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1.2. Zahlen und Fakten zur ungewollten Kinderlosigkeit

1.2.2. Genetische Motivation

Genetische Motivation von Wunscheltern liegt vor, wenn bei der Entscheidung für oder gegen Kinder der Aspekt eine Rolle spielt, dass ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko für diese Wunschkinder besteht. Das Fehlbildungsrisiko normal gezeugter Kinder liegt bei ca. 3 % (Missbildungen der Gliedmaßen oder Organe, wie z.B. Hasenscharte, Herzfehler). Die Ursachen hierfür sind vielfältig, neben spontanen Fehlbildungen können auch Ereignisse während der Schwangerschaft (z.B. Erkrankungen der Schwangeren), sowie der Lebensstil der Schwangeren (z.B. Alkohol- und Drogenkonsum) für das Entstehen von Fehlbildungen verantwortlich sein.72 Die fortschreitende Erforschung des menschlichen Genoms und der Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft über erbbedingte Erkrankungen haben dazu geführt, dass viele Menschen in unserer Gesellschaft von einer möglichen Belastung ihres Erbgutes mit mehr oder weniger schweren Erkrankungen wissen. Zudem ist inzwischen bekannt, dass bei bestimmten Schwangerschaften (z.B.

ab einem bestimmten Alter der biologischen Mutter) ein erhöhtes Risiko von genetischen Defekten beim Kind besteht. Aus diesen Gründen können fortpflanzungswillige Personen die Entscheidung für oder gegen leibliche Kinder von einer genetischen Beratung durch einen spezialisierten Mediziner, einer Präimplantationsdiagnostik (PID) oder einer pränatalen Diagnostik (PND) abhängig machen. Die PID ist nur im Rahmen einer medizinisch assistierten Fortpflanzung mit extrakorporaler Zeugung eines Embryos möglich,73 dagegen können genetische Beratung und PND sowohl bei normaler als auch bei medizinisch assistierter Fortpflanzung eingesetzt werden.

Bei der genetischen Beratung wird in der Regel vor der Zeugung eines Kindes im Rahmen der Familienplanung die Beratung eines spezialisierten Mediziners in Anspruch genommen, um Fehlbildungsrisiken bei geplanten Kindern in Erfahrung zu bringen. Auf dieser Basis entscheidet die fortpflanzungswillige Person oder ein Paar darüber, ob sie eigene Kinder bekommen möchte oder nicht. In extremen Fällen kann es dazu kommen, dass sich eine Person aufgrund des Ergebnisses der Beratung zu einer Sterilisation entscheidet, um sicher zu gehen, dass sie keine eigenen Kinder bekommen kann.

Sterilisation und genetische Beratung vor der Zeugung eines Kindes werden von der Rechtsordnung gebilligt und gelten als rechtmäßig.74

Allerdings sind die Möglichkeiten einer genetischen Beratung begrenzt, es kann meistens nur über die Wahrscheinlichkeit einer Vererbung von Erkrankungen beraten werden.

Insbesondere bei multigener Vererbung von Eigenschaften und Erkrankungen kann das Risiko von deren Auftreten bei einem geplanten Kind nur schwer abgeschätzt werden. In

72 RAUH, Hellgard in: OERTER, Rolf/MONTADA, Leo (Hg.): Entwicklungspsychologie, 1998, S. 176

73 vgl. zur PID den „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik und Statements vom 03.03.2000 (DÄBl. 97, Heft 9 [03.03.2000], S. A-525-528)

74 LEIBHOLZ, Gerhard/RINCK, Hans-Justus/HESSELBERGER, Dieter: Grundgesetz, 2003, Art. 1 RN 82

vielen Fällen ist zudem eine Erkrankung durch die genetische Anlage nicht deterministisch programmiert, sondern es besteht lediglich ein erhöhtes Risiko einer Erkrankung.

