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Der Beitrag von Kenneth Bruffee zum Collaborative Learning

Im Dokument Von der Innovation zur Institution (Seite 98-102)

3.6 Schreibzentrumstheorie

3.6.1 Der Beitrag von Kenneth Bruffee zum Collaborative Learning

Collaborative Learning ist keine einheitliche Theorie, wie Trimbur (1985, 91, zit. n.

Hobson, 1994) betont, sondern eine Zusammenstellung pädagogischer Prinzipien und Praktiken, die experimentell erarbeitet wurden. Dennoch gilt Collaborative Learning als einer der wichtigsten theoretischen Bezugsrahmen für die Schreibzen-trumsarbeit und Kenneth Bruffee als derjenige, der es zu diesem Fundament für die Schreibzentrumsarbeit gemacht hat. Olson bezeichnet Bruffee gar als „The father of

‚collaborative learning‘” (Vorspann zum Reprint von „Peer Tutoring and the ‚Conver-sation of Mankind‘” in Olson, 1984, 3). Und Hobson (1999, 5) stellt fest: “Bruffee is a synthesizer – the synthesizer the writing center community needed at an historical moment in its history.” Bruffee habe zum richtigen Zeitpunkt die theoretischen An-sätze verschiedener wichtiger Denker des 20. Jahrhunderts zusammengebracht und den in Schreibzentren Arbeitenden damit ein Verständnis eröffnet, das bis heute prägend sei.

Bruffee selbst beschreibt in der zweiten Auflage seines Buchs Collaborative Learning (1999), wie er den Begriff Collaborative Learning in den 1970er Jahren von Edwin Mason übernahm und wie er sich dann über dreißig Jahre lang intensiv und aus in-terdisziplinären Perspektiven immer wieder damit auseinandergesetzt hat (Bruffee, 1999, 8 f., 80). Im Kern steht hinter Collaborative Learning für Bruffee die Erkennt-nis, dass Studierende, wenn sie an die Hochschule kommen, einen Übergang in neue Communities44 bewältigen müssen. Ihr Verhalten, ihre Sprache, ihre Lernstrate-gien und ihre schriftlichen Ausarbeitungen wirken oft unpassend, deplatziert oder schlichtweg falsch, weil sie die impliziten und expliziten Werte und Regeln der wis-senschaftlichen Communities an der Hochschule nicht kennen und nicht

beherr-44 Im Folgenden wird der englische Begriff genutzt, weil der deutsche Begriff Gemeinschaft andere Konnotationen hat, die nicht ganz passend sind.

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schen. Die Werte und Regeln jener Communities, denen sie bis dato angehörten, also z. B. in der Schule oder im Elternhaus, müssen an der Hochschule durch an-dere Regeln ersetzt werden. Es muss also eine Akkulturation stattfinden, die, wie Bruffee betont, am ehesten in Gemeinschaft gelingt:

„[...] there is a way to sever, weaken, or renegotiate our ties to one or more of the com-munities we belong to and at the same time gain membership in another community.

We can do that if, and it seems in most cases only if, we work collaboratively. What we have to do, it appears, is to organize or join a temporary support or transition group on the way to our goal, as we undergo the trials of changing allegiance from one com-munity to another.“ (Bruffee, 1999, 8)

Aus dem Zitat wird deutlich, dass es für den Übergang von einer Community in eine andere hilfreich ist, temporäre Unterstützungs- bzw. Übergangscommunities zu bil-den. Solche Übergangscommunities sind laut Bruffee dafür da, Gelegenheiten für Gespräche zu bieten und Halt zu geben, während die Sprache, Sitten und Werte er-lernt werden, die jene Community erfordert, zu der die Zugehörigkeit angestrebt wird. Bruffee sieht in der Community der Studierenden untereinander eine solche Übergangscommunity auf dem Weg in die Fachcommunities der verschiedenen Dis-ziplinen. Studierende untereinander bilden eine Community, weil sie viele Erfahrun-gen teilen, die das Studierendendasein mit sich bringt. Und weil die Studierenden eine Übergangscommunity bilden, können Studierende miteinander besser lernen, als wenn ihnen lediglich Lehrende Wissen vermitteln:

