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Schreibzentrumsforschung

Im Dokument Von der Innovation zur Institution (Seite 86-91)

3.5 Schreibzentren in den USA

3.5.2 Schreibzentrumsforschung

Schreibzentrumsforschung als eigene Forschungsrichtung ist auch in den USA noch relativ jung. Im deutschsprachigen Raum kann man derzeit noch kaum von Schreibzentrumsforschung als einem eigenen Gebiet sprechen (Girgensohn & Pe-ters, 2012)36, doch mit der wachsenden Anzahl an Schreibzentren wird sich diese Forschung auch hier etablieren. Wie im Kapitel 5.8.3 gezeigt werden wird, ist Schreibzentrumsforschung elementar für die Institutionalisierung von

Schreibzen-36 Dieses Kapitel basiert teilweise auf eben diesem Artikel.

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tren. Viele AutorInnen beklagen daher, dass SchreibzentrumsakteurInnen sich zu sehr auf Erfahrungswissen („lore“) verlassen haben und Forschung zu wenig geför-dert wurde (North, 1984; Gillespie et al., 2009; Babcock & Thonus, 2012). Rebecca Day Babcock und Terese Thornus führen dazu aus:

„Writing center scholarship must value lore, but lore is limiting. Scholars need to talk about what they know, what they have experienced (locally produced knowledge), but they also need to move beyond that step and problematize writing center issues more broadly.“ (Babcock & Thonus, 2012, 18)

Babcock und Thornus schlagen in ihrem Buch verschiedene methodische Herange-hensweisen für Schreibzentrumsforschung vor und entwickeln zahlreiche For-schungsfragen, die in Schreibzentrumskontexten beantwortet werden könnten und sollten. Außerdem stellen sie viele Studien kurz vor, wobei sie diese in schreibzen-trumsrelevante Kategorien sortieren, wie z. B. Schreibberatung mit verschiedenen Zielgruppen, Aktivitäten beim Tutoring oder Direktivität in der Beratung. Sie knüp-fen damit an eine Publikation von Paula Gillespie, Alice Gillam, Lady Falls Brown und Byron Stay an (Gillespie et al., 2009). Gillespie et al. schlagen vor, zur besseren Bestimmung der Gegenstände von Schreibzentrumsforschung den Begriff genauer zu definieren. In Anlehnung an Empfehlungen der Educational Research Associa-tion (AERA) könnte unterschieden werden zwischen „Empirical Research“ (Empiri-sche Forschung) und „Conceptual Inquiry“ (Theoreti(Empiri-sche Forschung), auch wenn dies, darauf weisen Gillespie et al. ausdrücklich hin, die Gefahr berge, dass Gegen-sätze aufgemacht würden zwischen Forschungsbewegungen, die eigentlich hybrid seien.

Die theoretische Forschung im Bereich der Schreibzentrumsarbeit versucht, die Praxis zu theoretisieren und zu erklären (Carino, 1995b). Erklärungsansätze sind zum Beispiel der Sozialkonstruktivismus (vgl. Bruffee, 1984; Ede, 1989, Murphy, 1991), expressive Rhetorik (Elbow, 1973, 1998, siehe auch Bräuer, 1996) oder kogni-tive Ansätze (Bartholomae, 1995). Zu dieser Forschungsrichtung sind auch die ver-mehrt entstehenden historischen Arbeiten zu zählen, die sich mit der Geschichte von Schreibzentrumsarbeit befassen und daraus Schlussfolgerungen für aktuelle Schreibzentrumsarbeit ziehen (z. B. Kail, 2008; Lerner, 2007a; Lerner, 2009a). In der theoretischen Forschung kann es laut Olson (1995, 54) nicht das Ziel sein, allge-meingültige Theorien zu entwickeln, da Schreibzentrumsarbeit dafür einfach zu komplex sei, sondern es gehe vielmehr um eine Theoretisierung. Ziel dabei sei es, der Selbstwahrnehmung der AkteurInnen in Schreibzentren immer wieder Wider-stände entgegenzusetzen und sie so voranzubringen. Darüber hinaus ist das Ziel theoretischer Schreibzentrumsforschung aber auch, interdisziplinäre Impulse zu ge-nerieren, zum Beispiel für die Erziehungswissenschaften (Gillespie et al, xxiv).