Entscheidend dafür, ob es zu einer Erkrankung kommt, sind im Regelfall neben der genetischen Veranlagung auch die Lebensführung und Einflüsse der Lebensumwelt. Aus diesen Gründen kann das anlagemäßige, familiäre Risiko in erster Linie aus der Erkrankungshäufigkeit in der Verwandtschaft abgeschätzt werden. Derzeit sind über 3.000 verschiedene Krankheiten und Abweichungen mit nachgewiesenermaßen anlagemäßig erhöhtem Erkrankungsrisiko bekannt (z.B. Diabetes mellitus, verschiedene Organtumore, Schizophrenie, Alkoholismus).75

Die inzwischen durch viele Frauenärzte bei normalen Schwangerschaften routinemäßig durchgeführte PND76 dient dazu, Erkrankungen des Embryos bereits im Mutterleib festzustellen (z.B. Fehlbildungen oder Trisomie 21, besser bekannt unter den Bezeichnungen „Down-Syndrom“ oder „Mongolismus“77). Das Problem der pränatalen Diagnostik liegt darin, dass es zwar möglich ist, Erkrankungen des Kindes festzustellen, es gibt aber bislang nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten der pränatalen Therapie78 , die es ermöglichen, festgestellte Erkrankungen des Embryos zu behandeln79 (derzeit ca. 10 % der bei PND festgestellten erblich bedingten Erkrankungen80). Die Schwangere wird bei Feststellung einer Erkrankung des Kindes, für die es keine Therapiemöglichkeit gibt (derzeit der überwiegende Teil der bei PND festgestellten Erkrankungen) mit dem Gewissenskonflikt belastet, ob sie dieses kranke Kind zur Welt bringen oder die

75 MONTADA, Leo in: OERTER, Rolf/MONTADA, Leo (Hg.): Entwicklungspsychologie, 1998, S. 35

76 z.B. soll aufgrund Nr. 5 der Mutterschafts-Richtlinien des früheren Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (heute: „Gemeinsamer Bundesausschuss“ nach § 91 SGB V) im Verlauf einer normalen Schwangerschaft zum Zwecke der PND pro Schwangerschaftsdrittel eine

Ultraschalluntersuchung durchgeführt werden. Dabei kommt es immer wieder vor, dass in Bezug auf diese diagnostische Maßnahme Defizite bei der Aufklärung der Schwangeren durch die behandelnde Ärztin/den behandelnden Arzt vorliegen (FRANCKE, Robert/REGENBOGEN, Daniela: Die ärztliche Betreuung der schwangeren Frau nach den Vorgaben der Mutterschaftsrichtlinien des

Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen; MedR 2002, S. 174-179)

77 Bericht in der Ärztezeitung vom 15.12.1999, „Zu 80 Prozent lässt sich vorhersagen, ob das Kind eine Trisomie 21 hat“ (nach diesem Bericht ist bereits durch eine Kombination von Bluttest bei der Schwangeren und einer Ultraschalluntersuchung zu 80 % voraussagbar, ob eine Trisomie 21 vorliegt, ggf. ist danach zur Absicherung der Diagnose eine Fruchtwasserpunktion [Aminozentese]

durchzuführen)

78 vgl. z.B. zu den derzeit noch im Entwicklungsstadium befindlichen Möglichkeiten der Fetalchirurgie (Operation ungeborener Kinder im Mutterleib) einen Bericht aus: Die Welt „Gewagte Operation im Mutterleib - Pränatalmediziner versuchen, lebensbedrohliche Fehlbildungen eines Kindes noch vor der Geburt zu korrigieren“ vom 13.10.2004

79 vgl. zu den Rechtsfragen bei möglicher pränataler Therapie: KAPP, Wolfgang: Der Fötus als Patient?