„The most important tool college and university professors have to help students to reac-culturate themselves into the knowledge communities they aspire to join is mobilizing transition communities. Transition communities are small, new, temporary communities made up of people who also want to undergo the same sort of change. A teacher’s role […] is to help students form transition communities and provide them with the tasks and occasions that will help them negotiate the transition.“ (Bruffee, 1999, 74)

Collaborative Learning bedeutet daher zunächst einmal, dass Gelegenheiten geschaf-fen werden, die es Studierenden ermöglichen, von- und miteinander zu lernen statt von einer Lehrperson. Bruffee schlägt dafür beispielsweise Lehr-Lernarrangements vor, die den mittlerweile als problemorientiertes Lernen bekannten Formaten äh-neln, sowie studentische Peer-Review-Verfahren und Peer-Beratungen (Bruffee, 1999, 21 ff.). Nach Bruffee müssen solche Gelegenheiten so ausgerichtet werden, dass die Studierenden die Möglichkeit haben, in der Art und Weise Gespräche mitei-nander zu führen, wie dies innerhalb der entsprechenden Fächer geschieht, damit eine Akkulturation stattfinden kann.

Zu dieser – für die 1970er Jahre noch neuen und für viele suspekten – Idee, stu-dentisches Lernen der Studierenden untereinander zu fördern, kommt eine für die damalige Zeit ebenfalls noch recht neue Vorstellung davon hinzu, wie Lernen und Wissensproduktion überhaupt funktionieren. Bruffee begann sich mit dem Sozial-konstruktivismus auseinanderzusetzen (Bruffee, 1999, xvi) und diese Ideen in seine

Theorie des Collaborative Learning zu integrieren.45 Demnach existiert Wissen nicht unabhängig vom Einzelnen, sondern muss jeweils an die vorhandenen Wissensbe-stände angeknüpft und so neu- und weiterkonstruiert werden. Ein Vermitteln von Wissen im Sinne des als Nürnberger Trichter bekannt gewordenen Bildes, bei dem Wissen in den Kopf hineingekippt wird, kann es demnach gar nicht geben. Hinzu kommt, dass Wissen sozial konstruiert wird – in Aushandlung mit und in Abgren-zung zu dem, was andere Menschen denken und kommunizieren. Diese soziale Konstruktion von Wissen geschieht im Rahmen von Communities. Die Übergangs-community der Studierenden erscheint Bruffee als der bessere Rahmen für die Kon-struktion von Wissen als eine hierarchische Lehr-Lernsituation zwischen Lehrenden und Studierenden.

Collaborative Learning ist demnach die gemeinschaftliche Aushandlung und Kon-struktion von Wissen in einer Community. Diese Community kann eine Übergangs-community sein. Bruffee nennt sie „Community of knowledgeable peers“ (Bruffee, 1984, 642). Die Mitglieder einer Community sind peers, Gleichgestellte. Bruffee schreibt dazu:

„My dictionary (the American Heritage) defines peer as ‚a person who has equal stand-ing with another, as in rank, class or age.‘ The editors emphasize this point, repeatstand-ing it in no uncertain terms: ‚Peer refers to an equal, not a superior‘.“ (Bruffee, 1999, 95) Diese Gleichgestellten einer Community, mit denen Wissen ausgehandelt und kon-struiert wird, müssen nach einiger Zeit nicht mehr unbedingt real vor Ort sein, so Bruffee, sondern der Dialog mit ihnen wird internalisiert – Gedanken seien dem-nach internalisierte Konversation. Das kritische, aushandelnde Denken wird inner-halb der Community erlernt und bleibt schließlich auch dann präsent, wenn die Peers gerade abwesend sind. Alle Gedanken und mentalen Operationen gehen also letztendlich auf soziale Begegnungen zurück; das Denken wird in der Begegnung mit anderen Menschen erlernt:

„The range, complexity, and subtlety of our thought, its power, the practical and concep-tual uses we can put it to, and the very issues we can address result from the degree to which we have been initiated into the craft of interdependence within the knowledge communities we belong to.“ (Bruffee, 1999, 134)

Um es noch einmal zu betonen: Bezogen auf das Studium bedeutet dies, dass Stu-dierende nur dann das akademische und fachliche Denken erlernen können, wenn sie genügend Gelegenheiten haben, das entsprechende Wissen gemeinsam im Aus-tausch zu konstruieren. Dies gelingt nur, wenn beide Seiten von- und miteinander lernen. Wenn jedoch eine Lehrperson das Wissen zu vermitteln versucht, kommt es häufig nicht zu diesem Konstruktionsprozess, weil die Lehrperson Mitglied anderer

