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Die Bedeutung der Staatsbürgerschafts- und Sprachregelungen für die Integration

5. DIE ENTWICKLUNG DER ETHNISCHEN BEZIEHUNGEN NACH DER UNABHÄNGIGKEIT

5.2.2. Die Suche nach dem eigenen Platz in der neuen Gesellschaft: „Loyalty“ und „Voice“

5.2.2.1. Die Bedeutung der Staatsbürgerschafts- und Sprachregelungen für die Integration

Infolge der veränderten ökonomischen Bedingungen und der exklusiven estnischen Staatsbürgerschafts- und Sprachgesetze wurde die russische Minderheit in Estland seit der Unabhängigkeit des Landes mehr und mehr in eine gesellschaftliche Randposition gedrängt und stärker als der estnische Teil der Bevölkerung mit neuen Anforderungen konfrontiert, um die eigene Existenz und Position in der Gesellschaft abzusichern. In einer 1994 und 1995 von der Open Estonia Foundation durchgeführten Untersuchung (Open Estonia Foundation 1997b) wurden die russischen Bewohner in Tallinn und im Nordosten nach den aus ihrer Sicht wichtigsten Kriterien für eine gesicherte Existenz in Estland gefragt. Zur Auswahl standen

- „Estnische Staatsbürgerschaft“, - „sichere Arbeit und Beruf“, - „ein gutes Einkommen“, - „gute Estnischkenntnisse“,

- „Estnische Staatsbürgerschaft für die Kinder“, - „verlässliche Familienbeziehungen“,

- „die Möglichkeit, die Wohnung zu privatisieren“, - „die Befolgung der estnischen Gesetze“,

- „Freundschaften mit Esten“ und - „Kenntnis der estnischen Kultur“.

Diese Kriterien mussten nach absteigender Bedeutung in eine Reihenfolge von 1 bis 10 gebracht werden. Zwischen 1994 und 1995 – dem Ende der Transformationsphase und in der kurzen Wachstumsphase der Wirtschaft des Landes - veränderten sich die Einschätzungen erheblich (Tabelle 5-4), wobei hier von besonderem Interesse ist, in welchem Verhältnis Staatsbürgerschafts- und Sprachregelungen zu den naturgemäß für die Existenzsicherung sehr wichtigen Faktoren Arbeit und Einkommen stehen.

Tabelle5-4: Einschätzung der wichtigsten Faktoren, um als Russen in Estland die eigene Existenz abzusichern

Sahen die Tallinner Russen 1994 noch die Beherrschung der estnischen Sprache, einen sicheren Arbeitsplatz und Beruf und die estnische Staatsbürgerschaft sowie ein gutes Einkommen als wichtigste Faktoren der Existenzsicherung an, wurde 1995 ein gutes

Was ist Ihrer Meinung nach am wichtigsten, damit Sie sich in Estland abgesichert fühlen?

Russen in Tallinn

Rang 1994 1995

1 gute Estnischkenntnisse ein gutes Einkommen

2 sichere Arbeit und Beruf gute Estnischkenntnisse

3 estnische Staatsbürgerschaft sichere Arbeit und Beruf

4 ein gutes Einkommen estnische Staatsbürgerschaft

5 estnische Staatsbürgerschaft für die Kinder estnische Staatsbürgerschaft für die Kinder 6 verlässliche Familienbeziehungen verlässliche Familienbeziehungen

7 Kenntnis und Befolgung der estnischen Gesetze die Möglichkeit, die Wohnung zu privatisieren 8 die Möglichkeit, die Wohnung zu privatisieren Kenntnis und Befolgung der estnischen Gesetze 9 Kenntnis der estnischen Kultur Freundschaften mit Esten

10 Freundschaften mit Esten Kenntnis der estnischen Kultur

Russen in Nordostestland

Rang 1994 1995

1 sichere Arbeit und Beruf estnische Staatsbürgerschaft 2 gute Estnischkenntnisse sichere Arbeit und Beruf 3 estnische Staatsbürgerschaft ein gutes Einkommen

4 ein gutes Einkommen gute Estnischkenntnisse

5 estnische Staatsbürgerschaft für die Kinder estnische Staatsbürgerschaft für die Kinder 6 verlässliche Familienbeziehungen verlässliche Familienbeziehungen

7 Kenntnis und Befolgung der estnischen Gesetze die Möglichkeit, die Wohnung zu privatisieren 8 die Möglichkeit, die Wohnung zu privatisieren Kenntnis und Befolgung der estnischen Gesetze 9 Kenntnis der estnischen Kultur Freundschaften mit Esten

