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Die russische Reaktion auf den zunehmenden estnischen Nationalismus

4. ETHNISIERUNG POLITISCHER KONFLIKTE - UNABHÄNGIGKEITSBEWEGUNG

4.2.2. Die russische Reaktion auf den zunehmenden estnischen Nationalismus

Der eigentliche Anlass der zunehmend stärker werdenden Forderungen nach grundsätzlichen Reformen der Sowjetunion und des Status der ESSR innerhalb der Föderation, nämlich die schlechte wirtschaftliche Lage mit den damit verbundenen Schwierigkeiten der Versorgung der Unternehmen und der privaten Haushalte mit den notwendigen Gütern sowie die politische Stagnation des Landes, betraf Esten und Russen in Estland gleichermaßen. Aus diesem Grund wäre auch eine Reformbewegung denkbar gewesen, die auf dem allgemeinen Interesse an einer Reform der Sowjetunion basierte und alle Einwohner Estlands mit einschloss, ohne zwischen Esten und Angehörigen der russischen Minderheit zu unterscheiden. Doch die Themen, entlang derer sich die Reformkräfte formierten, insbesondere die Diskussion um Zuwanderungsbeschränkungen und den Status der estnischen Sprache, waren kaum geeignet, auch die Angehörigen der russischen Minderheit mit einzubeziehen. Selbst das Thema Umweltschutz war ethnisch aufgeladen, weil es „russische“

Betriebe mit einer russischen Mehrheit in der Belegschaft waren, die für die Umweltschäden verantwortlich gemacht wurden. Zusätzlich trug neben der Entscheidungsbefugnis der von Moskau gesteuerten Grossbetriebe über die Zuwanderung von Arbeitskräften vor allem die Aufdeckung der sowjetischen Geschichtsklitterung um den Beitritt Estlands zur Sowjetunion wesentlich zu einer Polarisierung zwischen Esten und Russen bei. Hierin sind die wesentlichen Ursachen dafür zu sehen, dass die Reformbewegung in Estland sehr schnell eine estnisch-nationale Sache wurde und die russische Minderheit als Teil der zunehmend abgelehnten Sowjetmacht und russischer Hegemonie wahrgenommen wurde. Hallik (1997:

87) weist darüber hinaus darauf hin, dass diese ethnische Konfliktstellung keineswegs ein Produkt dieser Krise war, sondern die Krise diese Konflikte lediglich erst sichtbar machte.

Vor diesem Hintergrund war es für die nicht-estnischen Bewohner Estlands schwierig, sich in der veränderten politischen Lage im Land zu positionieren. Einerseits hatten auch sie Interesse an einer Verbesserung der Versorgungslage, andererseits waren sie nicht bereit, die von den Esten zunehmend in Richtung Souveränität und Ablösung Estlands von der Sowjetunion gelenkte Entwicklung mit zu tragen, solange absehbar war, dass damit

88 Auch dieses Gesetz wurde vom Präsidenten der UdSSR für nichtig erklärt (Thiele 1999: 40).

fundamentale Einschnitte in ihre politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Teilhaberechte verbunden waren. Insofern verwundert es nicht, dass die russische Minderheit relativ lange passiv blieb und sich erst 1988 zu organisieren begann, als die national-estnischen Kräfte sich bereits effektiv organisiert hatten und ihre politischen Forderungen nicht mehr auf sowjetinterne Reformen drängten, sondern nunmehr offen den Austritt aus der Sowjetunion propagierten. Die einzige Organisation innerhalb der Reformbewegung, die auch Russen in nennenswertem Umfang Zugangs- und Vertretungsmöglichkeiten bot, war die im April 1988 gegründete Volksfront, deren Mitglieder zu 10% Nicht-Esten waren. (Hallik 1997:

98) Bedenkt man das bereits beschriebene Interesse der damals noch pro-sowjetischen Regierung des Landes, durch die Gründung der Volksfront den nationalistischen Widerstand unter Kontrolle zu bringen und eine estnische wie russische Interessen vertretende Plattform zu etablieren, so verwundert dieser vergleichsweise hohe Anteil nicht-estnischer Mitglieder nicht. Es bleibt aber festzuhalten, dass die übergroße Mehrheit der Volksfront-Mitglieder Esten waren, die dezidiert estnische Interessen vertraten, welche kaum mit denen der russophonen Mitglieder in Einklang gebracht werden konnten.

