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Der Stand der Diskussion zur medizinisch assistierten Fortpflanzung zur Jahrtausendwende - Ethik, Moral, Theologie und Recht

Obwohl die grundsätzliche Zulässigkeit der medizinisch assistierten Fortpflanzung inzwischen, insbesondere seit Erlass des ESchG, unter Medizinern219 und Juristen unstreitig ist220 und gesellschaftlich immer mehr akzeptiert wird, sind nach wie vor viele Fragen offen. Die derzeit streitigen Punkte und Positionen weden nachfolgend zunächst im Überblick dargestellt und abschließend zusammenfassend bewertet.

Begonnen wird dieser Überblick mit den nach wie vor kritischen Äußerungen aus Ethik und Theologie zur medizinisch assistierten Fortpflanzung, die an den verschiedensten Punkten ansetzen. Zum Beispiel kommt Pelkner in einer neueren Untersuchung (unter besonderer Berücksichtigung gesellschafts- und technikkritischer Quellen sowie von Gesichtspunkten feministisch-theologischer Ethik) zu einer negativen Einschätzung der IVF-Technologie: Der ärztliche Hilfeanspruch sei zumindest fraglich, die hohen Belastungen und Risiken der Technologie (insbesondere für die beteiligten Frauen) stünden in einem ungünstigen Verhältnis zu den Erfolgsaussichten des Verfahrens, die gegenwärtige Anwendungspraxis fördere einseitig herkömmliche Geschlechter- und Familienkonstellationen, berge die Gefahr eugenischer Tendenzen, bevorzuge Besserverdienende und berge zusätzlich die Gefahr einer Instrumentalisierung der Frau als Material- und Gebärressource.221

Es wird auch immer wieder darauf hingewiesen, dass die Beschränkung der Betrachtung des Problemkreises der ungewollten Kinderlosigkeit auf die Grenzen der wohlhabenden, demokratischen und in Frieden lebenden Staaten unter dem sozialethischen Argument der Gerechtigkeit bedenklich erscheine.222 In diesen Ländern würden erhebliche Mittel für

219 vgl. z.B. DIEDRICH, K. in: KREBS, Dieter/VAN DER VEN, Hans (Hg.): Aktuelle Reproduktionsmedizin - Gegenwart und Zukunft der IVF und ICSI, 1999, S. 103

220 vgl. z.B.: STARCK, Christian: Die künstliche Befruchtung beim Menschen - Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen, Gutachten A für den 56. Deutschen Juristentag, 1986; COESTER-WALTJEN:

Die künstliche Befruchtung beim Menschen - Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen, Gutachten B für den 56. Deutschen Juristentag,1986; KELLER, Rolf/GÜNTHER, Hans-Ludwig/KAISER, Peter:

Embryonenschutzgesetz, 1992; DEUTSCH, Erwin: An der Grenze von Recht und künstlicher Fortpflanzung, VersR 1985, S. 1002-1004; DRESSLER, Angelika: Verfassungsfragen des

Embryonenschutzes hinsichtlich der Reproduktionsmedizin, Diss. Bielefeld 1992; HIRSCH, Günter:

Zeugung im Reagenzglas, MedR 1986, S. 237-240; KOLLEK, Regine: Präimplantationsdiagnostik - Embryoselektion, weibliche Autonomie und Recht, 2000; LORENZ, Dieter (Hg.): Rechtliche und ethische Fragen der Reproduktionsmedizin, 2003; MERZ, Bettina: Die medizinische, ethische und juristische Problematik artifizieller menschlicher Fortpflanzung: artifizielle Insemination, In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer und die Forschung an frühen menschlichen Embryonen, 1991; PAP, Michael: Die Würde des werdenden Lebens in vitro - verfassungsrechtliche Grenzen der

extrakorporalen Befruchtung, MedR 1986, S. 229-236

221 PELKNER, Eva: Gott, Gene, Gebärmütter - Anthropologie und Frauenbild in der evangelischen Ethik zur Fortpflanzungsmedizin; 2001, S. 261