10 Freundschaften mit Esten Kenntnis der estnischen Kultur

Quelle: Open Estonia Foundation 1997b

Einkommen als der wichtigste Faktor angesehen, und die übrigen drei Faktoren rutschten jeweils einen Rangplatz nach unten. Auch die Russen in Nordostestland werteten diese vier Faktoren als die wichtigsten für die Existenzsicherung, doch in einer deutlich anderen Rangfolge. Sahen sie 1994 noch einen sicheren Arbeitsplatz und Beruf, gute Estnischkenntnisse, die estnische Staatsbürgerschaft sowie ein gutes Einkommen als am wichtigsten an, so war für sie 1995 die estnische Staatsbürgerschaft der bedeutendste Faktor für die Absicherung der Existenz, und ein sicherer Arbeitsplatz und Beruf rutschte vom ersten auf den zweiten Rang. Bemerkenswerterweise tauschten auch die Items „ein gutes Einkommen“ und „gute Estnischkenntnisse“ die Reihenfolge, so dass die Beherrschung der estnischen Sprache im Nordosten nur noch als der unwichtigste der vier wichtigsten Faktoren der Existenzsicherung angesehen wurde.

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass unmittelbar nach dem Ende der wirtschaftlichen Transformationsphase, in der auch die die ethnischen Beziehungen in Estland neu strukturierenden Gesetze erlassen wurden, zumindest in Tallinn die Staatsbürgerschaftsfrage an Brisanz verloren hatte und materielle Aspekte der Existenzsicherung in den Vordergrund traten. Die Untersuchung der Open Estonia Foundation gibt keine Erklärung zu den Gründen des gemessenen Einstellungswandels. Zu vermuten ist aber, dass im Zuge der Mitte der 1990er Jahre herrschenden Phase der wirtschaftlichen Erholung und Prosperität, von der vor allem die Hauptstadt profitierte (Eurostat 2000), Russen in Tallinn die Erfahrung machten, dass trotz aller Restriktionen von Seiten des Staats Möglichkeiten vorhanden waren, in irgendeiner Weise von dem Hauptstadtboom zu profitieren, auch wenn man nicht estnisch sprach oder estnischer Staatsbürger war. Dagegen scheinen Russen im Nordosten Estlands vor dem Hintergrund des transformationsbedingten Stellenabbaus in den großen Unternehmen der Region, der nicht wie in Tallinn auch von Neuansiedlungen von Unternehmen begleitet war, die Erfahrung gemacht zu haben, dass in einem solchen Umfeld Arbeitsplätze und berufliche Bildung weniger Einfluss auf die Chancen zur Existenzsicherung haben als die estnische Staatsbürgerschaft. Angesichts der isolierten Lage der Minderheit im Nordosten überrascht es nicht, dass gute Estnischkenntnisse dort an Bedeutung für die Existenzsicherung verloren haben. Trotz des per Gesetz erzeugten Drucks, estnisch zu lernen, machen die Russen dort im alltäglichen Leben die Erfahrung, dass, da sie unter sich sind, keine praktische Notwendigkeit besteht, estnisch zu sprechen. (Open Estonia Foundation 1997b)

Hinsichtlich der Frage nach Anpassung an oder Widerstand gegen die neuen Verhältnisse durch die russische Minderheit erscheint auch erwähnenswert, dass die Kenntnis und Befolgung der estnischen Gesetze ebenso wie die Kenntnis der estnischen Kultur sowohl bei den Russen in Tallinn als auch bei den Russen in Nordostestland an Bedeutung für die Existenzsicherung verloren haben. Daraus kann jedoch keineswegs geschlossen werden, dass die Minderheit sich nicht gesetzeskonform verhalten oder sich der Kultur der Titularethnie verschlossen hat. Wahrscheinlicher ist, dass die Russen in Estland allgemein die Erfahrung gemacht haben, dass Kenntnis der estnischen Gesetze und Kultur in dem Kampf um die Sicherung der eigenen Existenz nicht viel weiterhelfen und dass andere Faktoren wesentlich wichtiger in diesem Kampf sind. Dagegen hat sich offensichtlich die Freundschaft mit Esten sowohl in der Hauptstadt als auch im Nordosten des Landes als hilfreich bei der Sicherung der eigenen Existenz erwiesen, weshalb dieser Faktor einen Bedeutungsgewinn erfuhr.