Zur empirischen Forschung zählen Studien, für die in Schreibzentren Daten erho-ben werden. Ähnlich wie in composition studies bzw. der Schreibforschung waren diese Studien in den 1960er bis 1980er Jahren laut Jones (2001) meist quantitativ und experimentell ausgerichtet in dem Bemühen, das eigene Forschungsfeld als

„echte Wissenschaft“ zu etablieren. So wurde beispielsweise versucht, Rückschlüsse auf die Wirksamkeit von Schreibzentrumsarbeit zu ziehen, indem Texte Studieren-der, die Schreibzentrumsangebote genutzt hatten, mit Texten anderer Studierender verglichen wurden (z. B. Bennett, 1988; Naugle, 1980; Sandlon, 1980; Sutton & Ar-nold, 1974; Roberts, 1988; Waldo, 1987; Wills, 1984). Jones (2001) verweist jedoch in seiner Metastudie darauf, dass diesbezüglich nur wenige signifikante Unterschiede festgestellt werden konnten. Auch Babcock & Thonus verweisen auf Studien, die na-turwissenschaftliche Herangehensweisen wählen, zum Beispiel, indem Experimente mit Vergleichsgruppen gemacht werden (z. B. Cumming & So, 1996; Patchan, 2011).

Die Autorinnen bleiben skeptisch gegenüber experimentellen Forschungsansätzen in Schreibzentren:

„Experimentation as a research method remains both difficult and suspect. Since writing center tutoring is based on talk, it is extremely hard to manipulate factors such as types of questions asked, use of questions vs. imperatives, etc.“ (ebd., 37).

Allerdings stehen Babcock & Thonus zwar quasi-experimentellen Settings kritisch gegenüber, nicht jedoch grundsätzlich quantitativen Ansätzen. Sie betonen den Un-terschied, den sie zwischen Forschung und Evaluation (Assessment) sehen:

„[…] assessment, the usually quantitative evaluation of practice in comparison to a set of institutional standards [...] is our bread and butter, we must ‚report the numbers.‘“

(ebd. 56, Hervorh. i. Org.)

Evaluation ist in der Regel nur lokal relevant und folgt selten eigenen Forschungsfra-gen, sondern muss sich häufig an Fragen messen, die für andere Kontexte entwi-ckelt wurden (Law & Murphy, 1997; Lerner, 2001). Lerner (2003) plädiert deshalb da-für, proaktiv eigene Evaluationsdesigns zu entwickeln. So meint er, dass die puren NutzerInnenstatistiken wenig aussagen über Schreibzentren, da diese fast nie mehr als 10–15 Prozent der Studierenden einer Institution widerspiegeln – wenig überzeu-gend für AdministratorInnen. Wenn man aber zum Beispiel zeigen kann, dass 60 Prozent der NutzerInnen ausländische Studierende sind und dass diese der Uni wichtig sind, ist diese Zahl ein gutes Argument. Da Evaluation zum Standard an Hochschulen gehört, bietet sie eine gute Ausgangsbasis zur Entwicklung eigener Forschungsfragen, die dann über den lokalen Kontext hinaus interessant sein kön-nen. Aus Evaluation kann also durchaus Forschung werden.

Über ihre Assessment-Strategien, bei denen z. T. auch Peer-TutorInnen beteiligt sind, berichten drei Schreibzentrumsleitende in Podcasts im Blog des Schreibzen-trums der University of Madison Wisconsin.37 Auch der von Ellen Schendel und Wil-liam Macauley herausgegebene Band zu Writing Center Assessment enthält zahlrei-che Anregungen für das Design und die Durchführung sinnvoller Erhebungen im Kontext von Schreibzentren (Schendel & Macauley, 2012, siehe auch White et al., 2015).

