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Regelung der Staatsbürgerschaft

3. ETHNOPOLITIK UND KULTURELLE STANDARDISIERUNG - ZUR FRAGE DER

3.3. TRADITION STATT INTEGRATION - DIE REGELUNG DER STAATSBÜRGERSCHAFT

3.3.1. Regelung der Staatsbürgerschaft

Neben dem Ausländergesetz, dem Gesetz über die kulturelle Autonomie nationaler Minoritäten und dem Sprachgesetz reguliert das Staatsbürgerschaftsgesetz die Beziehungen zwischen dem estnischen Staat und seinen Minderheiten. Die erste Auflage des Staatsbürgerschaftsgesetzes erfolgte im Februar 1992, das heute gültige trat am 1. April 1995 in Kraft.

Die Frage, wer in Estland ein Anrecht auf Staatsbürgerschaft haben sollte, wurde bereits Ende der 1980er Jahre, also schon vor Erlangung der Unabhängigkeit diskutiert. Zu diesem Zeitpunkt erschien nicht mehr nur ein größeres Maß an Autonomie gegenüber der Moskauer Zentralregierung, sondern aufgrund der zunehmenden ökonomischen Schwierigkeiten des Sowjetsystems27 auch die volle Souveränität des estnischen Staats möglich zu werden.28 Die

27 Dieser Aspekt ist für das Verständnis der heutigen politischen und sozialen Situation in Estland von grosser Bedeutung und wird in Kapitel 4 gesondert untersucht.

28 Noch im November 1988 verabschiedete der Oberste Sowjet Estlands die ‚Deklaration der Souveränität der Estnischen

Debatten um die Staatsbürgerschaftsfrage dauerten über ein Jahr und spalteten die estnische Volksfront:29 Während russische Aktivisten und auch einige estnische Liberale für die Option votierten, allen Einwohnern Estlands automatisch die Staatsbürgerschaft anzubieten, reichten die nationalistischen Positionen am anderen Ende des Spektrums von Naturalisierungsverfahren für Nicht-Esten bis zu prinzipiellem Ausschluss aller Nicht-Esten von der Staatsbürgerschaft. (Lauristin und Vihalemm 1997: 97)

Einen ersten Vorstoß zur Regelung dieser Frage unternahm der nationalistische Flügel der Unabhängigkeitsbewegung bereits im Januar 1989. Danach wurde die Bevölkerung aufgefordert, sich für die Estnische Staatsbürgerschaft registrieren zu lassen. Einen legalen Anspruch auf Staatsbürgerschaft sollten dabei allerdings nur diejenigen besitzen, die selbst oder deren Eltern bereits vor dem 16. Juni 194030 die estnische Staatsbürgerschaft besaßen.

Damit waren die ethnischen Esten sowie bereits die vor dem Zweiten Weltkrieg auf dem Staatsgebiet lebenden Minderheiten (beispielsweise die Gemeinschaft der altgläubigen Russen am Peipus-See) berechtigt, auch in einem neuen, souveränen estnischen Staat Staatsbürger zu werden. Die überwiegend erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingewanderte russische Bevölkerungsgruppe war hingegen von dieser Möglichkeit ausgeschlossen. Von den rund 450.000 Angehörigen der russischen Minderheit hatten deshalb nur ca. 75.000 ein entsprechend dieser Regelung legitimes Anrecht auf Staatsbürgerschaft. (Kirch 1997: 53) Personen ohne diesen Anspruch konnten sich jedoch für einen Antrag auf Staatsbürgerschaft registrieren lassen, um die spätere Einbürgerung zu beschleunigen. Einen Anspruch auf Staatsbürgerschaft konnten sie mit dieser Registrierung jedoch nicht erlangen. Vielmehr diente sie nur dazu, überhaupt die Chance auf eine spätere Erlangung der estnischen Staatsbürgerschaft aufrechtzuerhalten.

Obwohl es zu diesem Zeitpunkt keine verfassungsrechtliche Grundlage für diesen Aufruf gab, kam ihm eine große symbolische Wirkung zu. Eine große Mehrheit der Esten folgte der Aufforderung und ließ sich registrieren, um auf diese Weise ihre Unterstützung der

SSR‘ und nahm eine Reihe von Änderungen an der Verfassung der Republik vor. In der Deklaration wurde zwar nicht direkt die Unabhängigkeit der Republik thematisiert, dennoch wurde eine Reihe von Beschlüssen gefaßt, die die Trennung des estnischen Rechtssystems von dem der UdSSR vorsah (vgl. Hallik 1997:98). Wichtige Gesetze waren u.a. das Sprachengesetz (18. Januar 1989), die Resolution zur Vorbereitung der nationalen Unabhängigkeit (23. Februar 1989), das Eigentumgesetz (13. Juni 1989) und das Einwanderungsgesetz (20. Juni 1990).

