änderung war, dass die Zuchthausstrafe für die Schwangere selbst abgeschafft wurde und die Gefängnisstrafe bei mildernden Umständen auf minimal einen Tag festgesetzt werden konnte.401 Gleichzeitig wurde das Strafmaß für andere Personen, die eine Abtreibung durchführten oder förderten, liberaler gestaltet.402 Aufgrund von Theaterstücken, Filmen und Presseberichten über umfangreiche Abtreibungsprozesse kam es gegen Ende der zwanziger Jahre zu einer Reihe öffentlicher Proteste und Kundgebungen gegen den § 218 StGB in der damals gültigen Fassung, diese Protestbewegung flaute aber bereits Ende 1931 ab, ohne dass es zu einer Gesetzesänderung kam.403 Völlig entgegengesetzt zu dieser langsamen

Entwicklung eines liberaleren gesellschaftlichen und gesetzlichen Umganges mit dem Schwangerschaftsabbruch stand die Haltung der katholischen Kirche: Mit der Enzyklika

„Casti connubii“ aus dem Jahr 1930 verurteilte die katholische Kirche ausdrücklich die Abtreibung als schwere Sünde.404 In der Enzyklika wurde der Gesetzgeber ausdrücklich aufgefordert, „durch zweckmäßige Gesetze und Strafen das Leben der Unschuldigen

„Casti connubii“ aus dem Jahr 1930 verurteilte die katholische Kirche ausdrücklich die Abtreibung als schwere Sünde.404 In der Enzyklika wurde der Gesetzgeber ausdrücklich aufgefordert, „durch zweckmäßige Gesetze und Strafen das Leben der Unschuldigen

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