Die Tatsache, dass die Staatsbürgerschafts- und Sprachregelung sich neben den für die materielle Existenzsicherung fundamentalen Faktoren Arbeit und Einkommen finden, teilweise sogar in ihrer Bedeutung für die Existenzsicherung höher bewertet werden als diese, verdeutlicht, wie stark die gesellschaftliche Stellung und die ökonomische Situation der Russen in Estland durch diese politischen Entscheidungen der estnischen Regierungen determiniert und beeinträchtigt wurden. Bemerkenswert erscheint darüber hinaus die vergleichsweise hohe und sehr stabile Einschätzung der Staatsbürgerschaft für die Kinder für die Existenzsicherung, die in allen beiden Gruppen zu beiden Zeitpunkten unmittelbar nach den elementaren Faktoren Arbeit, Einkommen, Staatsbürgerschaft und Sprache genannt wurde. Dies deutet darauf hin, wie stark das Interesse der Russen auch perspektivisch für die Zukunft ist, in Estland zu bleiben und dort rechtlich gleichgestellt integriert zu werden. Wenn dies nicht für sie selbst realisierbar ist, das legt dieser Befund nahe, so soll dieses Ziel wenigstens für die eigenen Kinder erreicht werden.

Entsprechend groß ist die Unzufriedenheit der Russen mit diesen Regelungen, vor allem mit der Regelung der Staatsbürgerschaft. Nach Smith (1999: 83) nimmt der überwiegende Teil der russischen Bevölkerung sich als marginalisiert wahr und empfindet dies als ungerecht.

Der Wunsch nach einer Veränderung dieser Situation ist entsprechend groß. Nach wie vor wünscht sich die große Mehrheit für sich und die nachfolgende Generation die estnische Staatsbürgerschaft. (Hallik 2000) Insbesondere wird eine Vereinfachung der Einbürgerungsvoraussetzungen, die als zu streng angesehen werden, gewünscht. 1995

unterstützte die überwältigende Mehrheit der russischen Minderheit in Tallinn (82%) und im Nordosten (91%) die Einbürgerung ohne Vorbedingungen. Dabei ist die Gruppe allerdings gespalten: Etwa die Hälfte meint, dass nur den in Estland Geborenen die Staatsbürgerschaft ohne weitere Bedingungen gewährt werden solle, während die andere Hälfte sich für alle freien Zugang zum estnischen Pass wünscht. Besonders stark war dabei der Wunsch nach der doppelten Staatsbürgerschaft. Laut einer Umfrage von 1995 würden etwa zwei Drittel der Minderheit die doppelte (d.h. russische und estnische) Staatsbürgerschaft bevorzugen. In Tallinn favorisieren über 60% diese Lösung, in den Städten Kothla-Järve, Narva und Sillamae liegen die entsprechenden Werte ähnlich hoch. (Open Estonia Foundation 1997b) An diesem Bild hat sich bis zum Jahr 2000 nicht viel geändert. Immer noch denken 71%, dass die Staatsbürgerschaftspolitik zu streng ist. Diese Einschätzung ist unabhängig von Staatsbürgerschaftsstatus, Bildung und weitestgehend auch von Alter. Allein die Gruppe der 15-24jährigen beurteilt die Einbürgerungsbedingungen positiver. (Hallik 2000)

Die Unerreichbarkeit der estnischen Staatsangehörigkeit verstärkt unter den Russen in Estland das Gefühl der Unsicherheit der eigenen Existenz und der Zukunft der Kinder. Nach einer Umfrage der Open Estonia Foundation (1997a) fühlen sich 70% der Staatenlosen und rund die Hälfte derjenigen mit russischem Pass permanent materiell und in ihrem rechtlichen Status nicht abgesichert und befürchten, zu Menschen zweiter Klasse gestempelt zu werden.110 Auch wird der von der estnischen Regierung eingeführte Ausländerpass von den Russen mehrheitlich nur als Zwischenlösung akzeptiert. Zwar erkennen die meisten an, dass er zumindest den Reiseverkehr erleichtert, aber nur ein Drittel war 1995 der Meinung, dass er zur Sicherung der eigenen Existenz in Estland beiträgt. Unabhängig von Status und Bildungshintergrund wird der Ausländerpass innerhalb der Minderheit als kränkend empfunden. (Open Estonia Foundation 1997a)

Trotz des hohen Maßes an Unzufriedenheit der estnischen Russen mit der vorhandenen Staatsbürgerschaftsregelung und der hohen Attraktivität der estnischen Staatsbürgerschaft für die Minderheit fand Smith (1999: 83) heraus, dass der Wunsch nach der estnischen Staatsbürgerschaft nicht daraus resultiert, dass die estnische Staatsbürgerschaft selbst als hoher Wert angesehen wird, also Selbstzweck ist. Sie spielt weniger im Sinne des abstrakten

110 Positiver fällt hingegen die Einschätzung der Russen mit estnischer Staatsbürgerschaft aus. Dies ist jedoch kaum verwunderlich, da, wie in Kapitel 3 beschrieben, es vor allem Russen mit guten Bildungsabschlüssen und Berufsqualifikationen sind, die die estnische Staatsbürgerschaft erhalten. Diese Gruppe verfügt ohnehin über bessere Arbeitsmarktchancen. Von Staatenlosigkeit und dem Verweis auf die russische Staatsbürgerschaft sind hingegen eher Geringqualifizierte und sozial Schwächere betroffen.

