• Keine Ergebnisse gefunden

Beeinträchtigungen der Fortpflanzungsfähigkeit durch direkten staatlichen Eingriff

Fallgruppe 3: Der Wunschvater pflanzt sich bei der Inanspruchnahme einer Leih- oder Tragemutter (Fallgruppe 1 oder 2) nur genetisch und nicht physiologisch fort, wenn die

2.3.3.1. Schutz der Fortpflanzung durch die allgemeine Handlungsfreiheit?

2.3.4.1.1. Beeinträchtigungen der Fortpflanzungsfähigkeit durch direkten staatlichen Eingriff

Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist als Ausdruck von Selbstbestimmung und Würde der Persönlichkeit von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützt.618 In seinem klassischen Gehalt schützt Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vor gezielten staatlichen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit.619 Es wird nicht nur die körperliche Unversehrtheit, sondern auch die

menschliche Gesundheit geschützt.620 Dabei sind staatliche Eingriffe in die körperliche

616 Beschluss des BVerfG vom 14.01.1981, 1 BvR 612/72, BVerfGE 56, 54-86 (73); JARASS in:

JARASS, Hans D./PIEROTH, Bodo: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 2004; Art. 2 RN 62

617 vgl. hierzu die ausführliche Darstellung im Abschnitt 2.3.4.1.6.

618 CORRELL, Cathrin in: DENNINGER, Erhard/ ... (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz für die

Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), Stand: August 2002, Art. 2 Abs. 2, RN 29

619 Beschluss des BVerfG vom 14.01.1981, 1 BvR 612/72, BVerfGE 56, 54-86 (73-74); Beschluss des BVerfG vom 30.11.1988, 1 BvR 1301/84, BVerfGE 79, 174-202 (201); LEIBHOLZ, Gerhard/RINCK, Hans-Justus/HESSELBERGER, Dieter: Grundgesetz, 2003, Art. 2, RN 513

620 SEEWALD, Ottfried: Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, 1981, S. 54-56

Unversehrtheit unter einfacheren Voraussetzungen möglich als Eingriffe in die strenger geschützte Gesundheit.621 Der besondere verfassungsrechtliche Schutz vor Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit und die menschliche Gesundheit beruht auf der historischen Erfahrung mit dem Missbrauch staatlicher Gewalt. Seine Aufnahme in das Grundgesetz erfolgte als Reaktion auf die unmenschlichen Verbrechen totalitärer Staatsordnungen, insbesondere in Deutschland zwischen 1933 und 1945 wie z.B. Zwangssterilisationen und -kastrationen oder Zwangsversuche an lebenden Menschen. Die Vorschrift hat keine ausdrücklichen verfassungsgeschichtlichen Vorläufer, auch die Weimarer Reichsverfassung enthielt keine entsprechende Gewährleistung.622

Für die Prüfung eines Schutzes der körperlichen Voraussetzungen der Fortpflanzung durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gegen direkte staatliche Eingriffe sind sowohl Rechtsprechung und Literatur verfügbar, da auch nach 1945 die Frage der Rechtmäßigkeit von Zwangssterilisationen oder -kastrationen noch von juristischer Relevanz war. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass es in Deutschland auch nach 1945 noch zu Sterilisationen geistig behinderter Menschen kam, auch wenn die Rechtslage insoweit alles andere als eindeutig war. Solche Sterilisationen erfolgten jedoch nicht mehr aufgrund einer staatlichen Sterilisationspolitik. Erst mit Inkrafttreten des Betreuungsgesetzes vom 12.09.1990623 sind die Voraussetzungen einer Sterilisation geistig behinderter Menschen (extrem restriktiv) gesetzlich festgelegt worden (vgl. §§ 1631c, 1905 BGB), es handelt sich bei dieser Regelung allerdings nicht um eine Form der Zwangssterilisation.624 Für Kastrationen galten bereits viel früher gesetzliche Regelungen aufgrund des Kastrationsgesetzes vom 15.08.1969.625

Eine Entscheidung des AG Kiel vom 07.02.1986626 schloss das einzige gerichtliche Verfahren nach Inkrafttreten des GG ab, bei dem es in der Hauptsache um Rechtsvorschriften ging, die einen unmittelbaren staatlichen Eingriff in die Fortpflanzungsfähigkeit betrafen. Der Antragsteller begehrte die Aufhebung eines Beschlusses des Erbgesundheitsgerichts Kiel vom 17.05.1936, durch den seine Unfruchtbarmachung aufgrund des damals gültigen „Erbgesundheitsgesetzes“627 der

621 SEEWALD, Ottfried: Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, 1981, S. 127

622 CORRELL, Cathrin in: DENNINGER, Erhard/ ... (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), Stand: August 2002, Art. 2 Abs. 2, RN 3

623 Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige vom 12.09.1990, BGBl. I S. 2002

624 HOFFMANN, Birgit: Sterilisation geistig behinderter Erwachsener - Betreuungsrechtliche Behandlung und strafrechtliche Sanktionierung, 1996, S. 19, 90

625 „Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden“, BGBl. I S. 1143, zuletzt geändert durch Art. 4 Abs. 6 des 6. Gesetz zur Reform des Strafrechts, BGBl. I S. 164 (187)

