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Der Einfluss regionaler Disparitäten auf die Betroffenheit von Esten und Nicht-Esten

3. ETHNOPOLITIK UND KULTURELLE STANDARDISIERUNG - ZUR FRAGE DER

3.5. T RANSFORMATIONSFOLGEN UND DISKRIMINIERUNG : D IE ÖKONOMISCHE SITUATION DER

3.5.3. Die sozialen Folgen des estnischen Transformationsprozesses

3.5.3.4. Der Einfluss regionaler Disparitäten auf die Betroffenheit von Esten und Nicht-Esten

Abschließend soll in diesem Kapitel das von Kirch und Kirch gegen die Behauptung einer ökonomischen Benachteiligung der russischen Minderheit in Estland vorgebrachte Argument überprüft werden, dass die Schlechterstellung der Minderheit ausschließlich auf regionale Faktoren zurückzuführen sei. Für dieses Argument spricht, dass regionale Disparitäten in Estland eine große Rolle spielen. So ist die Bevölkerungskonzentration in der Hauptstadt Tallinn, wo allein ein Drittel der Gesamtbevölkerung des Landes lebt, und im Nordosten relativ hoch, während der Süden (mit Ausnahme der Stadt Tartu) und Westen des Landes eher dünn besiedelt sind. Mitte der 1990er Jahre kamen in Estland im Durchschnitt 33 Einwohner auf einen Quadratkilometer, wobei die beiden flächenmäßig größten Regionen lediglich Dichten um 16 Einwohner pro Quadratkilometer aufwiesen. (Eurostat 2000)

Wesentliche Ursache dieser unterschiedlichen Siedlungsstrukturen ist die ungleiche Wirtschaftsstruktur der einzelnen Regionen. Die Land- und Forstwirtschaft spielt besonders in Zentral-, daneben auch in West-Estland eine große Rolle, wo 1998 immer noch rund 25%

beziehungsweise 20% der Beschäftigten in diesem Bereich tätig waren. (Eurostat 2000)71 Die Industriezentren des Landes befinden sich im Nordosten des Landes, wo aufgrund des natürlichen Vorkommens der wichtigsten Energieressourcen (Ölschiefer und Uran) zu Sowjetzeiten mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen in den entsprechenden Industrien tätig waren, und in der Hauptstadt Tallin, die mit ihrem Seehafen und den relativ gut ausgebauten Landverbindungen nach Sankt Petersburg und in andere Nachbarländer eine wichtige Funktion im Handel der UdSSR spielte. Darüber hinaus war Estland, wie auch die anderen baltischen Staaten, in der Sowjetunion aufgrund der geographischen Lage von großer militärisch-strategischer Bedeutung. Aus diesem Grund hat die Moskauer Zentralregierung systematisch Militäranlagen und entsprechende Rüstungsindustrien in der Region aufgebaut, die direkt der Führung in Moskau und nicht der Staats und Wirtschaftsführung in Estland

71 Die hier referierten Beschäftigtenzahlen gehen auf die von Eurostat (2000) verwendete Arbeitskräfteerhebung („AKE“) des Statistical Office of Estonia (SOE) zurück. Obwohl es sich dabei um die Daten des auch von der Verfasserin für die Darstellung verwendeten „Estonian Labor Force Survey“ (ELFS) handeln dürfte, weichen die Eurostat-Angaben von den eigenen Berechnungen in den vorhergehenden Abschnitten dieses Kapitels teilweise deutlich ab. Ursache hierfür sind unterschiedlich geschnittene Altersabgrenzungen: Die Eurostat-Angaben beziehen sich auf Personen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren, wie es in westlichen Arbeitsmarktstatistiken üblich ist. Die von der Verfasserin verwendeten Daten beziehen sich hingegen auf Personen im Alter zwischen 15 und 69 Jahren (für den Zeitraum 1989 bis 1996) beziehungsweise 15 bis 74 Jahre (für die ELFSs 1997 bis 2001). Dies geht zum einen darauf zurück, dass der Zeitraum 1989 bis 1996 im ersten ELFS 1996 retrospektiv erfasst wurde und erst danach die Surveys in jährlichem Abstand durchgeführt wurden, wobei die vom SOE veröffentlichten und der Verfasserin zugänglichen Daten nur diese unterschiedlichen Altersbegrenzungen zuließen.