Wunsches nach politischer Teilhabe eine Rolle als im Hinblick auf die praktische Notwendigkeit, die eigene Existenz ökonomisch, sozial und politisch absichern zu müssen.

Die wesentliche Integrationsbarriere wird von den Russen nicht in der mangelnden Staatsbürgerschaft, sondern in den Sprachanforderungen gesehen. Die übergroße Mehrheit der Russen, so Hallik (2000), strebt nach rechtlicher Gleichberechtigung durch die estnische Staatsbürgerschaft, ohne zuvor die Hürde des Sprachexamens nehmen zu müssen.

Doch haben die Russen klar den Bedeutungszuwachs der offiziellen Landessprache für die Lebenschancen im Land erkannt. Waren 1990, also kurz vor der Unabhängigkeit Estlands, nur 30% der Russen der Meinung, eine Existenz in Estland sei ohne estnische Sprachkenntnisse unmöglich, belief sich dieser Anteil 1995 auf 82%. (Vihalemm/Lauristin 1997: 294) Die Einstellung der Russen zur estnischen Sprache ist überwiegend instrumentell geprägt: Gute Estnischkenntnisse werden als die zentrale Voraussetzung angesehen, um einen guten Job zu finden bzw. die Anforderungen des Berufs zu erfüllen. (Proos 2000: 6ff.;

Vihalemm/Lauristin 1997: 291) Eine gute Ausbildung und gute Verbindungen stehen in der Wahrnehmung der Befragten hinter der Beherrschung der estnischen Sprache zurück.

(Vihalemm 1999: 32)

Bemerkenswerterweise lässt sich trotz dieser Einschätzung keine Steigerung des Anteils derjenigen Russen beobachten, die die estnische Sprache beherrschen. Die vom Sprachgesetz vorgeschriebenen Anforderungen zu erfüllen, sahen sich Mitte der 1990er Jahre in Tallinn immer noch rund 63%, in Nordostestland rund 48% der Russen außerstande. Mehr noch: Der Anteil derjenigen, die die estnische Sprache sehr gut beherrschen, hat nur kurzfristig zugenommen und war bereits Mitte der 1990er Jahre wieder rückläufig, und der Anteil derjenigen, der die estnische Sprache gar nicht beherrscht, nahm von 1994 bis 1995 wieder deutlich zu. In Nordost-Estland erreichte er 1995 sogar fast wieder das Niveau von 1993 (Tabelle 5-5).

Tabelle 5-5: Beherrschung der estnischen Sprache durch Russen in Estland (%), 1993-1995

Obwohl das estnische Sprachexamen formal für das Potential an Erwerbsmöglichkeiten und für den erreichbaren gesellschaftlichen Status von großer Bedeutung ist, zeigt sich auch in dieser Hinsicht im Verhalten der estnischen Russen ein hohes Maß an zunehmender Verweigerung. Tabelle 5-6 zeigt, dass zwar der Anteil derjenigen, die ein Sprachexamen abgelegt haben, in Tallinn 1994 und 1995 gleich hoch blieb und in Nordostestland sogar von 20% auf 29% anstieg. Doch verringerte sich der Anteil derjenigen, die noch kein Examen abgelegt hatten, dies aber in Zukunft planten, in beiden Regionen. Während diese Entwicklung neben subjektiven Motiven auch auf andere Faktoren zurückgeführt werden könnte, wie etwa die mangelhafte Infrastruktur des Landes zur Vermittlung der estnischen Sprache, weist folgender Befund eindeutig auf die subjektiv begründete Weigerung zur Ablegung eines Sprachexamens hin: Während 1994 in Tallin nur knapp ein Fünftel der befragten Russen angab, noch kein Sprachexamen abgelegt zu haben und dies auch in Zukunft nicht beabsichtigte, erreichte der Anteil dieser Gruppe nur ein Jahr später bereits mehr als das Doppelte (42%). Im Nordosten wuchs der entsprechende Anteil ebenfalls, wenn auch mit einem Anstieg von 32% auf 39% nicht so stark wie in der Hauptstadt.