MedR 1986, 275-280, der das Grundproblem dieser Therapie gut herausarbeitet: dass Mutter und Kind nämlich nicht wie zwei getrennte Rechtssubjekte behandelt werden können. Dementsprechend stellt sich immer die Frage der Zumutbarkeit einer Behandlung des ungeborenen Kindes für die Mutter, in deren Gebärmutter es sich zum Therapiezeitpunkt ja noch befindet.

80 SCHWEIZERISCHE NATIONALKOMMISSION JUSTITIA ET PAX: Machbares Leben? - Ethik in der Medizin; 1998, S. 45

Schwangerschaft unterbrechen will.81 Eine Unterbrechung der Schwangerschaft wegen zu erwartender schwerer Schäden des Kindes kann ohne zeitliche Begrenzung, d.h.

grundsätzlich bis zur Geburt, nach § 218a Abs. 2 StGB zulässig sein, wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft von der Frau wegen genetischer oder pränataler Schädigung des Kindes nicht verlangt werden kann.82 Die früher ausdrücklich geregelte, sog. „embryopathische“ oder „eugenische“ Indikation (§ 218a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F.) wird im geltenden Rechts als Unterfall der in § 218a Abs. 2 StGB geregelten

„medizinischen Indikation“ betrachtet.83 Das Kriterium der Unzumutbarkeit der Austragung eines Kindes liegt vor, wenn

„der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden.“

Dabei darf die Gefahr nicht auf anderem Wege abwendbar sein. Mangels Behandlungsmöglichkeiten für die überwiegende Zahl der pränatal zu diagnostizierenden Schäden wird nur selten der Gefahr einer Beeinträchtigung der Schwangeren (durch die zu erwartende Geburt eines kranken Kindes) auf anderem Wege als mit einer Abtreibung begegnet werden können. Für die Zulässigkeit der Abtreibung ist daher bei festgestellten Schäden des Kindes vor allem entscheidend, ob bei der Frau die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes besteht. Für die Bejahung des Vorliegens dieser Voraussetzungen können auch soziale, familiäre, wirtschaftliche/finanzielle, zeitliche oder kräftemäßige Überforderungen bei Versorgung eines unheilbar geschädigten Kindes, soweit sich dies für die Schwangere gesundheitlich niederschlägt, ausreichen.84 Hierbei kommt es stets auf eine Beurteilung aller Umstände im individuellen Einzelfall an,

81 vgl. zur Problematik der PND: BAUMANN-HÖLZLE, Ruth/BONDOLFI, Alberto/RUH, Hans (Hg.):

Genetische Testmöglichkeiten - Ethische und rechtliche Fragen, 1990; BACHMANN, Claude:

Pränatale Diagnostik, S. 9-19; THEILIG, Susanne: Die Strafbarkeit pränataler Einwirkungen auf die menschliche Leibesfrucht unter besonderer Berücksichtigung der Möglichkeiten der medizinischen Diagnostik, Diss. Bonn 1995

82 ESER, Albin in: SCHÖNKE, Adolf/SCHRÖDER, Horst (Hg.): Strafgesetzbuch - Kommentar, 2001, § 218a, RN 37, 42

83 ESER, Albin in: SCHÖNKE, Adolf/SCHRÖDER, Horst (Hg.): Strafgesetzbuch - Kommentar, 2001, § 218a, RN 37; TRÖNDLE, Herbert/FISCHER, Thomas: Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 2003, § 218a RN 20; Zur früheren Rechtslage ausführlich: PLUISCH, Frank: Der Schwangerschaftsabbruch aus kindlicher Indikation im Spannungsfeld der pränatalen Diagnostik, 1992; dessen Feststellungen auch nach der Änderung des § 218 a StGB (Streichung der sog. „embryopathischen Indikation“) weiterhin anwendbar sind, soweit der Schwangerschaftsabbruch aus Gründen der Erhaltung von Leben und körperlicher und seelischer Gesundheit der Schwangeren erfolgt.