37 Verfügbar unter http://writing.wisc.edu/podcasts/index.html#denny [04.09.2014].

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Ab Mitte der 1980er Jahre kamen verstärkt Überlegungen auf, ob ein quantitatives Forschungsparadigma einer Schreibzentrumsforschung überhaupt gerecht werden könnte. Denn im Zentrum der Schreibzentrumsarbeit stehen nicht nur möglicher-weise messbare Ergebnisse wie verbesserte Texte, sondern insbesondere auch die langfristige Entwicklung von Schreibkompetenz, Lernkompetenzen sowie die akade-mische Sozialisation insgesamt. Deshalb plädierten viele Forschende nun für quali-tative Forschungsansätze in der Schreibzentrumsforschung (z. B. North, 1984, vgl.

auch Irmscher, 1994). Die Schreibzentrumsforschung begann, sich an rekonstrukti-ver Sozialforschung und ethnografischer Forschung zu orientieren. Die Ziele dieser Forschungsarbeiten sind es laut Gillespie et al.(2009, xxi) weniger, pragmatische Empfehlungen für die Schreibzentrumsarbeit zu entwickeln als vielmehr, Schreib-zentrumsarbeit kritisch zu reflektieren und zu theoretisieren. Gillespie et al. nennen beispielsweise eine Studie von Werder & Buck (1995) über Schreibberatungsgesprä-che als Beispiel für ethnografisSchreibberatungsgesprä-che Forschungsansätze. Am bekanntesten wurde eine Fallstudie von Anne DiPardo, „Whispers of Coming and Going“, in der sie herausar-beitet, dass der Status quo der Schreibzentrumspädagogik unzureichend ist für die Studentin Fannie, die einen nicht-akademischen Hintergrund hat und fortwährend verschiedene Identitäten ausbalancieren muss (DiPardo, 1995 [1984]). Babcock &

Thonus (2012) machen darauf aufmerksam, dass nicht einfach jeder Erfahrungsbe-richt als Fallstudie zählen dürfe. Vielmehr benötigten auch Fallstudien eine For-schungsfrage und eine systematische Datenauswertung. Stephen North hat sich be-reits 1985 für mehr Fallstudien in Schreibzentren ausgesprochen (North, 1985).

Mehrjährige kollaborative Forschungsprozesse im Schreibzentrum reflektieren ei-nige Mitarbeitende der URI Writing Center Research Group (Siegel, Finer et al., 2011). Sie plädieren dafür, nicht nur die Forschungsergebnisse zu schätzen, sondern auch die Prozesse an sich, da insbesondere die Komplikationen im Verlauf der For-schungsprozesse zur Weiterentwicklung des Schreibzentrums beigetragen hätten.

Gemeinsame Forschungsprojekte würden sich deshalb besonders gut als professio-nelle Weiterbildung eignen.

Über die Strategie, Forschungskooperationen mit Lehrenden anderer Disziplinen einzugehen, berichtet Jeffrey Jablonski (2006) in Bezug auf die Etablierung von Writ-ing Across the Curriculum-Programmen: Lehrende, mit denen man kooperiert, ha-ben in der Regel ein Interesse daran, zu publizieren. Die Kooperation kann über die rein praktische Zusammenarbeit hinausgehen, wenn die Ergebnisse wissenschaft-lich ausgewertet und publiziert werden, z. B. in einer fachdidaktischen Zeitschrift.

Als weiteren qualitativen Ansatz nennen Babcock & Thonus (2012) Teilnehmende Beobachtung, z. T. auch in Kombination mit weiteren Datenerhebungen, wobei in der Ethnografie eine Teilnehmende Beobachtung mindestens mehrere Monate um-fassen müsse (vgl. auch Lerner, 2002). Als Beispiele nennen sie u. a. McInerney (1998) und Jordan (2003), die zwei neuen Peer-TutorInnen drei Semester lang folgte – vom Training über die ersten Beratungen bis zum Ende des zweiten Semesters, das sie im Schreibzentrum arbeiteten.

Für die Analyse von Daten in der Schreibzentrumsforschung verweisen Babcock &

Thonus (2012) insbesondere auf die Methodologie der Grounded Theory, auf der ihrer Ansicht nach viele weitere qualitative Analysemethoden wurzeln. Sie nennen folgende Studien, die Schreibzentrumsarbeit mit einem Grounded-Theory-Ansatz beforschen: Roswell (1992) zur Aushandlung von Autorität in Schreibberatungen, Magnotto (1991) zur Arbeit im Schreibzentrum eines Community Colleges, Babcock (2005) zur Arbeit mit taubstummen Studierenden im Schreibzentrum und Levin (2006) zu externen Einflüssen auf die Schreibzentrumsarbeit.