Erst im Juli 1988 gründete sich als Reaktion auf den zunehmenden Nationalismus der Esten und die anti-sowjetische Orientierung einiger estnischer Organisationen, wie der Denkmalschutzbewegung, die „Internationale Bewegung“, die sich später in „Interfront“

umbenannte.89 Ihr Ziel war es, sich für die russische Bevölkerung Estlands als eine effektive Alternative zur Volksfront zu etablieren. Sie vertrat offen anti-estnische und pro-bolschewistische Positionen und versuchte so, ein russisches Gegengewicht zum estnischen Nationalismus zu schaffen. (Estonian Institute 1994; Hallik 1997: 98 f)

In der Folgezeit verlagerte sich die Organisationsarbeit innerhalb der russophonen Bevölkerung von der allgemeinen Öffentlichkeit in die von russischen Managern geleiteten und mit größtenteils russischen Belegschaften arbeitenden allsowjetischen Betriebe. Einige ihrer Direktoren und anderes Führungspersonal organisierten sich im November 1988 im

„Vereinigten Rat der Arbeitskollektive“ (Joint Council of Labor Collectives, JCLC). Die Organisation definierte sich zunächst als ökonomische Interessenvertretung der russischen Arbeiter und des Managements der allsowjetischen Betriebe. Doch schon bald wurden allgemein-politische Themen wichtiger und die JCLC nahm wie die Interfront eine anti-estnische und pro-russisch-sowjetische Haltung ein. Eine ihre wesentlichen Forderungen war

89 Im Folgenden wird hier nur noch die Bezeichnung „Interfront“ verwendet.

die Änderung der lokalen Verwaltungsstruktur, in der die Rolle der Arbeitskollektive, d.h. der Unternehmensführungen, aufgewertet werden sollte. Darüber hinaus plante der JCLC die Aufstellung von Kandidaten für die Repräsentanten Estlands im Obersten Sowjet. Die JCLC spielte 1989 die führende Rolle im Widerstand gegen die estnischen Unabhängigkeitsbestrebungen. 1989 und 1990 organisierte sie zusammen mit der Interfront verschiedene Streiks, und im Mai 1990 veranstalteten beide Verbände eine Demonstration gegen die Wiedereinsetzung der estnischen Flagge der Zwischenkriegszeit als neues Staatssymbol, bei der einige Teilnehmer versuchten, mit Gewalt den Sitz der estnischen Regierung zu stürmen.90 Das wesentlichste Ergebnis der Demonstration, an der etwa 50.000 Leute teilnahmen, war die Formierung eines Streikkomitees, das in den späteren politischen Entwicklungen eine aktive Rolle spielte. Den Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit den estnischen Autoritäten markierte das Gesetz über lokale Wahlen, welches die ausschließliche Beteiligung von Personen, die mindestens zwei Jahre in ihrem Wahldistrikt oder mindestens 5 Jahre in Estland gelebt hatten, vorsah. Darüber hinaus sollte das passive Wahlrecht an einen mindestens fünfjährigen Aufenthalt im Wahlbezirk oder einen mindestens zehnjährigen Aufenthalt in Estland geknüpft werden. Damit wären viele in der jüngeren Vergangenheit zugewanderte russische Einwohner von den Regionalwahlen ausgeschlossen gewesen. Trotz umfangreicher Gegenmaßnahmen, unter anderem ein Streik, an dem sich immerhin 30.000 Personen beteiligten, wurde das Gesetz am 8. August 1989 verabschiedet. (Estonian Institute 1994; Hallik 1997: 98 f)

Hallik (1997: 99) sieht das Jahr 1989 als den entscheidenden Wendepunkt in den interethnischen Beziehungen in Estland an, da in dieser Phase die ethnische Polarisierung in den politischen Positionen der politischen Organisationen mehr und mehr zutage trat und auch die Bevölkerung eine deutliche ethnische Polarisierung in ihren Präferenzen für diese Organisationen aufwies. Sie belegt diesen Wandel mit Ergebnissen von Meinungsumfragen, wonach im Mai des Jahres 50.3% der estnischen Einwohner die Volksfront, 7.2% die Kommunistische Partei und 0.0% die JCLC unterstützten, von den nicht-estnischen Einwohnern hingegen 28.7% die JCLC und die Interfront, 32.2% die Kommunistische Partei und nur 8.9% die Volksfront unterstützten.

90 Die Erstürmung des Regierungssitzes konnte durch einige Hundert Esten, die auf einen dringenden Appell des Premierministers hin zu Hilfe eilten, verhindert werden. (Estonian Institute 1994)