84 ESER, Albin in: SCHÖNKE, Adolf/SCHRÖDER, Horst (Hg.): Strafgesetzbuch - Kommentar, 2001, § 218a, RN 39; TRÖNDLE, Herbert/FISCHER, Thomas: Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 2003, § 218a StGB, RN 26

allgemeine Zumutbarkeitskriterien können nicht abstrakt festgelegt werden.85 In der Praxis wird bei schwerer genetischer oder pränataler Schädigung des Kindes eine solche Gefahr der Beeinträchtigung der Schwangeren im Regelfall bejaht.

Die PID kann im Gegensatz zur PND nur bei medizinisch assistierter Fortpflanzung mit extrakorporaler Zeugung des Embryos angewendet werden. Die PID ist nach geltendem Recht in Deutschland verboten (§§ 1, 2 Abs. 1, 6 ESchG)86, über ihre Legalisierung wird aber derzeit wieder diskutiert. Beim Verfahren der PID wird der Embryo nach seiner Zeugung, aber vor der Implantation in die Gebärmutter der physiologischen Mutter auf Erkrankungen untersucht. Die PID dient dem Zweck, den Embryo ggf. zu verwerfen und statt dessen einen Embryo ohne eine feststellbare Erkrankung zu implantieren. Die Möglichkeit der Durchführung einer PID kann für ein Paar Anlass sein, sich einer IVF zu bedienen, obwohl beide Partner sich auch auf natürlichem Wege fortpflanzen könnten. Der Vorteil der PID liegt in der Möglichkeit der Vermeidung einer sog. „Schwangerschaft auf Probe“, bei der erst nach Eintritt einer Schwangerschaft und in einem deutlich weiteren Entwicklungsstadium des Embryos eine Erkrankung durch PND festgestellt werden könnte. Nach der PND würden die Eltern, bzw. die schwangere Frau ggf. über einen legalen Schwangerschaftsabbruch entscheiden.87

Bei Personen, bzw. Paaren, die sich aus genetischen Gründen für die Inanspruchnahme einer PID interessieren, handelt es sich in der Regel um Menschen mit bekannten Anlagen für schwerwiegende erblich bedingte Erkrankungen. Diese verfügen meist über Kenntnisse zu dieser Erkrankung aufgrund familiärer Beispiele und sind sich daher oft bereits vor Zeugung eines Kindes darüber einig, dass sie ein Kind mit eben dieser Erkrankung auf keinen Fall bekommen möchten. Dieser Personenkreis ist mit dem Problem konfrontiert, dass die natürliche Zeugung eines Kindes unter dem Vorbehalt erfolgen würde, dieses Kind ggf. abzutreiben.

Zu allen drei Methoden (genetische Beratung, PND, PID) ist festzuhalten, dass eine genetische Beratung oder eine Untersuchung der genetischen Anlagen eines Kindes vor oder nach der Implantation im Mutterleib in erster Linie dem Interesse der Wunscheltern an einem Kind mit bestimmten Eigenschaften (i.d.R. dem Interesse an einem möglichst gesunden Kind) dient. Diese Handlungsmöglichkeiten dienen nur dann dem Interesse des Kindes, wenn sie durchgeführt werden, um eine vorgeburtliche Therapie zu ermöglichen und die Schwangerschaft zu erhalten. Dies ist allerdings aufgrund der derzeit recht beschränkten Möglichkeiten pränataler Therapie nur selten der Fall. Überwiegend wird diese Beratung oder Untersuchung nicht durchgeführt, um eine medizinische

