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Komplexität wissenschaftlichen Schreibens

Im Dokument Von der Innovation zur Institution (Seite 64-68)

3.2 Warum Schreibzentren?

3.2.1 Komplexität wissenschaftlichen Schreibens

„Die Veränderung der Bevölkerung liegt den Einwanderungsströmen während und nach der spanischen Kolonialherrschaft zu Grunde.“27 Diesen Satz schrieb ein Student der Kulturwissenschaften in seiner ersten Hausarbeit. Er ist ein vergleichsweise harmlo-ses Beispiel für jene ungelenke und fehlerhafte Sprache, der Lehrende in studenti-schen Arbeiten häufig begegnen. Obwohl der Schreiber deutscher Muttersprachler ist, ist ihm nicht aufgefallen, dass der Satz inhaltlich keinen Sinn ergibt. Wie ist das möglich?

Möglicherweise ist der Schreiber beim Verfassen des Textes damit überlastet gewe-sen, die vielen verschiedenen Aktivitäten gleichzeitig auszuführen, die beim wissen-schaftlichen Schreiben nötig sind. Diese Schlussfolgerung liegt nahe, wenn man sich die Ergebnisse der Schreibprozessforschung anschaut: Die Anfänge der neue-ren Schreibprozessforschung liegen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Wäh-rend die Schreibforschung vorher vor allem den Text im Blick hatte, begann man sich nun stärker mit den Prozessen zu befassen, die während des Schreibens ablau-fen (Girgensohn & Sennewald, 2012, 11 ff.). John Hayes und Linda Flower begannen damit, Schreibprozesse aus psychologischer Sicht zu untersuchen und versuchten Erkenntnisse, die sie aus der Analyse von Protokollen lauten Denkens beim

Schrei-27 Aus einer studentischen Arbeit an der Europa-Universität Viadrina 2002. Internes Material.

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ben gewonnen hatten, modellhaft abzubilden. John Hayes entwickelte dieses erste Modell weiter und veröffentlichte 1996 ein Modell, das bis heute Grundlage vieler Veröffentlichungen und Untersuchungen ist (siehe Abb. 1).

Soziale Umgebung Adressat*innen

Mitwirkende

Physische Umgebung Bisher geschriebener Text

Schreibmedium Aufgabenumgebung

Das Individuum Motivation/Affekt

Ziele Dispositionen Überzeugungen und

Einstellungen

Kosten-Nutzen-Abwägung

Kognitive Prozesse

Textinterpretation

Reflexion

Textproduktion Arbeitsgedächtnis

Phonologisches Gedächtnis Räumlich-visueller

Notizblock Semantisches

Gedächtnis

Langzeitgedächtnis

Aufgabenschemata Themenwissen Adressatenwissen

Linguistisches Wissen Textsortenwissen

Abb. 1: Schreibprozessmodell John Hayes Quelle: Hayes (2014, 16)

Wie das Schreibprozessmodell veranschaulicht, wird jeder Schreibprozess beein-flusst von sehr vielen unterschiedlichen Faktoren. Hayes unterscheidet dabei zwi-schen Prozessen, die innerhalb der schreibenden Person ablaufen – unter der Haut sozusagen – und Prozessen, die mit der Aufgabenumgebung zu tun haben. Zur Auf-gabenumgebung gehören zum Beispiel die soziale Umgebung, der die AdressatIn-nen zuzurechAdressatIn-nen sind, sowie die physische Aufgabenumgebung, zu der etwa das Schreibmedium zu rechnen ist. Innerhalb der schreibenden Person beeinflussen Motivation, Affekt, Langzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis und alle ablaufenden ko-gnitiven Prozesse das Schreiben. So gehören zur Kategorie Affekt beispielsweise die Selbstwirksamkeitserwartungen der Schreibenden, die nach neueren Erkenntnissen für das Gelingen von Schreibprozessen sehr einflussreich sind (Pajares, 2003). Stu-dierende, die aus der Schule negative Erfahrungen mit dem Schreiben mitbringen, könnten es daher auch beim Schreiben im Studium schwer haben. Eine besondere Rolle spielt das Arbeitsgedächtnis, das u. a. alle nicht-automatisierten Prozesse über-wacht und ausführt. Wenn ungeübte Schreibende so komplexe Tätigkeiten ausfüh-ren wie einen wissenschaftlichen Text zu verfassen, kann es im Arbeitsgedächtnis leicht zu Blockierungen kommen, weil zu viele Teilprozesse gleichzeitig ausgeführt werden müssen.

Ähnlich sieht dies auch Robert de Beaugrande, der in seinem Modell veranschau-licht, welche Prozesse während des Schreibens in unseren Köpfen gleichzeitig ablau-fen. Eine besondere Schwierigkeit liegt insbesondere für SchreibnovizInnen darin, dass sie zugleich die Gesamtgestalt des Textes im Blick behalten müssen sowie wis-sen müswis-sen, was schon geschrieben wurde und worauf der Text hinauslaufen soll.

