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Teil 2: Grundrecht auf Fortpflanzung?

2.1. Rechtsgeschichte: Behandlung der Fortpflanzung zwischen 1871 und 1933

2.1.1. Die Rechtsstellung der Fortpflanzung zwischen 1871 und 1933 in Bezug auf Ehe und Familie (Familienrecht, Polizeirecht, Strafrecht)

2.1.1.1.3. Recht der Ehescheidung

Das Recht der Ehescheidung war im Gebiet des Kaiserreiches bis zum Inkrafttreten des BGB am 01.01.1900 nicht einheitlich geregelt. In allen Rechtsordnungen galt jedoch der Grundsatz, dass die Ehe auf Lebenszeit geschlossen wurde und dementsprechend als unauflöslich angesehen werden musste. Hierzu heißt es bei Freudenstein:

„Die Ehe ist kein kündbarer Vertrag, sondern eine Ordnung, welche über dem Einzelnen steht und ihren Bestand nicht in dem wechselnden Belieben gründet.“268

Demzufolge wurde die Ehescheidung grundsätzlich abgelehnt, aber dennoch von den verschiedenen Rechtsordnungen im Interesse des am Scheitern der Ehe unschuldigen Ehegatten zugelassen.269 Die anerkannten Scheidungsgründe variierten, je nach für die Ehegatten gültiger Rechtsordnung. Insbesondere war umstritten, ob nach Eheschließung unverschuldet eingetretene Umstände, wie z.B. Geisteskrankheit eines Ehegatten oder Impotenz, als Scheidungsgrund anzuerkennen waren.270 Einigkeit bestand demgegenüber auch schon vor Einführung des reichseinheitlichen Scheidungsrechts durch das BGB-1900 bei der Zulässigkeit der aus dem katholischen Kirchenrecht übernommenen Scheidungsgründe Ehebruch (hierzu zählte auch die Lebensnachstellung) und bösliche Verlassung. Je nach der für die Ehegatten gültigen Rechtsordnung konnte ggf. auch einer der folgenden Scheidungsgründe geltend gemacht werden: Verurteilung eines Ehegatten zu schmachvoller Freiheitsstrafe, lebensgefährliche Misshandlung durch den anderen Ehegatten, Verweigerung der ehelichen Pflicht, Hass

265 DIENEL, Christiane: „Das 20. Jahrhundert (I) - Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau“, in: JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 141

266 Z.B. setzte sich zwischen 1922 und 1930 der Muttertag als nationale Institution durch.

267 DIENEL, Christiane: „Das 20. Jahrhundert (I) - Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau“, in: JÜTTE, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1993, S. 141-142

268 FREUDENSTEIN, G.: Der pecuniäre Contract in der Ehe und andere Bestimmungen des deutschen Rechts über Mitgift, Eherecht, Ehescheidung, etc., 1884, S. 23

269 FREUDENSTEIN, G.: Der pecuniäre Contract in der Ehe und andere Bestimmungen des deutschen Rechts über Mitgift, Eherecht, Ehescheidung, etc., 1884, S. 23

270 FREUDENSTEIN, G.: Der pecuniäre Contract in der Ehe und andere Bestimmungen des deutschen Rechts über Mitgift, Eherecht, Ehescheidung, etc., 1884, S. 24

und Feindschaft, Verhinderung der Zeugung und Abtreibung der Leibesfrucht, Unkeuschheit wider die Natur, jede Verletzung der ehelichen Treue, einfache Gefängnisstrafe, Beschuldigung wegen Verbrechens, Unverträglichkeit, Unfruchtbarkeit der Frau, Impotenz des Mannes, Wahnsinn, Unkeuschheit mit anderen vor der Ehe, ansteckende Krankheit, lasterhafte Lebensweise, Völlerei und Verschwendung, schimpfliches Gewerbe, Abfall vom Glauben, gegenseitige Einwilligung in die Scheidung (insbes. bei kinderloser Ehe), Doppelehe, Betrug bei Eingehung der Ehe.271

Mit Inkrafttreten des BGB wurde schließlich ein reichseinheitliches Scheidungsrecht eingeführt, dessen Grundprinzip darauf beruhte, dass in jedem Fall (Ausnahme:

Geisteskrankheit) in einem Scheidungsprozess das Verschulden eines Ehepartners festgestellt werden musste, damit eine Scheidung ausgesprochen werden konnte.