222 MERZ, Bettina: Die medizinische, ethische und juristische Problematik artifizieller menschlicher Fortpflanzung: artifizielle Insemination, In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer und die Forschung an frühen menschlichen Embryonen; 1991, S. 69

Forschung und Behandlung weniger Personen aufgewendet, während weltweit täglich Kinder an Unterernährung, mangelnder Hygiene und unzureichender medizinischer Versorgung stürben. Das Hinnehmen dieser moralischen Last demonstriere eine Praxis der Ungerechtigkeit223. Es stelle sich die Frage, ob die hohen Aufwendungen für

Forschung und Sterilitätstherapie gerechtfertigt sind, welche nur einem geringen Teil der Menschheit zugute kommen, oder ob es nicht erforderlich wäre, andere Prioritäten zu setzen.

Ein weiterer Kritikansatz weist darauf hin, dass im Alltag der gynäkologischen Praxis in Deutschland zwei entgegengesetzte Phänomene zu beobachten sind: Steigende Zahlen von Patientinnen, die einen Schwangerschaftsabbruch wünschen, bei gleichzeitig steigenden Zahlen von fortpflanzungswilligen, aber fortpflanzungsunfähigen Patientinnen und Patienten. Innerhalb desselben Klinikums ist oft der seltsame Zustand zu beobachten, dass einerseits Kinder abgetrieben werden und andererseits Paare mit unglaublich hohem Aufwand versuchen, eine Schwangerschaft herbeizuführen.224 Zwar dient die medizinisch assistierte Fortpflanzung grundsätzlich dem vom Staat erwünschten Ziel, dass Kinder zur Welt kommen, allerdings ist fraglich, ob sich der hierfür erforderliche finanzielle Aufwand rechtfertigen lässt, der über die gesetzliche und private Krankenversicherung von der Solidargemeinschaft getragen wird.

Grundsätzlich kann auch die Verwendung einer Technologie, die nur durch verbrauchende Forschung mit menschlichen Embryonen entwickelt werden konnte, unter ethischen oder moralischen Gesichtspunkten nach wie vor als fraglich angesehen werden. Was nun von der Gesellschaft als Fortschritt genutzt wird, konnte nur durch gezielte Experimente mit menschlichem Leben entwickelt werden. Nach Schätzungen von Experten sind mindestens 200 Versuche mit lebenden Embryonen notwendig gewesen, um die Geburt des ersten Retortenbabys 1978 zu ermöglichen.225 Es wird zwar in der Rechtslehre als zulässig angesehen, eine Technologie zu verwenden, die unter ethisch und moralisch fragwürdigen, ja sogar rechtswidrigen Bedingungen entwickelt wurde, dennoch verbleibt die moralische Frage, in welchem Umfang man Technologien nutzen will, deren Entwicklung im eigenen Lande als Verstoß gegen die Menschenwürde angesehen wird. Diese moralische Frage wird spätestens dann wieder relevant werden, wenn in Deutschland Erkenntnisse zur Rettung von Leben und Gesundheit eingesetzt werden sollen, die im Ausland durch Stammzellforschung erlangt wurden. Dieses Problem ist immanent mit dem in der Zukunft voraussichtlich immer brisanter werdenden Grundrecht der unbeschränkten und unbeschränkbaren Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3

223 KAHLKE, Winfried und REITER-THEIL, Stella (Hg.): Ethik in der Medizin; 1995, dies. im Kapitel

„Fortpflanzungsmedizin“, S. 41

224 KROLZIK, Volker/SALZMANN, Werner: Kind um jeden Preis? Beiträge zur ethischen Diskussion der neuen Reproduktionstechniken; 1989, BARTH, Hermann, S. 41

225 KROLZIK, Volker/SALZMANN, Werner: Kind um jeden Preis? Beiträge zur ethischen Diskussion der neuen Reproduktionstechniken; 1989, ALLNER, Günter, S. 19

S. 1 GG) verbunden und soll an dieser Stelle nicht vertieft diskutiert werden. Es ist spätestens seit Erfindung der Atombombe deutlich geworden, dass wissenschaftliche Forschung weder verhindert, noch ignoriert oder rückgängig gemacht werden kann.