29 Die estnische Volksfront (Rahvarinne) hatte sich 1988 als unabhängige Massenbewegung und Dachorganisationfür für verschiedene politische Gruppierungen gegründet. Zu diesem Zeitpunkt sah sie sich noch nicht in Opposition zur KP Estlands, deren liberaler Flügel sich der Volksfront anschloss (Butenschön 1992: 44).

30 Der Tag des sowjetischen Ultimatums, dem die Annexion folgte. Stalins Ultimatum forderte die Einsetzung einer pro-Moskau orientierten Regierung und die Verstärkung sowjetischer Truppen auf estnischem Territorium. (Estonia Reference Book 1993)

Unabhängigkeitsbewegung auszudrücken. Diese große Resonanz machte aus dem rein symbolischen politischen Akt eine quasi rechtlich bindende Regelung für die Politik der Vertreter estnischer Interessen. Hierin ist wohl auch das wesentliche Motiv dafür zu sehen, warum sich auch die große Mehrheit der nach 1940 nach Estland eingewanderten Russen für eine mögliche spätere Einbürgerung registrieren ließ.

Den Empfehlungen der Konstitutiven Versammlung31 folgend, verabschiedete die souveräne Republik Estland am 26. Februar 1992 das Staatsbürgerschaftsgesetz, das wesentlich auf dem Staatsbürgerschaftsgesetz von 1938 basierte. Die wichtigsten Charakteristika dieser Regelung waren das ius sanguinis und die Vermeidung der doppelten Staatsbürgerschaft. Da es keinerlei Regelung nach dem Geburtsort (ius soli) oder dem Wohnsitz (ius domicilii) gab, waren alle Russen und andere Nicht-Esten automatisch und kollektiv von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen. Wollten sie vollberechtigte Bürger des estnischen Staates werden, so ging dies nur, wenn sie im Nachhinein in einem individuellen Naturalisierungsprozess die estnische Staatsbürgerschaft erwarben.

Im Endeffekt hatte sich damit das Interesse der Nationalisten an einem Ausschluss der russischen Minderheit von der Staatsbürgerschaft durchgesetzt, ohne dass das -verfassungsrechtlich ohnehin kaum zu legitimierende - Registrierungsverfahren zur Regelung der Staatsbürgerschaft herangezogen wurde. Auch das zweite Ziel der Nationalisten war erreicht: Nun hatte der neue estnische Staat die Möglichkeit, die zum Teil schon seit Jahrzehnten auf dem Staatsgebiet lebenden Einwohner anderer ethnischer Zugehörigkeit, die im sowjetischen Staat die gleichen Rechte wie die estnischen Einwohner besaßen, individuell zu beurteilen und danach über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zum Staat zu entscheiden.

Die Angehörigen anderer ethnischer Gruppen hatten, wenn sie einen estnischen Pass beantragten, hohe Anforderungen zu erfüllen. So mussten sie mindestens zwei Jahre vor der Antragstellung und ein Jahr danach ihren permanenten Wohnsitz in Estland haben und Estnischkenntnisse nachweisen (Artikel 6 des Staatsbürgerschaftsgesetzes). Dabei wurden nur Wohnsitze ab dem 30. März 1990 anerkannt, vor diesem Zeitpunkt liegende Perioden generell nicht berücksichtigt. Die Staatsbürgerschaft konnte somit frühestens am 30. März 1993

31 Die Konstitutive Versammlung Estlands hatte sich frühzeitig für die Einsetzung einer neuen Verfassung entschieden, mit deren Ausarbeitung eine verfassungsgebende Versammlung seit Herbst 1991 befasst war. (Bollow 1998:94)

erworben werden.