85 TRÖNDLE, Herbert/FISCHER, Thomas: Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 2003, § 218a, RN 24-28

86 LAUFS, Adolf: Arzt, Patient und Recht am Ende des Jahrhunderts, NJW 1999, S. 1762

87 KOLLEK, Regine: Präimplantationsdiagnostik - Embryoselektion, weibliche Autonomie und Recht, 2000, S. 13-16

Behandlung des Kindes festzulegen. Statt dessen sollen die Ergebnisse der Inanspruchnahme dieser Methoden von den Eltern als Basis für eine Entscheidung über die Verhinderung oder den Abbruch einer Schwangerschaft verwendet werden. Eine solche Entscheidung über die Verhinderung oder den Abbruch der Schwangerschaft erfolgt allerdings nicht im Interesse eines lebensfähigen, möglicherweise kranken oder behinderten Kindes. Es erscheint logisch, davon auszugehen, dass es eher im Interesse eines Menschen sein wird, unter besonderen Bedingungen (z.B. mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung) zu existieren als überhaupt nicht zu existieren oder durch einen Schwangerschaftsabbruch getötet zu werden. Es fällt auch schwer, sich eine private, öffentliche oder staatliche Instanz vorzustellen, die eine Entscheidung darüber treffen kann, unter welchen Umständen das Leben einer Person lebenswert sein soll und unter welchen Umständen nicht.88 Verhinderung oder Abbruch einer Schwangerschaft erfolgen vielmehr im Interesse der Eltern, nach Eintritt einer Schwangerschaft insbesondere im Interesse der schwangeren Frau.

Es gibt auch keine moralische elterliche Pflicht, durch negative Eugenik (z.B. selektiver Schwangerschaftsabbruch) nur gesunde, intelligente und „nützliche“ Kinder in die Welt zu setzen. Hierdurch würden Eltern nur versuchen, Kinder gezielt „nach ihren Vorstellungen“

zu schaffen. Dies ist aber, wegen des Grundsatzes der personalen Einzigartigkeit eines entstehenden Menschen, keine moralische Verpflichtung der Eltern.89 Dementsprechend kann allein die Entstehung oder Erhaltung einer Schwangerschaft im Interesse eines Kindes sein.

Entscheiden sich die Wunscheltern nach PND oder PID bewusst gegen ein bereits entstandenes Kind (mit der Folge des Schwangerschaftsabbruchs bei PND und des Absterbenlassens eines Embryos mangels Implantation bei der PID) und wegen eines hohen Risikos erblich bedingter Erkrankungen gegen die Zeugung weiterer Kinder, so handelt es sich um einen Fall der ungewollten Kinderlosigkeit aufgrund genetischer Motivation. Dasselbe gilt für Wunscheltern, die sich bereits nach einer präventiven genetischen Beratung gegen die Zeugung von Kindern entscheiden. Diese genetische Motivation der Betroffenen kann nicht als generell moralisch untragbar angesehen werden.

Oft leiden die Wunscheltern selber an den betreffenden Erkrankungen oder haben mit ansehen müssen, wie eigene Kinder oder nahe Verwandte an diesen Erkrankungen gelitten haben oder verstorben sind. Die Betroffenen stehen vor dem Problem, entweder ganz auf eigene Nachkommen zu verzichten oder bewusst das Risiko einzugehen, ein möglicherweise behindertes oder früh versterbendes Kind zur Welt zu bringen.

88 Dieselbe Frage stellt sich auch in anderen Grenzbereichen der menschlichen Existenz, z.B. bei den Problemkreisen der passiven Sterbehilfe und der Behandlung schwerstgeschädigter Neugeborener

89 SCHWEIZERISCHE NATIONALKOMMISSION JUSTITIA ET PAX: Machbares Leben? - Ethik in der Medizin; 1998, S. 58

Der BGH hat sich in einem Urteil aus dem Jahr 1993 in Bezug auf die Motivation eines Paares, die Entscheidung für ein weiteres Kind von einer genetischen Beratung abhängig zu machen, wie folgt geäußert:

"Der Wunsch der Kläger, ein zweites, jedoch nicht behindertes Kind zur Welt zu bringen und zur Vermeidung einer aufgrund der Behinderung des erstgeborenen Kindes befürchteten genetischen Schädigung die Zeugung vom Ergebnis einer entsprechenden Beratung abhängig zu machen, könnte nicht einmal moralischen Bedenken begegnen, sondern ist in hohem Maße von elterlicher Verantwortung geprägt.“90