45 Bruffee bezieht sich explizit auf Richard Rorty, Stanley Fish, Clifford Geertz, Bruno Latour und Thomas Kuhn und bei der Vorstellung von Denken als internalisierter Konversation auf L. S. Vygotsky. Seine lerntheoretischen Überlegungen beziehen sich auf John Dewey, und in seinen linguistischen Ausführungen bezieht er sich häufig auf Jerome Bruner.

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Communities ist und nicht der Übergangscommunity, die die Studierenden unterei-nander bilden:

„[...] if college and university students are to become members of sophisticated, complex, highly literate communities, they can best reach that goal by experiencing something like that community membership in college and university classrooms through collabo-rative learning.“ (Bruffee, 1999, 135)

Die Communities, innerhalb derer Wissen konstruiert wird, bergen jedoch auch die Gefahr, sich nicht weiterzuentwickeln, weil irgendwann alle Mitglieder dasselbe den-ken bzw. weil das Denden-ken der Mitglieder zu einem Tunnelblick führen kann. Bruffee weist darauf hin, dass die Gespräche innerhalb von Communities häufig auch eng-stirnig, oberflächlich und auf Klischees beschränkt sind und dass in diesem Fall auch das internalisierte Denken der Mitglieder engstirnig, oberflächlich und auf Kli-schees beschränkt sein wird (134). Die Rolle der Lehrenden sei es deshalb, Bedingun-gen zu schaffen, unter denen die Studierenden an die Grenzen ihrer Übergangs-communities stoßen:

„The importance of collaborative learning is that it acknowledges these differences and creates conditions in which students can negotiate the boundaries between the know-ledge communities they belong to and the one that the professor belongs to.“ (Bruffee, 1999, 144).

Die Diskurse innerhalb von Communities nennt Bruffee “standard discourse”. Dis-kurse außerhalb der Community sind „nonstandard discourse“. Die DisDis-kurse, die stattfinden, wenn der „standard discourse“ in Frage gestellt wird, z. B. durch neu hin-zukommende Teilnehmende oder durch andere Communities, nennt er „boundary discourse.“46 Boundary discourse in den Übergangscommunities der Studierenden zu provozieren ist nach Bruffee die Aufgabe der Lehrenden. Auf diese Weise lernen die Studierenden, wie Wissenschaft funktioniert, denn auch wissenschaftlicher Fort-schritt entwickle sich durch Boundary Discourse zwischen verschiedenen Commu-nities, die die Gewissheiten der anderen Communities in Frage stellen und so zu neuen Aushandlungen zwingen.

Immer wieder betont Bruffee, wie wichtig die Übergangscommunities der Studie-renden untereinander für diese sind. Die Übergangscommunities sind dabei keines-wegs immer durch die Lehrenden organisiert, sondern entwickeln sich beispiels-weise in Wohnheimen oft ganz von selbst. So bezieht Bruffee sich zum Beispiel auf William Perrys Untersuchungen über die intellektuelle Entwicklung von Studieren-den (Perry, 1968). Perry hatte in einer Langzeitstudie BA-Studierende in Harvard un-tersucht und dabei als größte Herausforderung für die Studierenden deren Umgang mit oft gegensätzlichen Perspektiven und Positionen herausgearbeitet. Die

Bewälti-46 Die Begriffswahl geht zurück auf Richard Rorty, der sich auf Thomas Kuhn bezieht, sowie auf Clifford Geertz (Bruffee, 1999, 70).

gung dieser Herausforderung gelang nach Perry u. a. auch durch Gespräche der Peers in Studierendenwohnheimen.47

Bruffee hat zur Theorie des Collaborative Learning über viele Jahre hinweg nicht nur immer wieder publiziert, sondern sie auch in Form von Workshops, Vorträgen und Summer Schools bekannt gemacht (mehr dazu in Kapitel 6.1.1). Collaborative Learn-ing hat sich insbesondere für das in Schreibzentren häufig praktizierte 1:1-Peer-Tutor-ing als besonders hilfreich erwiesen, wie im Folgenden ausgeführt wird.

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