Der Grund für diese Fristsetzung lag vordergründig in dem Gesetz selbst, das Antragstellungen erst mit seinem Inkrafttreten ab April 1992 zuließ. Die verlangte Residenzpflicht vor Antragstellung bezog sich damit auf den Zeitraum zwischen Ende März 1990 und April 1992. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Angehörigen anderer Ethnien seit langer Zeit und teilweise schon in zweiter und dritter Generation in Estland lebten, erscheint eine solche Fristenregelung aber als wenig plausibel. Betrachtet man diese Fristen jedoch im Zusammenhang mit einem anderen wichtigen politischen Ereignis in diesem Zeitraum, so drängt sich der Verdacht auf, dass diese Regelung vielmehr einen ganz anderen Zweck verfolgte oder zumindest als erwünschten Nebeneffekt erwartete: Mangels Staatsbürgerschaft konnte die russische Minderheit weder aktiv noch passiv an den Parlamentswahlen vom 20. September 1992 teilnehmen und war somit von politischer Partizipation ausgeschlossen. Für diese Interpretation spricht, dass die damalige provisorische estnische Regierung zu diesem Zeitpunkt sehr große Bedenken hinsichtlich des Wahlverhaltens der Angehörigen der russischen Minderheit hegte. Es wurde befürchtet, dass die Russen in Estland für eine moskautreue Politik votieren würden.

In diesem Zusammenhang sind zwei Punkte hervorzuheben, um die Tragweite dieses Sachverhalts zu verdeutlichen: Erstens die Bedeutung der Wahlen selbst, zweitens die Dimension, die dieser Ausschluss hatte. Bei dieser Wahl handelte es sich um die erste Parlamentswahl im neugegründeten Staat. Ihr Ausgang legte fest, welche Richtung der Transformationskurs Estlands nehmen würde, und es konnte erwartet werden, dass ein großer Teil der in dieser Legislaturperiode getroffenen Entscheidungen für nachfolgende Regierungen irreversibel war. Sowohl unter dem Gesichtspunkt demokratischer Legitimation als auch im Hinblick auf die Wahrung von Minderheiteninteressen lässt sich für diese Situation als dringendes Erfordernis postulieren, dass möglichst alle, die in Zukunft von diesen Entscheidungen betroffen sein werden, auch an diesem Abstimmungsprozess zu beteiligen sind. Stattdessen - dies ist der zweite Punkt - wurde eine Regelung verfolgt, in deren Konsequenz ein Drittel der gesamten Bevölkerung des Landes von diesem Abstimmungsprozess ausgeschlossen wurde.

Die Diskussionen um die Staatsbürgerschaft waren mit dem Staatsbürgerschaftsgesetz von 1992 keineswegs beendet. Vielmehr hielten die politischen Auseinandersetzungen um die

Kriterien der Vergabe von Staatsbürgerschaft und Aufenthaltsrecht auch in den nachfolgenden Jahren an. Streitpunkt waren dabei vor allem jene Angehörigen der russischen Minderheit, die nicht die estnische Staatsbürgerschaft erlangten, aber auch nicht die russische Staatsbürgerschaft annehmen wollten und somit staatenlos waren. Diese Gruppe umfasste 1992 oder 1993 immerhin ca. 250.000 Personen (EHDR 1999: Kap.2). Die für diese Fragen zuständige Staatsbürgerschafts- und Migrationsbehörde arbeitete deshalb bereits 1993 eine entsprechende Gesetzesvorlage aus. In diesem Entwurf des Ausländergesetzes sollte Personen mit nicht bestimmter Staatsbürgerschaft ein ‚Ausländerpass‘ und damit gleichzeitig eine Aufenthaltsgenehmigung ausgestellt werden. Mitglieder der damaligen Regierung lehnten diesen Entwurf ab. Stattdessen favorisierten v. a. Mitarbeiter des Außenministeriums einen Entwurf, in dem alle Nicht-Staatsbürger unilateral zu russischen Staatsbürgern erklärt wurden.

Andres Kollist, langjähriger Direktor der mit dem Gesetz befassten Behörde und erst kürzlich aus diesem Amt entlassen, entdeckte in den Interessen der damaligen estnischen Regierung nur ein Ziel: „The aim was to make life hell for Russians“. (Legal Information Centre for Human Rights 2000)

Auf internationalen Druck durch die OSZE, die maßgeblich das Veto des estnischen Präsidenten in dieser Frage beeinflusste, musste dieses Vorhaben letztlich fallen gelassen werden. Unter der in den Märzwahlen 1995 nachfolgenden Regierung von Ministerpräsident Vähi wurden schließlich doch, wie in dem ursprünglichen Gesetzentwurf der Migrations- und Staatsbürgerbehörde vorgesehen, in größerem Umfang ‚graue‘ Pässe ausgegeben. Doch wurden auch hier gleichzeitig wieder Barrieren aufgebaut: Beantragung und Ausgabe wurden durch erheblichen bürokratischen Aufwand erschwert und der Kreis der Antragsberechtigten zudem noch sehr eingeschränkt. (Legal Information Centre for Human Rights 2000, Report der Commission on Security and Cooperation in Europe 1995) Das geänderte Ausländergesetz sah lediglich Ausländerpässe für diejenigen vor, die anderweitig keinen Pass erhalten konnten. Damit grenzte es die Empfängergruppe praktisch auf Flüchtlinge ein, denen der Pass aus ihrem Heimatland verweigert wird. Die Gruppe der ehemaligen Sowjetbürger in Estland, denen die russische Regierung jederzeit einen russischen Pass ausstellen würde, war damit gänzlich von der Möglichkeit ausgeschlossen, einen estnischen Ausländerpass zu erhalten.