Russen in Tallinn Russen in Nordostestland

1993 1994 1995 1993 1994 1995

sehr gut 7 15 12 8 4 1

gut 11 18 14 3 6 2

zufriedenstellend 43 49 43 27 40 34

gar nicht 32 12 22 46 39 44

keine Antwort 7 6 9 16 11 19

Quelle: Open Estonia Foundation 1997b

Tabelle 5-6: Tatsächliche und geplante Ablegung von estnischen Sprachexamen von Russen in Tallinn und im Nordosten Estlands, 1994 und 1995 (%)

Auch Vihalemm (1999: 34) kam in ihrer Untersuchung111 über das Verhältnis der Russen zu ihrer Muttersprache und zur estnischen Sprache zu dem Schluss, dass sich die estnische Sprachkompetenz in den nächsten Jahren innerhalb der Minderheit nicht wesentlich erweitern wird. Auch wenn bei Teilen der Minderheit, vor allem unter den jüngeren Russen, eine Bereitschaft zum Erlernen der estnischen Sprache und zum Kennenlernen der estnischen Kultur beobachtbar ist, weist der generelle Trend eher auf die Vergrößerung der Kluft zwischen den russischsprachigen „Inseln“ Estlands und der estnischsprachigen Umgebung hin. Dieser Trend könnte, Vihalemm zufolge, schließlich in eine Re-Identifizierung mit der russischen Sprache und Identität münden, wenn auf gesamtgesellschaftlicher Ebene keine Konzepte entwickelt würden, die mehr als Sprachunterricht und die Kontrolle der erworbenen Kenntnisse beinhalteten. (Vihalemm 1999: 35)

Über diese zunehmende Kluft zwischen den Ethnien hinaus gibt es aber auch Anzeichen für eine tiefgreifende generationelle Spaltung der russischen Minderheit in Bezug auf ihr Arrangement mit dem neuen estnischen Staat: Nach Smith (1999: 86 f) sind es vor allem die Älteren, weniger Qualifizierten, die das Erlernen der estnischen Sprache und damit auch die Chance zur Integration in die Gesellschaft mehr und mehr ablehnen, während die Jüngeren eher bereit sind, die geforderte Sprachkompetenz zu erwerben. Diese Meinung wurde im Expertengespräch bestätigt:

111In dem Projekt „Integration of Non-Estonian Youth into the Estonian Society” wurden russische Muttersprachler aus den Provinzstädten Narva, Kothla-Järve, Johvi, Tartu, Valga und Haapsalu, die über größere russische Minderheiten verfügen, befragt. Das Sample umfasste 389 Personen.

Russen in Tallinn Russen in Nordostestland

1994 1995 1994 1995

bereits ein Sprachexamen abgelegt 36 35 20 29

noch kein Sprachexamen abgelegt, aber für

die Zukunft geplant 33 21 37 30

noch kein Sprachexamen abgelegt und auch

für die Zukunft nicht beabsichtigt 19 42 32 39

keine Antwort 12 2 11 2

Quelle: Open Estonia Foundation 1997b

„Die Russen haben in den letzten zehn Jahren verstanden, dass Estland nun unabhängig ist und die EU-Integration anstrebt. Viele russische Einwohner suchen auch den Anschluss.

Russische Eltern streben danach, ihre Kinder in estnische Kindergärten zu geben. Dies ist alles eine Frage des Generationswechsels – die jüngere Generation spricht estnisch, ist schon besser an das estnische Leben gewöhnt und steht Estland positiver gegenüber“. (Interview m.d.Verf.v. 09.03.01)

Auch Vihalemm (1999: 35) identifiziert innerhalb der russischen Minderheit eine vergleichsweise junge Gruppe, die mittlerweile über aktive Estnischkenntnisse verfügt und sich weniger entschieden als ‚Nicht-Esten’ identifiziert. Diese Befunde sprechen dafür, dass die Älteren resignieren und ihre sprachliche Assimilation – die den wohl wesentlichsten Baustein des Fundaments für die Akkulturation im neuen Staat darstellt – zurücknehmen bzw.

ganz einstellen, während die Jüngeren aktiv eine Adaption an die estnische Kultur betreiben, um sich für die Zukunft bessere Optionen in der estnischen Gesellschaft zu erschließen. In die gleiche Richtung weist auch der hohe Stellenwert, den estnische Russen der Vergabe der estnischen Staatsbürgerschaft an ihre Kinder beimessen.

5.2.2.2. Estland und Russland, altes und neues System als Bezugspunkte des