Für den genetisch nicht vorbelasteten Partner stellt sich in dieser Situation das Problem, dass er entweder bewusst das Risiko eingeht, Kinder mit einer durch den anderen Partner vererbten Behinderung zu bekommen, den Partner verlässt oder ganz auf eigene Nachkommen verzichtet. Alle Handlungsalternativen enthalten gerade für den genetisch nicht vorbelasteten Partner ein erhebliches psychisches Konfliktpotential. Eine Alternative für ungewollt kinderlose Paare aufgrund genetischer Motivation wäre es, sich der Methoden der medizinisch assistierten Fortpflanzung zu bedienen und hierbei auf eine gespendete Ei- oder Samenzelle zurückzugreifen (heterologe Fortpflanzung), was allerdings derzeit in Deutschland nicht möglich ist (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 u. 2, § 1 Abs. 2 ESchG, Nr. 3.2.3. der Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der assistierten Reproduktion91).

Genetische Beratung und PND bieten als Standardmethode der normalen Fortpflanzung erhebliches gesellschaftliches und ethisches Konfliktpotential. Dasselbe Konfliktpotential bietet auch die nur bei medizinisch assistierter Fortpflanzung mit extrakorporaler Zeugung des Embryos durchführbare PID, diese kommt allerdings wesentlich seltener zur Anwendung. Letztlich wird in allen drei Fällen die individuelle Beratung oder Diagnose in der überwiegenden Zahl der Fälle durchgeführt, um eine Schwangerschaft oder die Geburt eines Kindes mit bestimmten, als unerwünscht geltenden, genetischen Anlagen verhindern zu können.92 Durch die massenhafte Anwendung von genetischer Beratung und PND bei normalen Schwangerschaften ist inzwischen eine Art „Eugenik durch die Hintertür“ entstanden. Es darf nicht übersehen werden, dass allein die Möglichkeit, bestimmte Behinderungen bei den bereits gezeugten oder zukünftigen Kindern zu verhindern, indem man die Kinder selbst verhindert, einen ungeheuren Druck auf die potentiellen Eltern erzeugt. Sie müssen sich den Vorwurf von Gesellschaft und

90 BGH, Urteil v. 16.11.1993, BGHZ 124, 128 ff. (137)

91 Deutsches Ärzteblatt 1998; 95: A-3166-3171 (Heft 49), Titel vor der letzten Novelle: „Richtlinien zur Durchführung des intratubaren Gametentransfers, der In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer und anderer verwandter Methoden“

92 KERN, Bernd-Rüdiger: Rechtliche Aspekte der Humangenetik, MedR 2001, S. 9 ff. (10)

Verwandten gefallen lassen, das „Unheil“ nicht abgewendet zu haben93. Die Betroffenen können hierdurch in schwere psychische Konflikte geraten94.

Von einigen Behindertenorganisationen wird eine durch die Gentechnik und die pränatale Diagnostik in der Fortpflanzungsmedizin mögliche Selektion menschlichen Lebens stark kritisiert.95 Diese Organisationen stellen fest, dass die genetische Beratung und die