Am 31. Januar 1995 wurden die seit 1992 verfügten Änderungen zusammengefaßt und ergänzt in einem neuen Staatsbürgerschaftsgesetz verabschiedet. (vgl. Thiele 1999: 15;

Hanne/Onken/Götz 1998: 311) Das Gesetz trat am 1. April 1995 in Kraft und markiert den vorläufigen Abschluss der Regelungen zur Staatsbürgerschaft. In Artikel 6 dieses Gesetzes werden die Bedingungen des Naturalisierungsprozesses geregelt. Um nachträglich die estnische Staatsbürgerschaft zu erhalten, sind eine Vielzahl von Voraussetzungen zu erfüllen:

a) Alter von mindestens 15 Jahren

b) Wohnsitz in Estland, mindestens 5 Jahre vor der schriftlichen Einreichung des Einbürgerungsantrages und mindestens 1 Jahr nach der Annahme des schriftlichen Antrages (”fünf plus eins”). Dies bedeutet eine Verschärfung gegenüber der bis dahin gültigen ”zwei plus eins”-Regelung im Staatsbürgeschaftsgesetz von 1992.

c) Kenntnis der Verfassung und des Staatsbürgerschaftsgesetzes. Während des Testes hat der Bewerber zwanzig Fragen zur Verfassung und der Gesetzgebung zu beantworten, von denen 16 richtig beantwortet werden müssen.

d) Kenntnisse der Amtssprache. Der Test besteht aus vier Teilen: Schriftlich (zwei Fragen); Hören (zwölf Übungen, von denen mindestens sieben richtig beantwortet werden müssen); Lesen (sechzehn Übungen, von denen mindestens neun richtig beantwortet werden müssen) und Konversation. Diese Anforderungen entsprechen der Kategorie E der Eingangsregelungen des Staatsbürgeschaftsgesetzes vom 14. Juli 1989, in dem die Sprachbeherrschung nach Schwierigkeitsgrad in sechs Kategorien von A bis F unterteilt ist.32 Inwieweit die Sprachanforderungen hier im Vergleich zum alten Gesetz verschärft worden sind, ist unklar – es werden allerdings zusätzliche Kenntnisse über die unter d) aufgeführten in der Verfassung festgeschriebenen Rechte und das Staatsbürgerschaftsgesetz gefordert, über die auf Estnisch Fragen beantwortet werden müssen. Viel hängt schließlich von der Praxis der Sprachprüfungen und den Auslegungen der Prüfer ab. (Report der CSCE 1995: 9)

e) Ökonomische Voraussetzungen, vor allem ein geregeltes Einkommen.

f) Loyalitätsbekenntnis zum estnischen Staat.

g) Loyalitätsschwur auf die estnische Verfassung.

Darüber hinaus sieht das Staatsbürgerschaftsgesetz für eine Reihe von Personen gesonderte Einbürgerungsbedingungen vor: „Naturalizations on the basis of this law could be defined as the selective inclusion of certain groups into the citizen body, on the presumption that they have a stronger genuine link with Estonia.“ (EHDR 1999: Kap.2.3) Je nachdem, welcher Art

32 Kategorie A-C korrespondieren mit Grundkenntnissen, Kategorie D mit einem mittleren und Kategorie E und F mit sehr guten Sprachkenntnissen.

diese 'genuinen Beziehungen' waren, differierte das Einbürgerungstempo auch für unterschiedliche Gruppen der Bevölkerung sehr stark. Die 'genuinen Beziehungen' zu Estland wurden folgendermaßen klassifiziert:

• Estnische Abstammung: Von 1992-1995 erhielten 25.000 in Russland oder anderswo im Osten geborene Esten die Staatsbürgerschaft. 1992 machten sie 3/4 der Gesamtzahl verliehener Staatsbürgerschaften aus, 1993/1994 noch 40%, 1996-98 wurden mindestens weitere 2500 Esten eingebürgert.