Zum anderen aber kommt diese weiter gefasste Definition der Erwerbspersonen den tatsächlichen Verhältnissen in Transformationsländern näher, wo auch heute noch viele Personen im Alter von 65 und mehr Jahren keinerlei Rente beziehen und zur Ausübung einer Erwerbsarbeit gezwungen sind, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.

unterstanden. Der Dienstleistungssektor, der am Ende der Sowjetzeit nur rund zwei Fünftel aller Beschäftigten umfasste, ist in Estland inzwischen der dominante Sektor für die Beschäftigung. Er hat sich, ähnlich wie in anderen Transformationsländern, vor allem in den größeren Städten (Tallinn, Tartu, Pärnu) entwickelt, darüber hinaus in der Hauptstadtregion (Põhja-Eesti) und in Südestland (Lõuna-Eesti). Getragen wird die Dienstleistungsexpansion zum einen vom Handel, was die Entwicklung in und um Tallinn erklärt, und durch den Tourismus, der die Entwicklung im Süden und in Pärnu vorangetrieben hat. (Eurostat 2000) Diese Disparitäten bedeuteten für die einzelnen Regionen des Landes sehr unterschiedliche Startbedingungen und Erfolgschancen im Prozess der Transformation von staatssozialistischen zu marktwirtschaftlichen Wirtschaftsstrukturen. In den dünn besiedelten und durch die Land- und Forstwirtschaft geprägten Regionen entstanden im Systemwandel große Probleme, weil Estland innerhalb der Sowjetunion als eine Republik mit sehr günstigen Standortbedingungen für diesen Sektor galt, das Land im heutigen internationalen Markt hingegen schon aufgrund klimatischer Bedingungen nur schwer mit den Erzeugern in anderen Ländern konkurrieren kann. Hat das Land früher selbst landwirtschaftliche Güter exportiert, so ist die Produktion heute schon sehr stark unter den Druck von Importen geraten. (Eurostat 2000) Der Industriesektor gilt im Vergleich zu den Strukturen westlicher Volkswirtschaften als veraltet und ist im Grunde auf den Weltmärkten heute nicht konkurrenzfähig. Eine sehr schnelle Reaktion auf die geänderten wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen war die Schließung der sowjetischen Militärstützpunkte und der direkt der Zentralregierung in Moskau unterstellten Rüstungskombinate. Demgegenüber positiver stellt sich hingegen die Entwicklung im Energiesektor dar. Der Ölschiefer stellt in Estland auch weiterhin die wichtigste Energieressource dar. Im Nordosten des Landes hängt weiterhin fast jeder zweite Arbeitsplatz von dieser Branche ab. Es ist daher sowohl aus energie- wie arbeitsmarktpolitischen Gründen unwahrscheinlich, dass es in diesem Bereich in absehbarer Zeit zu Betriebsschließungen mit Massenentlassungen kommen wird. (Eurostat 2000) Darüber hinaus besteht das Problem, dass die ländlichen, für den Tourismus weniger attraktiven Regionen sowie der durch Schwerindustrie geprägte Nordosten des Landes bisher nicht oder in zu geringem Ausmaß vom Strukturwandel zu einer Dienstleistungsgesellschaft profitieren können. (Eurostat 2000)

Im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit ist von besonderer Relevanz, dass die regionalen Unterschiede in der Wirtschaftsstruktur Estlands sich mit Siedlungsstrukturen der