Untersuchung von Embryonen im Mutterleib auf schwere Erkrankungen zu einer Selektion von Menschen nach „lebenswert“ und „lebensunwert“ führe und dass damit auch ihre Existenz als „lebensunwert“ eingestuft werde. Es wird zum Teil sogar der Vorwurf der staatlich gewollten oder zumindest geduldeten Eugenik erhoben. Diese kritisierten Entwicklungen und die damit verbundenen Gefahren werden gelegentlich geleugnet oder verharmlost, sind aber real und verdienen Beachtung. Bei fortschreitender Technikakzeptanz ist es durchaus möglich, dass die Gesellschaft irgendwann die Fürsorge für vermeintlich „verhinderbare“ Behinderungen verweigert. Es muss daher stets beobachtet werden, wie sich die modernen Fortpflanzungstechnologien auf die Akzeptanz und Versorgung von behinderten Menschen und auf die Akzeptanz der Fortpflanzungsentscheidung von Wunscheltern auswirken. Es wäre m.E. eine gesellschaftliche Fehlentwicklung, wenn z.B. Krankenversicherungen versuchen könnten, Druck auf Wunscheltern auszuüben, sich einer genetischen Beratung zu unterziehen oder das Kind im Mutterleib untersuchen zu lassen und ggf. die Schwangerschaft abzubrechen, um später hohe Kosten bei der Versorgung dieses Kindes zu vermeiden.

Wenn es -was der Untersuchung im Teil 2 dieser Arbeit vorbehalten bleibt- ein Grundrecht auf Fortpflanzung gibt, könnte dies möglicherweise auch folgende Auswirkung haben: Dass der Gesetzgeber, wenn er genetische Beratung und PND (und vielleicht eines Tages auch PID) zulässt, bei normaler Fortpflanzung oder bei der Inanspruchnahme medizinisch assistierter Fortpflanzung Maßnahmen treffen muss, um zu gewährleisten, dass die Entscheidungsfreiheit der Wunscheltern nicht durch wirtschaftlichen, sozialen oder sonstigen Druck beeinträchtigt wird. Dieser speziellen Frage nach einer möglichen Schutzpflicht des Gesetzgebers wird jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter nachgegangen.

93 BAUMANN-HÖLZLE, Ruth/BONDOLFI, Alberto/RUH, Hans (Hg.): Genetische Testmöglichkeiten - Ethische und rechtliche Fragen; 1990; SCHMID, Werner: Genetische Testmöglichkeiten - Eine ethische und rechtliche Standortbestimmung. Der Standpunkt der medizinischen Genetik, S. 24-25

94 KAHLKE, Winfried und REITER-THEIL, Stella (Hg.): Ethik in der Medizin; 1995: KAHLKE, W.:

Eugenik, S. 58-61

95 Nach einem Bericht der Ärztezeitung vom 22.03.2001 („Absage an Gentests, PID und

Pränataldiagnostik“) hat sich der Deutsche Behindertenrat (DBR), ein Aktionsbündnis von bundesweit agierenden Verbänden behinderter und chronisch kranker Menschen, der die Interessen von ca. 2,5 Millionen Menschen vertritt, sowohl gegen die PND als auch gegen die PID ausgesprochen und gefordert, die Menschenwürde auch im vorgeburtlichen Bereich zu achten. Ein Recht auf ein gesundes Kind wird vom DBR ausdrücklich abgelehnt, da zum Menschsein Vielfalt gehöre, wozu Behinderungen ebenso zählten, wie chronische Erkrankungen. Zudem seien sowieso nur ca 5 % aller Beeinträchtigungen im vorgeburtlichen Stadium erkennbar.

Es stellt sich angesichts der Lage kinderloser Paare aufgrund genetischer Motivation ganz besonders die Frage, was als "Fortpflanzung" Grundrechtsschutz genießen kann. Hier ist insbesondere fraglich, ob allein die genetische Fortpflanzung Grundrechtsschutz genießt, oder ob auch physiologische Elternschaft in Verbindung mit geplanter sozialer Elternschaft in irgendeiner Form durch die Grundrechte gegen staatliche Eingriffe geschützt ist. Zusätzlich ist zu untersuchen, ob mit gesamtgesellschaftlichen Erwägungen (z.B. dem Kritikansatz der Behindertenverbände) ein Eingriff in die individuelle Fortpflanzungsentscheidung einer Person oder eines Paares durch den Staat gerechtfertigt werden kann. Diese Punkte werden im Teil 2 und 3 dieser Arbeit behandelt.

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