Insbesondere eine ggf. erforderliche Feststellung der Verletzung intimer ehelicher Pflichten führte in der Regel zu einer unangemessenen und für die Eheleute äußerst peinlichen Behandlung ihres Sexuallebens vor Gericht.272

Die Frage, ob eine Ehescheidung wegen Wahnsinns zulässig sein sollte oder nicht, wurde in den abschließenden Debatten des Reichstages nochmals detailliert diskutiert.

Anhand dieser Debatte lässt sich sehr schön das Eheverständnis des BGB in der damals gültigen Fassung herausarbeiten: Die Ehe wurde nach wie vor in enger Anlehnung an kirchliche Wertvorstellungen als grundsätzlich unauflösliche, sittliche Gemeinschaft von Mann und Frau angesehen. Dementsprechend drehte sich die Debatte um den Scheidungsgrund des Wahnsinns um grundlegende ideologische Fragen wie die Bewältigung von „tiefstem familiären Unglück“ und den Umgang mit „göttlicher Prüfung“ in der Ehe.273 Zu den vom BGB 1900 eingeführten materiellen Regelungen des

reichseinheitlichen Scheidungsrechts heißt es bei Blasius:

„Das Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches, das die großen Reformschübe der 70er Jahre (Zivilehe) bestätigte, war im Bereich der Ehescheidung von antireformerischer Ausrichtung.

Es hat die ‚Würde der Ehe‘ weder bewahren noch ihr ‚Ansehen‘ heben können; dafür aber hat es die Scheidung in vielem würdeloser gemacht und für die Betroffenen oft unerträgliche soziale und emotionale Grenzsituationen heraufbeschworen. Im Scheidungsbereich verkörperte die Rechtsordnung des Bürgerlichen Gesetzbuchs das strenge Modell einer ‚säkularisierten Verschuldensscheidung‘. Der Verschuldensbegriff, der ursprünglich zusammen mit verwandten Begriffen wie Schuld, Sühne, Buße und Umkehr in einem religiösen Kontext gestanden hatte, wurde zum Leitbegriff des verweltlichten Ehescheidungsrechts. [...] Das bürgerliche Gesetzbuch eliminierte in den übrigen Ehescheidungsgründen (neben der verschuldensunabhängigen Scheidung wegen Geisteskrankheit) die scheidungsoffenen Regelungen des altpreußischen und des rheinpreußischen Rechts. Ehebruch (§1565), Lebensnachstellung (§ 1566) und bösliche Verlassung (§ 1567) waren auch schon in der älteren Rechtsordnung die „absoluten“

271 FREUDENSTEIN, G.: Der pecuniäre Contract in der Ehe und andere Bestimmungen des deutschen Rechts über Mitgift, Eherecht, Ehescheidung, etc., 1884, S. 25-26

272 BLASIUS, Dirk: Ehescheidung in Deutschland 1794-1945, 1987, S. 152

273 BLASIUS, Dirk: Ehescheidung in Deutschland 1794-1945, 1987, S. 143

Scheidungsgründe gewesen; für sie hatte das Schuldprinzip feste Geltung besessen. Nun aber wurde es auch auf einen neugefassten ‚relativen‘ Scheidungsgrund übertragen, der ‚theoretisch wie praktisch der eigentliche Scheidungstatbestand des BGB‘ war: ‚Ein Ehegatte kann auf Scheidung klagen, wenn der andere Ehegatte durch schwere Verletzung der durch die Ehe begründeten Pflichten oder durch ehrloses oder unsittliches Verhalten eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses verschuldet hat, daß dem Ehegatten die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet werden kann. Als schwere Verletzung der Pflichten gilt auch die grobe Misshandlung.‘