beiden Hauptethnien überdecken. Der Aufbau der bereits erwähnten Militärkomplexe und Rüstungsindustrien unter der Sowjetherrschaft konnte mit dem Angebot an heimischen Arbeitskräften in Estland allein nicht bewerkstelligt werden und ging deshalb einher mit einer systematischen Ansiedlung von Arbeitskräften aus anderen Sowjetrepubliken. In der Regel handelte es sich dabei um Russen. Erwünschter Nebeneffekt dieser Politik war, damit den Anteil einer der Zentralregierung in Moskau gegenüber als loyal geltenden Gruppe innerhalb der estnischen Bevölkerung zu erhöhen. Die Folge dieser Strategie war, dass Ende der 1980er Jahre im Nordosten des Landes mehr als 90% der Bevölkerung zur russischen Minderheit zählten. Einen nennenswerten Anteil an der Bevölkerung hatte die erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingewanderte russische Bevölkerungsgruppe daneben in der Hauptstadt Tallinn, wo sie etwa die Hälfte der Einwohner stellte. Nach Ergebnissen des New Baltic Barometer (Rose 1997: 26) zählte die russische Minderheit in Estland daher im Gegensatz zur Titularethnie zu den am meisten industrialisierten und urbanisierten Gruppen innerhalb der Bevölkerung des Landes. In der Transformation der estnischen Volkswirtschaft hatte dies zur Folge, dass durch die Schließung der Militäranlagen und der Moskau unterstellten Rüstungsbetriebe sowie durch die Umstrukturierung auch in anderen Industriebereichen vor allem Angehörige der russischen Bevölkerungsgruppe betroffen waren: Allein die Schließung der ehemaligen sowjetischen Militäranlagen zwischen 1989 und 1995 verursachte laut Pavelson (1997 - nach Vihalemm/Lauristin 1997) einen Verlust von 36% aller industriellen Arbeitsplätze in der Gruppe der russischen Minderheit, während im selben Zeitraum nur 18%

der industriellen Arbeitsplätze der estnischen Bevölkerungsgruppe verloren gingen.

Fasst man diese Ausführungen mit Blick auf die von Kirch und Kirch behauptete bloße Abhängigkeit der ökonomischen Lage der Minderheit von den Bedingungen ihres Siedlungsgebiets zusammen, so sind große Zweifel an diesem Argument angebracht. Die regionalen Besonderheiten spielen sicher eine wichtige Rolle in der Erklärung der unterschiedlichen Betroffenheit von Esten und Angehörigen der russischen Minderheit von den sozialen Folgeerscheinungen des Systemwandels. Trotz der rapiden Arbeitsplatzverluste in den traditionellen Bereichen dominierten Nicht-Esten Mitte der 1990er Jahre (und vermutlich auch noch gegenwärtig) in den traditionellen Bereichen des primären und des sekundären Sektors: Im Bergbau stellten sie zwei Drittel der Beschäftigten, in der Fischwirtschaft etwa die Hälfte. Auch im Bereich der Energieerzeugung sowie im Transport-und Nachrichtenwesen stellten sie etwa die Hälfte, im verarbeitenden Gewerbe 44% der Beschäftigten.In den sich neu entwickelnden Sektoren wie der Bauwirtschaft, dem Groß- und

Einzelhandel, dem Vermietungs- und Immobilienwesen, den unternehmensbezogenen Dienstleistungen, wie auch im öffentlichen Sektor sind Nicht-Esten nach wie vor unterrepräsentiert, d. h. dass die Titularbevölkerung wesentlich stärker vom Strukturwandel der Wirtschaft in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft profitiert als die Nicht-Esten .(Pavelson 1997 - nach Vihalemm/Lauristin 1997)

Doch wie gezeigt werden konnte, vollzieht sich der von Kirch und Kirch als so maßgeblich für die Beschäftigung- und Einkommenschancen angesehene sektorale Strukturwandel erstens ohne nennenswerte Beschäftigungszuwächse: Abgebauten Arbeitsplätzen in der Industrie oder der Landwirtschaft steht also gar kein ausreichendes Angebot an neuen Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor gegenüber, und dies gilt für Esten wie für Nicht-Esten.

Zweitens vollzieht sich dieser Strukturwandel fast ausschließlich in der Hauptstadt Tallinn und den touristisch attraktiven Regionen. Das heißt, das nicht nur der von der Minderheit besiedelte Nordosten, sondern auch große Teile des Südens und Ostens des Landes, in denen Esten dominieren, von dieser Entwicklung nicht erfasst werden.