Dabei kommt es zu kognitiven Engpässen, die in de Beaugrandes Modell als fla-schenhalsartige Verengung gezeigt werden (siehe Abb. 2).

Dieses Modell und viele weitere Schreibprozessmodelle veranschaulichen die hohe Komplexität von Schreibprozessen – es ist daher nicht verwunderlich, dass Schrei-ben Studierenden Schwierigkeiten bereitet. Das Gegenteil ist der Fall: Es wäre eher erstaunlich, wenn Studierende keine Schwierigkeiten mit einer so komplexen Auf-gabe hätten wie der, einen eigenständigen wissenschaftlichen Text zu verfassen. Ga-briela Ruhmann, eine der Pionierinnen der Schreibdidaktik im deutschsprachigen Raum, hat dazu treffend formuliert: „Professionell wissenschaftlich zu schreiben deutet unserer Ansicht nach nicht, keinerlei Schwierigkeiten zu haben. Vielmehr steht die Könnerschaft darin, die beim Schreiben auftauchenden Schwierigkeiten be-wusst wahrzunehmen, anzunehmen und produktiv zu bearbeiten“ (Homepage des Schreibzentrums der Ruhr-Universität Bochum, zit. n. Girgensohn & Sennewald, 2012, 119).

Eine bewährte Strategie, die „Flaschenhalsproblematik“, also die Überlastung des Ar-beitsgedächtnisses, zu bewältigen, ist es, den Schreibprozess in kleinere Teilschritte unterteilen. Dafür müssten Studierende zum einen erkennen, welche einzelnen Teilschritte ein wissenschaftlicher Schreibprozess beinhaltet und zum anderen he-rausfinden, welche Teilschritte als nächstes sinnvollerweise anstehen. An deutschen

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Hochschulen wird Schreiben als Prozess jedoch nur selten thematisiert. Wenn es überhaupt Hinweise und Hilfestellungen zum wissenschaftlichen Schreiben gibt, dann sind diese in der Regel produktorientiert: Die Studierenden erfahren, wie das Endprodukt auszusehen hat, in welcher Weise zitiert werden muss und welche Schriftgröße sie wählen sollen. Zur Entwicklung von Schreibkompetenz ist über die-ses produktorientierte Wissen hinaus aber auch ein prozedurales Wissen von Bedeu-tung. Studierende wissen zum Beispiel meistens zunächst nicht, wie sie von einer Idee zu einer fertigen Hausarbeit kommen und wie sie sich dabei die Zeit so eintei-len, dass genügend Zeit für eine sorgfältige Endkorrektur bleibt. Aus Sicht vieler Lehrenden ist es nicht ihre Aufgabe, solches Wissen zu vermitteln. Sie sehen sich als Lehrende ihres Faches. Dies zeigen die erstaunten Kommentare deutscher Lehren-der, die von dem amerikanischen Schreiblehrer und -forscher David Foster dazu be-fragt werden sollten, wie sie Schreiben unterrichten:

„When I tried to explain my background as a US writing teacher, I usually drew blank looks and puzzlement at first. Why are you interested in writing? Our students are stu-dents of the subject, they said, not stustu-dents of writing – historians (sociologists, literary interpreters), not writers. You really want to ask how we teach our subjects, don’t you?

Because we don’t teach writing.“ (Foster, 2002, 192)

Ein weiterer, an der Hochschule selten thematisierter Aspekt ist das Erlernen der richtigen Sprache für das wissenschaftliche Schreiben. Daher tendieren Studierende häufig dazu, zunächst für sie auffällige sprachliche Besonderheiten wissenschaftli-cher Texte zu imitieren, was leicht zu ungelenk oder gar unfreiwillig komisch klin-genden Textpassagen führen kann. Der Erwerb der „alltäglichen

Wissenschaftsspra-Abb. 2: Parallele Prozesse (Modell) Quelle: de Beaugrande (1984, 129)

che“ (Ehlich, 1999) verläuft auch für deutsche MuttersprachlerInnen nicht linear und problemlos (Steinhoff, 2007).

Zusammenfassend gesagt, ist akademisches Schreiben so komplex, dass Schwierig-keiten damit normal sind. Solche SchwierigSchwierig-keiten gehen z. B. auf Überlastungen des Arbeitsgedächtnisses zurück, die auch dadurch auftreten, dass zu viele Teilaufgaben gleichzeitig bewältigt werden müssen. Hinzu kommen fehlendes Wissen über die Prozesshaftigkeit des wissenschaftlichen Schreibens und mangelnde Unterstützung beim Erwerb der „alltäglichen Wissenschaftssprache“.

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