(BGB, 1568).“274

Die stete Steigerung der Scheidungsraten in Deutschland nach Erlass des BGB-1900 zeigte, dass sich der angestrebte Zusammenhalt der Familie mit rechtspolitischen Mitteln wie der Verschärfung des Scheidungsrechts nicht erzwingen ließ.275 In Preußen, das im Reich mit die höchsten Scheidungsraten aufwies, wurden z.B. im Zeitraum vom 1905 bis 1913 pro Jahr durchschnittlich 8.985 Ehen geschieden, im Zeitraum von 1919 bis 1922 durchschnittlich 21.189 Ehen pro Jahr und im Jahr 1929 bereits 25.267.276 Zum Scheitern der staatlichen Eheerhaltungsstrategie mittels strenger Regelungen zur Ehescheidung nimmt Blasius wie folgt Stellung:

Der im Verschuldensgrundsatz des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum Ausdruck kommende Eheerhaltungs-Rigorismus hat kaum Ehen „halten“ können, deren menschliche Substanz verbraucht war, und in denen es kein Zusammenleben mehr, sondern nur noch ein beziehungsloses und sinnentleertes Nebeneinanderherleben gab. Die Scheidungsbewegung, das wird noch zu zeigen sein, konnte mit den Mitteln des Rechts nicht abgestoppt werden; die Scheidungsrechtsprechung dagegen verfiel in immer größerem Umfang einer prozessualen Verlogenheit, die mit der Gesetzespflicht der Gerichte zusammenhing, Schuld rechtlich beweisen zu müssen. Der Schuldspruch in einem Scheidungsprozeß hatte nicht nur eine große gesellschaftliche Wirkung - zukünftige Lebens- und Berufschancen konnten erheblich gemindert oder gar gänzlich verbaut werden; auch die Unterhaltsregelung und weitgehend das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder hingen von der Schuldfeststellung des Gerichts ab. Das Bürgerliche Gesetzbuch hielt auch im Bereich der Scheidungsfolgen mit äußerster Strenge an den „strengen“

Grundsätzen seines Scheidungsrechts fest. Im Rechtssystem des Allgemeinen Landrechts war die soziale und ökonomische Stellung der geschiedenen Frau zwar nicht gerade rechtliche privilegiert, aber durch das Recht doch weitgehend geschützt gewesen. Hier brachte das Bürgerliche Gesetzbuch einschneidende Minderungen, die ihre Auswirkungen auf das Scheidungsverhalten der Frauen gehabt haben dürften.“277

Während der Weimarer Republik wurde immer wieder eine Reform des Scheidungsrechts und speziell die Notwendigkeit der Einführung eines Zerrüttungsprinzips diskutiert. Eine solche Reform scheiterte aber letztendlich am Widerstand der Zentrumspartei, der durch die rigorose Haltung der christlichen Kirche in diesem Punkt verursacht war. Diese Haltung der Kirche wurde insbesondere in der Denkschrift der deutschen Bischöfe vom 08.01.1922 („Vorstellung gegen die Absicht, durch Umgestaltung des § 1568 BGB eine Erleichterung der Ehescheidungen

274 BLASIUS, Dirk: Ehescheidung in Deutschland 1794-1945, 1987, S. 149-150

275 BLASIUS, Dirk: Ehescheidung in Deutschland 1794-1945, 1987, S. 155

276 BLASIUS, Dirk: Ehescheidung in Deutschland 1794-1945, 1987, S. 158, 160

277 BLASIUS, Dirk: Ehescheidung in Deutschland 1794-1945, 1987, S. 150

herbeizuführen“) an den Reichstag, den Reichsjustizminister und den Vorsitzenden der Zentrumsfraktion im Reichstag anschaulich niedergelegt. Die Denkschrift lehnte die Ehescheidung sowohl aus religiösen, als auch aus rein gesellschaftlichen Motiven mit Nachdruck ab.278 Mangels einer Reform des Scheidungsrechts bestand die Diskrepanz zwischen Rechts- und Lebensverhältnissen weiterhin: Das Recht folgte nicht der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern wurde als Mittel eingesetzt, um den staatlich missbilligten gesellschaftlichen Entwicklungen im familiären Bereich (steigende Scheidungszahlen) entgegenzuwirken. Hierdurch bedingt verlor es den Anschluss an die sich ändernden gesellschaftlichen Wertvorstellungen, die u.a. durch eine Infragestellung des Dogmas der unauflöslichen Ehe geprägt waren.279

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