Die Analyse von Text steht laut Babcock & Thonus (2012) nicht sehr häufig im Fokus von Schreibzentrumsforschung, da meistens eher Gespräche in den Schreibberatun-gen analysiert werden. Einige Studien befassen sich aber z. B. damit, welche Überar-beitungen im Text aufgrund von Schreibberatungen durchgeführt wurden, wobei di-verse Textbewertungsraster genutzt werden (z. B. Anglada, 1999 und Williams, 2004).

Gespräche in der Schreibberatung werden häufig diskursanalytisch untersucht, wobei neben der klassischen Diskursanalyse, die die Struktur von Textteilen im Zu-sammenhang mit der Discourse Community untersucht, auch die kritische Diskurs-analyse genutzt wird, welche die soziale und ideologische Natur der Sprache insbe-sondere im Hinblick auf Macht und Autorität untersucht (Babcock & Thonus, 46 f.).

Babcock und Thonus (2012) nennen z. B. eine Studie von Blau et al. (Blau, Hall &

Strauss, 1998), die untersucht haben, wie solche Sprachhandlungen wie Fragen und Spiegeln die Zusammenarbeit zwischen den GesprächspartnerInnen verbessert oder verschlechtert haben. Auch Jane Melnick (1984) führte eine Diskursanalyse von Schreibberatungen durch und brachte diese mit dem theoretischen Konzept der Membership zusammen, um zu zeigen, wie Autorität, Macht und Ermächtigung im Gespräch konstruiert werden.

Als weitere Analysemethode nennen Babcock & Thonus (2012) die Konversations-analyse, die sie jedoch skeptisch sehen, da die Methode den Kontext der Konversa-tion nicht berücksichtige und auf „normale“ KonversaKonversa-tion ziele, wobei es „normale“

Konversation in der individualisierten Schreibzentrumsarbeit eigentlich nicht gebe.

Deshalb, so Babcock & Thonus, tauche die Konversationsanalyse in der Schreibzen-trumsforschung eher in Mischformen mit anderen Zugängen auf, was streng ge-nommen methodisch nicht erlaubt sei. Als klassisches Beispiel für eine Konversa-tionsanalyse nennen sie eine Studie von Waring (2005), die untersucht, auf welche Weise sich eine Schreiberin den Ratschlägen ihrer Peer-Tutorin widersetzt.

Nachdem es zunächst so aussah, als hätten die qualitativen Zugänge die quantitati-ven Forschungen in Schreibzentren abgelöst, scheint die Schreibzentrumsforschung in den USA heute gekennzeichnet zu sein durch methodischen Pluralismus und eine kritische, selbstreflexive Haltung. In Mixed-Methods-Designs werden häufig so-gar sowohl quantitative als auch qualitative Daten ausgewertet. Ein umfassendes Bei-spiel dafür ist das Peer Writing Tutor Alumni Research Project (PWTARP), bei dem ursprünglich drei Schreibzentren in einem gemeinsamen Forschungsprojekt ihre

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früheren Peer-TutorInnen befragten, was sie aus ihrer Schreibzentrumszeit in ihr späteres Leben „mitgenommen“ haben (Hughes, Gillespie & Kail, 2010).

Da in den USA Doktorarbeiten nicht veröffentlicht werden müssen, sind leider viele andere interessante Studien nur schwer zugänglich. Lerner (2009b) listet in einem Artikel solche Arbeiten auf, und Babcock et al. (2012) fassen in ihrem Buch qualita-tive Studien der Schreibzentrumsforschung zusammen.

Eine substanzielle Ressource ist zudem das Writing Center Research Project (http://

coldfusion.louisville.edu/webs/a-s/wcrp/reports/analysis/index.cfm). Neben Umfra-gen zum landesweiten und internationalen Vergleich von Schreibzentren archiviert das Projekt Artikel des Writing Center Journals und Oral History-Dokumente in Form von Interviews mit Personen, die die Schreibzentrumsarbeit in den USA ge-prägt haben.

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