Drittens schließlich berücksichtigt das Argument von Kirch und Kirch nicht, dass die russische Minderheit nicht nur im Nordosten des Landes siedelt, sondern immerhin die Hälfte der Einwohner der Hauptstadt Tallinn ausmacht, jener Region, die im Vergleich mit anderen Regionen geradezu als Boom-Region erscheint und in der sich der sektorale Wandel der Wirtschaft schneller und umfassender vollzieht als sonst irgendwo im Land. Wären es also nur regionale Aspekte des Nordostens, die die stärkere Betroffenheit der Nicht-Esten von Arbeitslosigkeit und geringem Einkommen begründeten, so müssten die Angehörigen der Minderheit in und um Tallinn genauso vom dortigen Aufschwung profitieren wie die Esten.

Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Nach Marksoo/Luuk (1999) betrug die Arbeitslosenquote der Esten in Tallinn 1997 nur 4,6%, während die der Nicht-Esten bei 13,9% lag.

Viertens konnte gezeigt werden, dass die Schließung von Grossbetrieben und Massenentlassungen im Nordosten ein Phänomen der Transformationsphase war, während in der Konsolidierungsphase offensichtlich die Existenz der Unternehmen in der Region aufgrund ihrer strategischen Bedeutung für die Gesamtwirtschaft gesichert und weitere Entlassungen vermieden werden sollten.

3.5.4. Zusammenfassende Beurteilung der Transformation der estnischen Volkswirtschaft und ihrer sozialen Folgen

Betrachtet man den Transformationsprozess der estnischen Volkswirtschaft und die Konsolidierungsphase der neu etablierten Marktwirtschaft sowie die sozialen Folgen dieser beiden Prozesse genauer, so stellt sich die Entwicklung in Estland also keineswegs so erfolgreich dar, wie es in der Öffentlichkeit vor dem Hintergrund des so überzeugend erreichten Ziels des EU-Beitritts dargestellt wurde. Zwar hat das Land im Vergleich zu den anderen ost- und mitteleuropäischen Transformationsländern seinen Strukturwandel sehr schnell vorangetrieben. Die nicht zu vernachlässigenden Erfolge der Transformationsphase, insbesondere der schnelle Wandel der Eigentumsstrukturen und die erfolgreiche Einbindung des Landes in neue Handelsbeziehungen, der rasche Aufbau demokratischer und marktwirtschaftlicher Institutionen, vor allem aber die in dieser Phase etablierten Grundlagen für die Erfüllung der EU-Beitrittsbedingungen, wurden zunächst in der an die Transformationsphase anschließenden konjunkturellen Hochphase mit steigendem Wirtschaftswachstum und einer scheinbaren Trendwende am Arbeitsmarkt belohnt. Doch hielt diese positive Konjunkturphase nicht lange an, und in der anschließenden konjunkturellen Abschwungphase zeigte sich, dass trotz aller Transformationserfolge der Strukturwandel offensichtlich auch in Estland nicht weit genug vorangeschritten war, um eine sich selbst tragende positive Wachstums- und Beschäftigungsdynamik zu initiieren.

Gegenwärtig läuft Estland eher Gefahr, dass die in der konjunkturellen Hochphase 1995 bis 1997 erreichten Fortschritte wieder zunichte gemacht werden, als die für alle ehemaligen staatssozialistischen Länder typischen Probleme der Transformation zur Marktwirtschaft endgültig zu überwinden. Hierauf deutet vor allem die sektorale Entwicklung der estnischen Volkswirtschaft hin. Der Strukturwandel in Estland erscheint eher als statistischer Artefakt denn als beschäftigungswirksame Modernisierung der Volkswirtschaft. Der sich verschärfende Beschäftigungsrückgang im Dienstleistungssektor gegenüber der Verlangsamung des Beschäftigungsabbaus in der Industrie weist darauf hin, dass gegenwärtig und in naher Zukunft eine positive - aber wohl bestenfalls beschäftigungssichernde und nicht beschäftigungssteigernde - Wirkung eher von den traditionellen Bereichen der estnischen Volkswirtschaft ausgehen wird. Zwar lassen die verfügbaren Daten kein Urteil darüber zu, inwieweit die Verlangsamung des Beschäftigungsabbaus im sekundären Sektor auf neue unternehmerische Aktivitäten zurückzuführen ist. Laut Eamets (1998) finden Unternehmensgründungen, die neue Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen, fast ausschließlich in der Landwirtschaft und im tertiären Sektor und in Form von

Kleingewerbebetrieben statt. Dies spricht gegen einen Modernisierungsschub im industriellen Sektor Estlands als Ursache der Verlangsamung des Arbeitskräfteabbaus. Festzuhalten bleibt aber, dass sich keiner der drei Wirtschaftssektoren als „Job-Maschine“ präsentiert.