626 AG Kiel, Beschluss vom 07.02.1986, Az.: 4 XIII 1/85, FamRZ 1986, 990 ff.

627 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.07.1933 (RGBl. I 529), geändert durch Gesetz vom 26.06.1935 (RGBl. I 773) und Gesetz vom 04.02.1936 (RGBl. I 119).

nationalsozialistischen Reichsregierung angeordnet worden war. Ebenfalls sollte ein Beschluss des AG Kiel vom 10.07.1957 aufgehoben werden, mit dem sein erster Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens abgelehnt worden war. Da das Erbgesundheitsgesetz aufgrund Art. 123 GG nicht fortgalt, wurde ein Wiederaufnahmeinteresse des Antragstellers in Bezug auf den Beschluss des AG Kiel vom 10.07.1957 bejaht. Im Anschluss an die Entscheidung über die Wiederaufnahme des Verfahrens wurde der Beschluss des Erbgesundheitsgerichts vom 17.05.1936 aufgehoben. Das Gericht äußerte sich anlässlich dieser Entscheidung ausdrücklich zum Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, speziell zu Eingriffen in die Fortpflanzungsfähigkeit:

„Dieses überpositive Menschenrecht ist als Recht jedes Menschen auf körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kodifiziert. [...] Der Wesenskern des Grundrechts kann aber niemals rechtmäßig in einer solchen Güterabwägung zur Disposition gestellt werden (Art. 19 Abs. 2 GG). Zum Wesenskern des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit, der durch staatlichen Zwang, auch in Form eines Richterspruches, nicht angetastet werden darf, gehört die Fähigkeit, Leben durch Zeugung und Empfängnis weiterzugeben (vgl. Dürig in Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rz. 31, 32). Daher darf keine Staatsmacht, aus welchen Gründen auch immer, durch irgendeinen Eingriff diese Fähigkeit des Menschen zwangsweise beeinträchtigen.“628

Die Formulierung der Entscheidungsgründe zeigt deutlich, dass die Fortpflanzungsfähigkeit vom AG Kiel als Teil des unantastbaren Kernbereichs des Rechts auf körperliche Unversehrtheit angesehen wurde.

Es ist auch einhellige Meinung in der Literatur zum Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, dass eine Zwangssterilisation oder -kastration verfassungswidrig ist.629 Die Fähigkeit, Leben weiterzugeben, wird gegen direkte staatliche Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützt.630 In Bezug auf die Unzulässigkeit von Zwangssterilisation bei gleichzeitiger faktischer Einschränkung der Möglichkeit, Leben weiterzugeben (durch Inhaftierung) äußert sich Dürig wie folgt:

„Im geltenden Recht sind „Entmannungen“ weder als Strafe noch als Maßregel der Sicherung und Besserung vorgesehen. [Text der dazugehörigen Fußnote: Soweit ersichtlich, behauptet auch mit Recht niemand ihre Zulässigkeit als „unselbständige Maßnahme“, die von einer Unterbringung z.B. in einer Heil- und Pflegeanstalt ipso jure „miterfaßt“ wird. Daß eine an sich zulässige Freiheitsentziehung jedoch infolge der Isolierung die tatsächliche Gelegenheit

628 AG Kiel, Beschluss vom 07.02.1986, Az.: 4 XIII 1/85, FamRZ 1986, 990 ff.

629 HOFFMANN, Birgit: Sterilisation geistig behinderter Erwachsener - Betreuungsrechtliche

Behandlung und strafrechtliche Sanktionierung, 1996, S. 85 m.w.N.; KANNENGIEßER, in: SCHMIDT-BLEIBTREU, Bruno/KLEIN, Franz: Kommentar zum Grundgesetz, 1999; Art. 2 RN 22

630 CORRELL, Cathrin in: DENNINGER, Erhard/ ... (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), Stand: August 2002, Art. 2 Abs. 2, RN 95; DÜRIG in: MAUNZ, Theodor/DÜRIG, Günter (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz; Stand: 33.

Ergänzungslieferung, Nov. 1997; Art. 2 Abs. 2 RN 31, 32 m.w.N.; DI FABIO in: MAUNZ, Theodor/DÜRIG, Günter (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz; Art. 2 Abs. 2 RN 55, Stand: 43.

Ergänzungslieferung, Februar 2004

(Möglichkeit im Gegensatz zur „Fähigkeit“) Leben weiterzugeben, rechtlich zulässig beseitigt, ist selbstverständlich.] Eine Wiedereinführung verstieße gegen Art. 2 II Satz 1 in Verb. mit Art. 19 II (wo vornehmlich der Menschenwürdegehalt jedes Grundrechts unverletzlich abgesichert wird). Die zwangsweise Kastration (Sterilisation) verstößt gegen die Menschenwürde (und damit gegen den Wesensgehalt des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit), weil sie den Menschen zum Objekt des staatlichen Geschehens degradiert und Praktiken ausliefert, die der Tierzucht angehören.“631

Dementsprechend wird nach einhelliger Meinung in Rechtsprechung und Literatur die Fähigkeit, Leben weiterzugeben (= die körperlichen Voraussetzungen der Fortpflanzung), durch das Abwehrrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gegen direkte staatliche Eingriffe geschützt. Die Fortpflanzungsfähigkeit ist insoweit dem unantastbaren Kernbereich dieses Grundrechtes zuzuordnen.

2.3.4.1.2. Recht auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Methoden der

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE