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Historische Entwicklungen

Im Dokument Von der Innovation zur Institution (Seite 82-86)

3.5 Schreibzentren in den USA

3.5.1 Historische Entwicklungen

In den USA gibt es Schreibzentren bereits seit Beginn des 20. Jahrhundert (Carino, 1995a) bzw. sogar schon seit den 1890er Jahren (Lerner, 2006, 4). Zumindest kann man von ersten Vorläufern seit jener Zeit sprechen, obwohl Schreibzentren als ei-gene Institutionen jenseits des Unterrichts wohl erst ab den 1930er Jahren entstan-den (ebd.).

Peter Carino (1992) hat untersucht, welchen Einfluss die drei im Lauf der Geschichte gebräuchlichsten Bezeichnungen Writing Clinic, Writing Lab und Writing Center auf die Wahrnehmung und Entwicklung der Profession haben und gehabt haben

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können. Daran anschließend folgte 1995 ein Versuch, die Geschichte von Schreib-zentren in den USA vor den 1970er Jahren komplexer darzustellen, als dies bislang geschehen war, da zu diesem Zeitpunkt die Ideologie vorherrschte, Schreibzentren hätten eine geradlinige Evolution durchlaufen – von schlecht ausgestatteten und mar-ginalisierten „Fix-it-Shops“ hin zu den aktuellen, pädagogisch modernen Schreibzen-tren mit nicht-direktiver Beratung durch Peer-TutorInnen (Carino, 1995a). Carino zeigt, dass die ersten Vorläufer von Schreibzentren vermutlich als reformpädagogi-scher Ansatz der Labormethode eine studierendenzentrierte Ergänzung des Frontal-unterrichts waren und dass es trotz Marginalisierung, trotz Grammatik-Drills und des Stigmas, nur für „schlechte“ Studierende da zu ein, durchaus reformatorische und studierendenzentrierte Ansätze gab. Zudem geht er auf den Einfluss historisch-gesellschaftlicher Ereignisse ein, wie z. B. die „GI Bill“ in den 1950er Jahren, die ehe-maligen Soldaten ein Universitätsstudium ermöglichte, oder die „Open Admission Policy“, mit der Studierende aus bildungsfernen Schichten in den 1970er Jahren an die Hochschulen gelangten. Carino (1996, 43) plädiert für eine kulturwissenschaftli-che Sichtweise auf die Geschichte von Schreibzentren, die eine dichte Beschreibung von Ereignissen verallgemeinernden Gesamtaussagen vorzieht, da es nie möglich sei, einzelne historische Begebenheiten wie etwa die Open Admission Policy allein zur Ursache von Phänomenen wie der Verbreitung von Schreibzentren zu erklären.

Eine umfassende Rekonstruktion der Geschichte von Schreibzentren unternimmt Neal Lerner (2009a). Diese wird im Folgenden ausführlich referiert, weil sie zu-gleich den Einfluss staatlicher Stellen auf die Entwicklung von Schreibzentren doku-mentiert und insofern auch für die aktuelle Situation im deutschsprachigen Raum aufschlussreich sein kann.

Lerner untersucht die Geschichte von Writing Centers und die Geschichte von der Didaktik des naturwissenschaftlichen Schreibens. Er sieht einen Zusammenhang zwischen beidem, weil Reformpädagogik um 1900 herum häufig als „laboratory methods“ bezeichnet wurde. Dabei betonte man den experimentellen Charakter von Lernen. Lerner hofft in seinem Buch einen Zusammenhang zwischen diesem re-formpädagogischen, experimentellem Aufbruch und der Entstehung von Schreib-zentren zeigen zu können. Zu seinem eigenen Bedauern ist es ihm nicht gelungen, das erste Schreibzentrum ausfindig zu machen. Es war ihm auch nicht möglich, viele Hinweise auf den Zusammenhang von writing labs und diesem experimentel-len Aufbruch zu finden, auch wenn es einige Spuren gibt.

Lerner fand stattdessen viele Zeugnisse dafür, dass writing labs oder writing clinics tatsächlich zu einer Art Straf- und Heilanstalten für schwache Schreibende wurden, in denen man sie von der „disease of bad writing“ heilen wollte (Lerner, 2003b, 56).

Er zeigt allerdings, dass dies weniger dem mangelnden Reformwillen geschuldet war als vielmehr dem erdrückenden Mangel an Ressourcen der English/Composi-tion teacher. Oft hatten ihre Klassen um die 100 SchülerInnen, und Labormethoden waren schlichtweg aus Mangel an Kapazitäten nicht möglich. Lerner warnt aus-drücklich davor, wie leicht experimentelle und reformerische Ansätze in ihr

Gegen-teil umschlagen können und zu billigen Möglichkeiten werden, schlecht vorbereitete Studierende abzufertigen und sie „außer Sicht zu manövrieren“ (Lerner, 2009a, 32 und 74).