Auch wenn die sozialen Folgeerscheinungen des Transformationsprozesses in Estland nicht so stark in Erscheinung traten wie in anderen Transformationsländern, insbesondere den baltischen Nachbarländern Lettland und Litauen, zeigten sie sich auch hier bereits vor Beginn der Systemtransformation und wuchsen mit Ausnahme des zwischenzeitlichen Konjunkturhochs kontinuierlich an. Arbeitslosigkeit, insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit, nimmt gegenwärtig in Folge des konjunkturellen Abschwungs unabweisbar weiter zu und hat ein Ausmaß erreicht, das Mitte der 1990er Jahre wohl kein estnischer Politiker oder Wirtschaftsexperte ernsthaft für die zukünftige Entwicklung des Landes in sein Kalkül gezogen hätte. Bedenklich ist, dass der estnische Staat seine in der Transformationsphase entwickelte Strategie der sozialpolitischen Passivität weiter beibehält, obwohl die Transformationsphase allgemein als überwunden gilt und die Entwicklung von Marktwirtschaft und Demokratie kein Motiv mehr für eine solch starke Zurückhaltung des Staates liefern. Wesentliche Ursache für die fortgesetzte staatliche Passivität dürfte der angesichts des negativen Wirtschaftswachstums geringe finanzielle Spielraum für staatliche Aktivitäten sein. Darüber hinaus muss aber auch in Rechnung gestellt werden, dass das prioritäre Ziel der estnischen Regierung nach wie vor der Beitritt zur EU ist und der Blick auf andere politische Handlungsnotwendigkeiten erst frei werden wird, wenn dieses Ziel endgültig erreicht ist.

Auch wenn regionale Besonderheiten eine nicht zu vernachlässigende Rolle für die besondere Betroffenheit der Nicht-Esten von den sozialen Folgeerscheinungen des Systemwandels des Landes spielen, führen die hier präsentierten Ergebnisse zu dem Schluss, dass die russische Minderheit in Estland in diesem Strukturwandel deutlich gegenüber den Esten diskriminiert ist. Regionale Faktoren können nicht erklären, warum die Arbeitslosenquote der Minderheit so viel höher ist als die der Esten. Sie können auch nicht erklären, warum die Verdrängung der Nicht-Esten aus der Erwerbstätigkeit, die bemerkenswerterweise häufig zu einem vollständigen Rückzug vom Arbeitsmarkt und einer Nicht-Inanspruchnahme staatlicher Leistungen führt, auch in der Konsolidierungsphase weiterhin stärker ausgeprägt ist als bei Esten. Ein mit regionalen Disparitäten operierendes Argument vernachlässigt auch die Tatsache, dass die Lage der Nicht-Esten in Tallin zwar besser ist als die der Nicht-Esten im

Nordosten des Landes, doch dass sie auch dort deutlich gegenüber den Esten benachteiligt bleiben.

Bedenkenswert ist, dass trotz einer gewissen Entspannung während der Konsolidierungsphase die wirtschaftliche und soziale Krise in Estland keineswegs überwunden ist. Vielmehr konnte gezeigt werden, dass die Beschäftigungsprobleme des Landes auch nach Mitte der 1990er Jahre zugenommen haben. Bleibt dieser Trend erhalten, so wird damit für viele eine Verschärfung ihrer sozialen Lage verbunden sein. Nach den hier vorgelegten Ergebnissen werden dies in erster Linie Nicht-Esten sein, denn es ist nicht anzunehmen, dass der seit Beginn der Unabhängigkeitsbewegung 1988/89 anhaltende Trend einer zunehmenden Benachteiligung der Nicht-Esten im Erwerbssystem sich in nächster Zeit umkehren wird.