Dementsprechend muss versucht werden, neue, durch wissenschaftliche Entwicklungen ausgelöste Probleme, einer gesellschaftlichen Lösung zuzuführen. Ein Verbot der Anwendung von neuem Wissen kann nur durch den Inhalt des neuen Wissens und seine Anwendungsmöglichkeiten gerechtfertigt sein. Selbst wenn es sich um “Früchte eines verbotenen Baumes” handelt, d.h. um neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die mit in Deutschland rechtswidrigen Methoden (z.B. durch Forschung im Ausland) erworben wurden, ist die Art des Erwerbes nicht das entscheidende Kriterium für den gesellschaftlichen Umgang mit neuen Erkenntnissen. Die gewonnenen Erkenntnisse sollten vielmehr unabhängig von der Art ihres Erwerbes betrachtet werden. In Bezug auf die Zulässigkeit der Nutzung solcher wissenschaftlichen Erkenntnisse muss in erster Linie geprüft werden, ob und in welchem Umfang die Anwendung des Wissens in Deutschland rechtlichen Bedenken begegnet.

Bei allen genannten Kritikansätzen darf nicht übersehen werden, dass diese einer gesamtgesellschaftlichen, zum Teil sogar globalen Betrachtung der Vor- und Nachteile der modernen Reproduktionsmedizin entspringen. Es stellt sich die Frage, ob solche ethischen, sozialen oder demographischen Kritikansätze geeignet sein können, um die Inanspruchnahme der medizinisch assistierten Fortpflanzung durch ein ungewollt kinderloses Paar in irgendeiner Form als negativ (z.B. als unmoralisch oder als sittenwidrig) zu qualifizieren. Ein solches Paar ist weder für die globalen noch die nationalen gesellschaftlichen Probleme verantwortlich und entscheidet sich autonom, aufgrund seiner Lebensplanung und individueller, paarbezogener Ziele für die medizinisch assistierte Fortpflanzung. Dabei ist auch der Faktor zu berücksichtigen, dass gerade ein soweit als möglich eigenes Kind von den meisten Menschen vorgezogen wird. Es erscheint fraglich, die Fortpflanzungsentscheidung eines ungewollt kinderlosen Paares allein deswegen strenger zu betrachten, weil hierfür die Inanspruchnahme einer medizinischen Technologie erforderlich ist. Tatsächlich könnten auch bei der Fortpflanzungsentscheidung normal fruchtbarer Paare die täglich weltweit an Hunger sterbenden Kinder und die Überbevölkerung des Planeten als moralischer Grund sich nicht fortzupflanzen angeführt werden, entsprechende öffentliche Kritik an der Fortpflanzung normal fortpflanzungsfähiger Paare ist aber nicht üblich. Grundsätzlich kann daher auch ein nur mit medizinischer Hilfe erfüllbarer Kinderwunsch nicht mit globalen oder gesamtgesellschaftlichen Argumenten in irgendeiner Form als negativ abqualifiziert werden. Was bleibt ist das Argument der Verteilung von Gesellschaftsressourcen. Hier ist in der Tat fraglich, in welchem Umfang die Solidargemeinschaft die Kosten für die medizinisch assistierte Fortpflanzung tragen muss. Allerdings ist bei der Frage der Kostentragung zu bedenken, dass der Staat derzeit ein hohes Interesse an der Steigerung der Geburtenraten hat, um die ungünstige Bevölkerungsentwicklung durch

den starken Geburtenrückgang zu verlangsamen. Unter diesem Aspekt erscheint es ausgesprochen sinnvoll, dass die Solidargemeinschaft, die den Nutzen aus der Geburt neuer Staatsbürger zieht, sich auch an den Kosten für ihre anders nicht mögliche Entstehung beteiligt.