• Erklärte oder belegte Loyalität: Bis 1996 wurden die registrierten Unterstützer des 'Estnischen Kongresses'33 eingebürgert. Auf diese Weise wurden 23.000 Personen integriert. Von 1992-1993 wurden 606 Personen für besondere Verdienste eingebürgert. Diese Möglichkeit der Einbürgerung wurde 1993 erst auf fünf, dann auf zehn Personen per annum eingegrenzt.

• Humanitäre Erwägungen: Hiervon profitieren besonders Kinder. 1996 dominierten die unter 15 Jahre alten Kinder unter den Eingebürgerten, da diese nach dem Gesetz von 1995 auf Beantragung der Eltern hin ein Recht auf Staatsbürgerschaft haben, wenn die Eltern bereits naturalisiert sind oder die Staatsbürgerschaft zusammen mit ihren Kindern beantragen. Diese Gruppe machte 1996 nur rund 10% der Einbürgerungen aus, 1997 aber schon 69%. Seitdem geht der Anteil zurück: 1999 lag er bei 52 %. Seit 1999 ist es auch für nach 1991 geborene Kinder staatenloser Eltern möglich, als estnische Staatsbürger anerkannt zu werden. Diese Gruppe ist allerdings sehr klein und richtet sich eher an die noch Ungeborenen. Nach einer soziologischen Studie von 1996 wünschen sich 84% der Staatenlosen für ihre Kinder die estnische Staatsbürgerschaft, auch 60% der russischen Bürger Estlands. (Saar Poll 1997)

Neben dem Staatsbürgerschaftsgesetz regelt das Gesetz über Kulturelle Autonomie für nationale Minoritäten vom 11. November 1993 den Status bestimmter Einwohnergruppen in Estland. Generell hat ein Staat, auf dessen Territorium Angehörige anderer Nationalität oder Kultur leben, die Möglichkeit, die Andersartigkeit dieser Gruppe grundsätzlich anzuerkennen,

33 Der Estnische Kongress war im Umbruch 1990 gleichsam als Gegenparlament zum Obersten Sowjet gegründet worden.

Seine Aufgabe sah er in der Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung. Obwohl ihm jede verfassungsmäßige Legitimation fehlte, fand er dennoch großen Zuspruch. Im Estnischen Kongress waren auch russische Liberale aktiv (Bollow 1998. 93).

gleichzeitig aber diese Gruppe mit vollen Bürgerrechten in den Staat zu inkorporieren, wie etwa in Deutschland die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein oder die Sorben in der Lausitz anerkannt sind. Grundsätzlich stand der estnischen Regierung damit auch die Möglichkeit offen, einen solchen Mittelweg zwischen Abgrenzung und Integration zu gehen und die russische Bevölkerung als eine solche Minderheit anzuerkennen.

Nach Artikel 1 des Gesetzes sind Angehörige einer Minorität Bürger Estlands, die in Estland ihren Wohnsitz haben und lange währende, feste Verbindungen zu Estland haben, sich ethnisch, kulturell, religiös oder sprachlich deutlich von den estnischen Einwohnern unterscheiden und ihren Willen zeigen, die eigene Kultur, Religion, Traditionen oder Sprache zu erhalten. Die Minoritäten werden dabei offiziell in zwei Gruppen geteilt: Die ”historischen Minoritäten”, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg in Estland lebten (ca. 38.200 Menschen) und die später während der sowjetischen Besatzungszeit Zugewanderten. Die potentiellen Gruppen sind in Artikel 2.2 aufgelistet. Diese sind Deutsche, Schweden, Russen, Juden und jede andere nationale Minorität, die mindestens 3000 Angehörige im Lande hat.34 Die historische Minoritäten werden gesondert anerkannt. Darüber hinaus sieht das Gesetz das Vorliegen der Staatsbürgerschaft als Voraussetzung zur Anerkennung als Mitglied einer nationalen Minderheit an.

Obwohl ein großer Teil der Russen die vom Gesetz verlangten inhaltlichen Voraussetzungen zur Anerkennung als Minderheit erfüllt haben dürften (vgl. Abschnitt 3.3 – enttäuschte Hoffnungen), kann ein großer Teil der russischen Minderheit aufgrund der Erfordernis des Vorliegens der Staatsbürgerschaft dieses Gesetz nicht in Anspruch nehmen. Die grundsätzliche Anerkennung der Russen als nationale Minderheit wird somit durch das Staatsbürgerschaftsgesetz konterkariert.

3.3.2. Die Auswirkungen der Staatsbürgerschaftspolitik auf die Integration der