Zu bedenken ist dabei auch, dass Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit in einem Transformationsland in der Regel eine ganz andere Bedeutung zuzumessen ist als in traditionellen westlichen Marktwirtschaften. Letztere verfügen über ein vergleichsweise gut ausgebildetes Sozialsystem und über genügend Mittel, um Arbeitslosen und anderen Benachteiligten existenzsichernde Unterstützungsleistungen zu gewähren. In Transformationsstaaten hingegen sind aufgrund des Systembruchs die alten staatlichen Institutionen der Wirtschafts- und Sozialpolitik abgeschafft worden, während neue Institutionen erst noch geschaffen werden und sich in Wirtschaft und Gesellschaft etablieren mussten. Die politischen und administrativen Führungskräfte verfügten zu Beginn der Transformation in der Regel genauso wenig über Erfahrungen mit den auftretenden sozialen Problemen wie die Bevölkerung selbst. Und aufgrund der staatssozialistischen Misswirtschaft konnte es sich kein Transformationsland finanziell erlauben, die sozialen Härten des Umbruchprozesses durch ein den tatsächlich auftretenden Problemen und Notlagen gerecht werdendes System sozialer Flankierungen abzufedern. Die geringen finanziellen Mittel, die dem estnischen Staat zur Verfügung standen, aber auch das politische Ziel der radikalen Durchsetzung einer kapitalistischen Marktwirtschaft, vertrugen sich nicht mit dem Aufbau eines sozialen Sicherungssystems, in dem der Staat eine Vielzahl von Notlagen durch existenzsichernde Transferleistungen abfedert. Arbeitsplatzverlust und Arbeitslosigkeit bedeuteten auf diesem Hintergrund naturgemäß auch eine stärkere Gefährdung durch Armut und Deprivation. (Kutsar 1996)72

72 Auf diesem Hintergrund erfährt selbst die Phase, in der das tatsächliche Ausmaß an Arbeitslosigkeit in Estland dem vergleichsweise niedrigen EU-Durchschnitt entsprach, eine andere Bewertung: Das Ausmaß mag vergleichbar gewesen sein, doch ist anzunehmen, dass dieses Problem in seiner sozialen Dimension für die Betroffenen weitaus größere Härten aufweist

Estland hat den Wandel von einer staatssozialistischen zu einer marktwirtschaftlichen Wirtschaft sowie von einer Sowjetrepublik zu einer Demokratie westlicher Prägung vollzogen. Angesichts dessen ist zweifelsfrei, dass die zentrale Voraussetzung des in Kapitel 2 entwickelten theoretischen Konzepts ethnischer Mobilisierung und Konfliktentstehung für Estland gegeben ist: Nämlich die für eine ethnische Mobilisierung grundlegende Transformation der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Grundverfassung der Gesellschaft. Dieses Kapitel hat darüber hinaus bestätigt, dass im Zuge dieser Systemtransformation die gesellschaftliche Stellung der russischen Minderheit eine deutliche Verschlechterung in rechtlicher, politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht erfahren hat, weil ihr Staatsbürgerrechte, politische Partizipationsmöglichkeiten und Erwerbschancen genommen worden sind bzw. vorenthalten werden. Neben der direkten Beschneidung bzw. Vorenthaltung der Bürgerrechte sind es vor allem die rigiden Sprachgesetze, welche die Angehörigen der russischen Minderheit von politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Partizipationschancen ausschließen.

Insofern kann auch der zweite wesentliche Aspekt des hier zugrunde gelegten Konzepts ethnischer Mobilisierung und Konfliktentstehung, die umfassende Entwertung des ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Kapitals einer Ethnie durch die andere, als gegeben betrachtet werden. Wie konnte es so schnell und umfassend zu dieser Entwertung kommen? Dieser Frage wird im folgenden Kapitel nachgegangen.

als in Westeuropa.

4. E t h n i s i e r u n g p o l i t i s c h e r K o n f l i k t e –