Seitens der betroffenen ungewollt kinderlosen Personen wird nach wie vor eine mangelnde Akzeptanz ihres nur mit medizinischer Hilfe zu erfüllenden Kinderwunsches bemängelt. Nach Ansicht des Vorsitzenden des Verbandes „Wunschkind e.V.“ 1999, Janz, bedarf es noch weiterer Anstrengungen, um die Öffentlichkeit für die Belange der betroffenen kinderlosen Paare zu gewinnen, damit die Reproduktionsmedizin nicht mehr ethisch in Frage gestellt wird, da sie weiten Teilen der Öffentlichkeit immer noch unheimlich ist. Er wirbt weiterhin für die Anerkennung der folgenden Ziele:

• Behandlung der ungewollten Kinderlosigkeit aus gesellschaftlichen Ressourcen;

• Behandlung als selbstverständlicher Bestandteil des Solidarsystems;

• Einstufung der reproduktionsmedizinischen Behandlung als gesellschaftliche und politische Notwendigkeit.226

Die emotionalisierende Tendenz des Themas ist auch bei der Diskussion unter Politikern spürbar. Dies ist z.B. sehr eindrucksvoll an der Niederschrift der Beratungen zum Embryonenschutzgesetz im deutschen Bundestag erkennbar.227

In die Stellungnahmen von Juristinnen und Juristen zum Thema der medizinisch assistierten Fortpflanzung fließt oft eine aus der persönlichen (moralischen) Einstellung des Autors oder der Autorin herrührende Wertung ein. Gelegentlich werden Thesen als allgemeingültig dargestellt, obwohl sie lediglich der persönlichen Anschauung der betreffenden Person entsprechen. Dies ist angesichts der fundamentalen Dimension der Problematik verständlich, erschwert aber erheblich die rationale Auseinandersetzung mit der Materie.228 Auch die Auslegung von Gesetzen ist stets bewusst oder unbewusst von der Einstellung der Auslegenden selbst beeinflusst, möglicherweise sogar bestimmt.

Dementsprechend fließt in die Gesetzes- und Grundrechtsauslegung immer auch eine persönliche Einstellung mit ein.229 Aus diesen Gründen müssen juristische

Stellungnahmen zur medizinisch assistierten Fortpflanzung besonders genau auf ihre

226 JANZ, L. in: KREBS, Dieter/VAN DER VEN, Hans (Hg.): Aktuelle Reproduktionsmedizin - Gegenwart und Zukunft der IVF und ICSI, 1999, S. 93

227 230. Sitzung des Deutschen Bundestages, 11. Wahlperiode, Mittwoch, 24. Oktober 1990, Tagesordnungspunkt 2, S. 18206-18220

228 POSCH, Willibald: Rechtsprobleme der medizinisch assistierten Fortpflanzung und Gentechnologie; 1988, S. 19

229 EICHER, Wolfgang: Die in-vitro-Fertilisation als Leistung der gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen der Sterilitätsbehandlung der Frau; MedR 1986, S. 265-275 (265)

rechtliche Begründung hin untersucht werden. Es fällt hierbei allerdings auf, dass eine solche Begründung oft fehlt oder auf nicht belegten Spekulationen beruht (z.B.

Spekulationen über psychische Folgen für mit Methoden der medizinisch assistierten Fortpflanzung gezeugte Kinder).

Besondere öffentliche Aufmerksamkeit ist in den letzten Jahren den Fragen der Stammzellforschung und der Präimplantationsdiagnostik gewidmet worden, die im Umfeld der medizinisch assistierten Fortpflanzung auftreten können, jedoch nicht zwingend mit ihr verbunden sind. Entsprechende Gesetzgebungsvorhaben wurden diskutiert, letztlich aber wieder verworfen. Zur Frage der Zulässigkeit der Forschung mit importierten embryonalen Stammzellen ist auf politischer Ebene im Zusammenwirken mit Juristen und Wissenschaftlern mit dem Stammzellengesetz230 ein Minimalkonsens gefunden worden.

Es bleibt festzuhalten, dass die gesellschaftliche Diskussion über Pro und Contra der Fortpflanzungsmedizin nach wie vor andauert. Demgegenüber hat sich die juristische Diskussion inzwischen überwiegend auf Teilfragen wie die Präimplantationsdiagnostik und die Stammzellforschung verlagert.

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