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Schreibkompetenzentwicklung

Im Dokument Von der Innovation zur Institution (Seite 68-71)

3.2 Warum Schreibzentren?

3.2.2 Schreibkompetenzentwicklung

Schreiben können ist nicht lediglich eine Fähigkeit, sondern ein Kompetenz. Diese Unterscheidung macht deutlich, dass die Schreibkompetenzentwicklung nicht mit dem Schriftspracherwerb abgeschlossen ist. Die meisten Kinder lernen in der Schule zwar Schreiben und sollten grundlegende Regeln wie Rechtschreibung, Grammatik und Zeichensetzung anwenden können. Dennoch kann nicht vorausgesetzt werden, dass die Schreibkompetenzentwicklung nach Schulabschluss weit genug entwickelt ist, um wissenschaftlich schreiben zu können.

Der Schreibforscher und kognitive Psychologe Robert Kellogg (2008) betrachtet Schreibkompetenzerwerb in Anlehnung an Bereiter und Scardamalia (Bereiter, 1980) grundsätzlich als eine Entwicklung, die mehrere Stufen durchläuft (siehe Abb. 3).

Knowledge-Telling Knowledge-Transforming Knowledge-Crafting

• Planning limited to idea retrieval.

• Limided interaction of planning and translating, with minimal reviewing.

• Interaction of planning, translating, and reviewing.

• Reviewing primarily of author’s representation.

• Interaction of planning, translating, and reviewing.

• Reviewing of both author and text representations.

Author

Text

Writing Skill

Author Author Reader

Text

10 Years of Practice 20 Abb. 3: Schreibentwicklung

Quelle: Kellogg (2008, 4)

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Die höchste Stufe der Schreibkompetenzentwicklung bezeichnet Kellogg als „Know-ledge-Crafting“. Erst auf dieser Stufe seien Schreibende überhaupt in der Lage, wäh-rend des Schreibens gleichzeitig zu reflektieren, welche Gedanken sie ausdrücken möchten, welche Ideen der bis dahin geschriebene Text bereits transportiert und wie der Text von zukünftigen Lesenden interpretiert werden wird. Von der Komplexität her vergleicht Kellogg das wissenschaftliche Schreiben mit dem Spielen einer Vio-line. Man braucht mindestens zehn Jahre, um dieses Instrument professionell zu beherrschen – wenn man viel übt. Die Stufe des Knowledge-Crafting erreichen Schreibende nach Kellogg erst nach 20 Jahren, zumal das Gehirn überhaupt erst in der zweiten Dekade des Lebens abstrakteres Denken und stärkere Steuerungsfähig-keiten entwickelt. Wenn man den Schriftspracherwerb im Alter von sechs Jahren beginnt, ist es nach Kellogg also nicht verwunderlich, wenn Studierende mit An-fang 20 noch Schwierigkeiten mit dem wissenschaftlichen Schreiben haben – erst recht, wenn man bedenkt, dass StudienanfängerInnen zugleich auch den Übergang in neue Diskursgemeinschaften zu meistern haben, die sich deutlich von den schuli-schen Diskursgemeinschaften unterscheiden. Um sich diesen Kompetenzbereich zu veranschaulichen, ist ein Blick auf die Dimensionen der Schreibkompetenz nach Anne Beaufort hilfreich (siehe Abb. 4).

Schreib-prozess

Textsorten Rhetorik

Stilistik

Inhalt Fachwissen

Diskursgemeinschaft

Abb. 4: Dimensionen der Schreibkompetenz nach Beaufort Quelle: Girgensohn & Sennewald (2012, 34)

Beauforts Modell veranschaulicht, dass Schreibkompetenz fünf verschiedene Di-mensionen beinhaltet: Rhetorik und Stilistik, Inhalt und Fachwissen, Textsortenwis-sen, Schreibprozesswissen und die Kenntnis der Diskursgemeinschaft, die sehr eng mit den anderen Dimensionen verwoben ist. Selbst wenn Studierende die außerhalb der Diskursgemeinschaft liegenden Teilmengen von Schreibkompetenz schon weit entwickelt haben, können sie die diskursgemeinschaftliche Dimension erst mit Be-ginn des Studiums zu entwickeln beBe-ginnen. Gerade in dieser Dimension liegen viele Schwierigkeiten Studierender mit dem wissenschaftlichen Schreiben begründet.

Diese Dimension kann sogar die Ursache dafür sein, dass Studierende in ihrer Schreibkompetenzentwicklung stagnieren oder auf frühere Kompetenzstufen zu-rückfallen.