Zwei historische Beispiele beleuchtet Lerner genauer. Das eine ist das Writing Labo-ratory des General Colleges in Minnesota, einem Two-Year-College, das 1932 eröffnet wurde. Es sollte Studierende ausbilden, die es nicht auf ein normales College ge-schafft hatten oder dort im Laufe ihres Studiums an den Anforderungen gescheitert waren. Der Anspruch des Colleges war explizit ein Reformansatz, bei dem es darum ging, mehr Praxisbezug herzustellen und eine Allgemeinbildung zu fördern, von der man hoffte, sie würde die Studierenden zu mündigen und verantwortungsbewuss-ten BürgerInnen machen. Das Writing Lab entsprach, wie Lerner zeigt, schon in den 1930er Jahren vielen heutigen Ansätzen. Die Studierenden konnten „writing lab“ als Fach wählen, dafür gab es das Fach „Composition“ nicht. Sie verbrachten ihre Zeit schreibend im Lab und bekamen dabei individuelle Unterstützung durch die dort anwesenden Lehrenden, ganz wie in einem naturwissenschaftlichen Labor. Die Wahl der Schreibaufgaben war weitgehend frei. Viele Studierende wählten Schreib-aufgaben, die sie für andere Kurse schreiben mussten. Es kamen wohl auch zuneh-mend Studierende für individuelle Unterstützung zu Schreibaufgaben aus ihren Kursen, auch ohne in den Lab-Kurs eingeschrieben zu sein. Allerdings zeigt Lerner anhand der historischen Dokumente, dass auch damals schon fehlende Ressourcen und Überarbeitung des Personals ein großes Problem waren.

Das andere Beispiel ist die Writing Clinic am Darthmouth College, einer sehr elitä-ren Hochschule. Hier wurde die „Clinic“ zunächst von einem Studenten eingerich-tet, der von sich aus auf die Idee kam, jüngeren Kommilitonen beim Schreiben zu helfen. Da er selbst eine große Affinität zum Schreiben hatte, war der Ansatz zu-nächst sehr positiv. Doch nachdem die New York Times über sein Tun berichtet und dabei betont hatte, wie schlecht Studierende heutzutage schreiben würden, kamen bald tatsächlich nur noch Studierende, die sich nicht mehr anders zu helfen wuss-ten. In den folgenden Jahren gab es wechselnde Schreibzentrumsleiter, von denen keiner mehr als drei Jahre blieb. Vor allem muss es sehr schwierig gewesen sein, Lehrende dazu zu bewegen, mit der Writing Clinic zu kooperieren. Es gab ein Komi-tee, das immer wieder schriftlich an die Lehrenden appellierte, schwache Schrei-bende zu schicken, das jedoch nur wenige Reaktionen bekam. 1959 erhielt das Col-lege dann eine Spende von 60.000 Dollar zur Untersuchung des studentischen Schreibens. Es wurden zwei anerkannte Forscher aus Kansas geholt, Albert Kitzha-ber und Vincent Gillespie. KitzhaKitzha-ber war Präsident der Conference on College Com-position and Communication und des National Councils of Teachers of English und hatte seine Dissertation über die Geschichte von Rhetorik an Hochschulen geschrie-ben. Er wehrte sich gegen das Image von Förderunterricht und meinte, die Lehren-den müssten nicht schwache Studierende iLehren-dentifizieren, sondern anspruchsvollere Schreibaufgaben stellen und diese unterstützen. Kitzhaber schloss die Writing Clinic, weil er der Meinung war, dass eine Schreibförderung mit Breitenwirkung die Unter-stützung aller Lehrenden brauche statt einer extracurricularen Institution. Eine

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ing Clinic führe dazu, dass man als Lehrperson unangenehme Fälle einfach in die Clinic abschieben könne. Kitzhaber bezog sich auf die Tradition von Rhetorik, um Composition als akademische Disziplin zu etablieren. Das heutige Writing Program am Darthmouth College richtet sich explizit an gute Studierende und solche, die sich verbessern wollen und ist damit auf einer Linie mit zeitgemäßer Schreibzen-trumstheorie und -praxis.

Lerner hält außerdem die Geschichte des „Project English“ als eine Warnung dafür fest, wie unproduktiv staatlich verordnete Schreibförderung sein kann. Dieses Projekt wurde 1962 gestartet, nachdem Organisationen wie der National Council of Teachers of English (NCTE) sich vehement dafür eingesetzt hatten, dass etwas von dem vielen staatlichen Geld, das seit dem Sputnik-Schock35 in die Universitäten und Schulen floss, um die Sowjetunion überholen zu können, auch in die English De-partments gelangen sollte. Dieses Geld floss zunächst nämlich ausschließlich in naturwissenschaftliche Forschung und Lehre. Es gelang tatsächlich, die Regierung davon zu überzeugen, dass Sprache und Ausdruck für den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt ebenfalls wichtig sind. Die Englisch Lehrenden woll-ten die völlig unterfinanzierte Lehre stärken, mehr Englischlehrer ausbilden, einstel-len und ihnen größere Zeitbudgets geben. Doch die Gelder wurden schließlich für anderes bewilligt: Es sollten strukturierte Curricula auf der Basis von Forschung ent-wickelt werden, die den Englischunterricht an Schulen und am College verbessern.

Dem damaligen Zeitgeist geschuldet, der ganz auf technischen Fortschritt und Na-turwissenschaft ausgerichtet war, hielt man die Geisteswissenschaften für zu un-strukturiert und chaotisch und den Englischunterricht für ineffektiv, weil er zu sehr vom Vorgehen oder der Pädagogik einzelner Menschen abhängig sei. Für das „Pro-ject English“ bekamen einzelne Universitäten Millionen, um „curriculum study centers“ einzurichten. Hier sollten sie wissenschaftlich erforschen, wie sich Schrei-ben besser lernen lasse und welche Curricula dafür eingerichtet werden müssten.

Die SchullehrerInnen, um deren Curricula es auch ging, wurden gar nicht einbezo-gen:

„Treating K-12 teachers as misguided practitioners eager for the results of university brainpower – and thus with no significant role in the development of those solutions – has sunk many an educational reform effort.“ (Lerner, 2009a, 116)

Bis auf wenige Ausnahmen wurden in diesen Forschungszentren Tests entwickelt, mit deren Hilfe man auf quantitativer Basis Schreibkompetenzen messen wollte.

Auf der Grundlage der Testergebnisse wurden dann Curricula entwickelt, in denen SchülerInnen und Studierende stufenweise komplexere Texte zu schreiben hatten und Grammatikdrill-Übungen absolvieren sollten. Für Lehrende wurden Summer Institutes eingerichtet, in denen sie die neuen Curricula kennenlernen sollten, um sie anwenden zu können. Es gibt wenig historisches Material zu diesen Instituten, doch ein Zeitzeuge berichtet, dass diese Veranstaltungen nicht dazu ermutigten, die

35 Am 4. Oktober 1957 startete der erste künstliche Erdsatellit “Sputnik 1” durch die Sowjetunion.

neuen Methoden anzuwenden, sondern „what they mainly accomplished was scaring the hell out of teachers and reducing rather than increasing the attention to language in English classes“ (Hook 1977, 17, zit. n. Lerner, 2009a, 121). So musste man schließlich feststellen, dass durch diese Curricula wenig Fortschritt erreicht wurde.

Im Sommer 1966 fand schließlich das Darthmouth Seminar statt, das immer wieder als Startpunkt für die Prozessorientierung im Schreibunterricht genannt wird. Hier trafen sich die Forschenden aus dem „Project English“ mit britischen KollegInnen.

Letztere hatten konträre Ideen von einem förderlichen Schreibunterricht. Lerner fasst diese zusammen als Produktorientierung versus Prozessorientierung. Aus Sicht der InitiatorInnen des „Project English“ ist die Prozessorientierung viel zu chaotisch, doch, wie Lerner bemerkt, war hier erneut der Zeitgeist im Spiel: Ende der 1960er Jahre kam „disorder“ „back in fashion“ (ebd., 123). Das „Project English“

und die damit verbundenen Millionen Steuergelder versanken im Vergessen. Das ist ziemlich wörtlich zu nehmen, denn Lerner betont, dass sehr viel Archivarbeit nötig war, um überhaupt an entsprechende Informationen zu gelangen.

Lerners Schlussfolgerung ist, dass es zwar wichtig ist, staatliche Förderung zu for-dern und zu bekommen, um Reformen durchsetzen zu können, dass aber die Förde-rung allein nicht reicht. Vielmehr sei es notwendig, nicht einfach nur Forschende einzubeziehen, sondern auch die PraktikerInnen:

„Critical to the reform of teaching is close involvement and decision making by the tea-chers themselves, whether those are laboratory instructors, peer tutors, graduate student TAs, or faculty. A sophisticated argument to a potential funder is one requirement, but once that funding is secured, implementation and success are dependent on ownership by those most affected. Students, teachers, tutors – all have much to benefit from the idea of the writing laboratory, co-learners in a rich teaching and learning environment.“

(Lerner, 2009a, 125)

In den 1970er Jahren begannen sich schließlich vermehrt die Schreibzentren zu eta-blieren, die prozessorientiert und – im Anschluss an die Theorie des Collaborative Learnings (siehe Kapitel 3.1) – mit Peer-TutorInnen arbeiten. Für die heutigen Schreibzentren hält Lerner fest, sie seien im Einklang mit aktueller Theorie „posi-tive, inclusive, and developmental“ (Lerner, 2009a, 105).

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