Mit der Bedeutung der Diskursgemeinschaft für die Entwicklung von Schreibkom-petenzen haben sich unter anderem Joseph M. Williams und Gregory G. Colomb (1990) auseinandergesetzt. Sie gehen von der Prämisse aus, dass Studierende im-mer eine intellektuelle Entwicklung durchmachen müssen, wenn sie in neue Dis-kursgemeinschaften – Communities – eintreten (siehe dazu auch Kapitel 3.1). Dabei ist zu beachten, dass Diskursgemeinschaften keine fest definierten Grenzen haben und – für Studierende schwer durchschaubar – unterschiedlich bezeichnet werden (z. B. „subjects, fields, areas, majors, departments, disciplines“, vgl. Williams & Co-lomb, 1990, 101). Diskurgemeinschaften überschneiden sich häufig, sodass Regeln schwer auszumachen sind. Dennoch müssen NovizInnen lernen, wie man in den unterschiedlichen Diskursgemeinschaften denkt, sich benimmt, spricht, schreibt – und auch, was man nicht tut, ausspricht oder schreibt. Williams und Colomb verste-hen Studierende als SchreibnovizInnen, die noch außerhalb der Diskursgemein-schaften stehen, in die sie durch ihr Studium eintreten. In Bezug auf akademisches Schreiben bedeutet dies in der Regel, dass Studierende zunächst eher zusammenfas-sen als analysieren, da ihnen zur Analyse noch das nötige Kontext- und Fachwiszusammenfas-sen fehlt. Sie tendieren auch dazu, Unnötiges zu schreiben, da sie noch nicht wissen, welches Wissen im Fach vorausgesetzt wird und nicht erklärt oder gesagt werden muss. Und sie konzentrieren sich auf die auffälligsten sprachlichen Marker und imi-tieren diese, um zu versuchen, so zu klingen wie die Mitglieder der Diskursgemein-schaft. In Bezug auf die Schreibkompetenzentwicklung ist es laut den Autoren gera-dezu vorhersehbar, dass Studierende, die damit beschäftigt sind, diesen Übergang in neue Diskurgemeinschaften zu bewältigen, sogar hinter ihre vorigen Fähigkeiten zu-rückfallen:

„Someone trying to enter a new community of discourse must bring under control a new body of knowledge, new ways of thinking, new ways of writing and speaking. So it is entirely predictable that some skills already mastered will deteriorate, often by default reliance on the most concrete forms of behavior.“ (Williams & Colomb, 1990, 102) Dieses Zurückfallen betrifft nach Beobachtungen der Autoren insbesondere die Fä-higkeiten zu analysieren und zusammenzufassen. Sie betonen, dass dieses Zurück-fallen nicht nur StudienanfängerInnen betrifft, sondern alle Schreibenden, die eine

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neue Community meistern müssen. So könne es auch auf dem Level von Promovie-renden geschehen, dass man deren Texte plötzlich als ungelenk und schlecht emp-findet. Dies sei eine vorhersehbare Reaktion von NovizInnen im Übergang in neue Diskursgemeinschaften. Am Beispiel eines Studenten der Rechtswissenschaften zei-gen die Autoren, dass dieser, obwohl er im Bachelorstudium ein exzellenter Student war und von einem exzellenten College kam, im Masterstudium plötzlich Texte ver-fasst, die Flower (1979) als „writer-based prose“ bezeichnet – als Texte also, die nicht adressatengerecht sind, sondern eher dazu dienen, die schreibende Person beim Denken zu unterstützen. Der Denkprozess wird dabei im Endprodukt zu stark mit abgebildet. Während Flower diese Art des Schreibens als typisch für Schreibanfänge-rInnen sieht, sehen Williams und Colomb diese Art des Schreibens als typisch für Schreibende, die in eine neue Diskursgemeinschaft kommen. Weiterhin zeigten sich diese Schwierigkeiten bzw. das Zurückfallen auch im Stil (Williams & Colomb, 1990, 104).

Die Beobachtung, dass Schreibende hinter ihren eigenen Fähigkeiten zurückbleiben, wenn sie in eine neue Diskursgemeinschaft kommen, wird unterstrichen durch eine weitere Studie von James Voss et al. (1983), die Williams und Colomb zusammenfas-sen. Voss et al. stellten vier verschiedenen Gruppen von Menschen die Aufgabe, zu erklären, wie sie die Probleme der Sowjetunion lösen würden. Darunter waren Stu-dierende im ersten Semester der Sowjetstudien, StuStu-dierende in höheren Semestern der Sowjetstudien, ProfessorInnen der Chemie und Lehrende der Sowjetstudien.

Die ExpertInnen verwendeten mehr Zeit darauf, das Problem zu analysieren, statt, wie die NovizInnen, konkrete Vorschläge aneinanderzureihen. Das Interessante an dem Ergebnis war, dass die ProfessorInnen der Chemie sich genauso verhielten wie die NovizInnen unter den Studierenden. Erfahrene Schreibende verhalten sich dem-nach auf einem ihnen unbekannten Wissensgebiet genauso wie alle anderen Novi-zInnen.

Es ist also damit zu rechnen, dass Studierende im Verlauf ihrer akademischen Schreibentwicklung immer wieder temporäre Desorientierung und Rückschritte meistern müssen – insbesondere, wenn sie den Übergang in eine neue Diskursge-meinschaft und den Umgang mit deren impliziten Regeln bewältigen müssen.

Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf die Schreibkompetenzentwicklung sagen, dass diese ein langwieriger Prozess ist, dem man entsprechend Zeit einräumen muss und bei dem man keinesfalls davon ausgehen kann, dass er mit Eintritt in die Hochschule bereits abgeschlossen ist. Zudem wird die Entwicklung der Schreibkom-petenz insbesondere mit Beginn des Studiums stagnieren oder sogar hinter bereits erreichte Stadien zurückfallen, weil erst der Übergang in neue Diskursgemeinschaf-ten bewältigt werden muss.

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