Zu dieser ethnopolitischen Wende dürfte neben den oben genannten Faktoren auch die Reaktion der Moskauer Zentralregierung auf die Artikulationen des politischen Willens der estnischen Bevölkerung geführt haben. Moskau kam bereits im Sommer 1988 zu der Einschätzung, dass die Sowjetrepublik Estland außer Kontrolle zu geraten drohte. In dieser Lage entschloss sich das Zentralkomitee der KPdSU, zur Befriedung der Republik den estnischen Kader Väino Väljas von seinem Posten als Sowjetischen Botschafter in Nicaragua abzuberufen und mit ihm den in Estland unpopulären und moskautreuen Ersten Sekretär der KP Estlands, Karl Vaino, zu ersetzen. (Meri in Oplatka 1999: 297; Brettin 1995:152f) Väljas war der erste Spitzenpolitiker unter der Sowjetherrschaft, der in Estland geboren und des Estnischen mächtig war, weshalb er von der Bevölkerung akzeptiert wurde. Wie verzweifelt dieser Schritt für die Staatsführung in Moskau gewesen sein muss, lässt sich daran ermessen, dass Väljas bereits 1979 aus dem ZK verdrängt worden war, weil er seine Anerkennung in der Bevölkerung dazu genutzt hatte, nationalistische Partikularinteressen Estlands gegenüber der Zentralregierung durchzusetzen. Die Hoffnung des Moskauer ZK war, dass Väljas aufgrund seiner besonderen Vergangenheit von der estnischen Bevölkerung akzeptiert werden würde und dieser selbst seine Berufung als Chance verstand, seine Loyalität gegenüber Moskau unter Beweis zu stellen. (Meri in Oplatka 1999: 297) Neben diesem machtpolitischen Interesse Moskaus bleibt aber auch festzuhalten, dass in diesem Schritt ein Vermittlungsversuch und ein Nachgeben Moskaus gegenüber den in Estland geschaffenen politischen Fakten zu sehen ist. 91 Ein Jahr später war die Zentralregierung nicht mehr willens, so viel Entgegenkommen zu zeigen. So quittierte das Zentralkomitee der KPdSU die Menschenkette, mit der die den jeweiligen Titularnationen angehörenden Einwohnern der baltischen Republiken an den Hitler-Stalin-Pakt und an die Okkupation durch die Sowjetarmee erinnerten, mit einem Statement, in dem die offizielle und inoffizielle Führerschaft der baltischen Staaten scharf kritisiert wurde. (Hallik 1997: 99) Auch die harsche Ablehnung der Unabhängigkeitsresolutionen des Obersten Sowjet Estlands und die Gegenerlasse zu den von ihm geschaffenen Gesetzen zeigen, dass die Moskauer Zentralregierung in den Jahren 1989 und 1990 nunmehr einen politischen Konfrontationskurs mit den estnischen Reformkräften fuhr.

91 Allerdings musste auch Väljas erkennen, dass das alte Regime in Auflösung begriffen war. Laut dem späteren estnischen Staatspräsidenten Meri hatte Väljas schnell eingesehen, dass er seine politische Macht nur sichern könne, wenn er sich den Forderungen der Volksfront anschloss. Zumindest rhetorisch sei dies, so Meri, überraschend weit gegangen. (Meri in Oplatka 1999: 297)

Dieses politische Agieren der Zentralregierung nährte das Misstrauen der Esten gegenüber den russischen Einwohnern des Landes, als „5. Kolonne“ Moskaus zu agieren. Dieser Eindruck wurde im Mai 1990 durch das Verhalten der Moskau-orientierten Abgeordneten des Obersten Estnischen Rates (ehemals Oberster Sowjet) verstärkt, als sie sich mit Abgeordneten von ca. 160 lokalen Sowjet-Räten in Kothla-Järve trafen, um einen „Interregionalen Sowjet“

zu gründen.92 Dieser war mit nicht unerheblichen Machtressourcen ausgestattet, da er über eine eigene Radiostation, militärische Einrichtungen und eine starke ökonomische Basis, wenn auch eine von Moskau gelenkte, verfügte. Der Interregionale Sowjet nahm in der Folgezeit Kontakt zu den sowjetischen Autoritäten, zur Russischen Föderation, zur Ukraine, Belorussland, Leningrad (heute Petersburg) und zu den anderen baltischen Republiken auf, die am 24. November 1990 in Riga zur Gründung eines Interparlamentarischen Rates führte.

Hintergrund dieses Interparlamentarischen Rates war die Diskussion um den neuen Unionsvertrag, der die politische Struktur der Sowjetunion neu regeln und über den am 17.

März 1991 unionsweit in einem Referendum abgestimmt werden sollte. Wie oben beschrieben, verweigerten die bereits von den jeweiligen nationalistischen Gruppen dominierten Regierungen der baltischen Staaten eine Beteiligung an diesem Referendum und organisierten ein eigenes Referendum, um ihr Projekt einer baldigen Souveränität voranzutreiben. Der Interparlamentarische Sowjet argumentierte, dass die baltischen Regierungen mit diesem Plan nicht die Ansichten ihrer Bürger verträten und forderte Referenden über den zukünftigen politischen Status der baltischen Republiken. (Hallik 1997:

100 f.; Butenschön 83 ff) Deshalb initiierte der Interregionale Sowjet zeitgleich mit dem am 3. März in Estland durchgeführten Referendum der offiziellen Regierung über die Wiederherstellung der Unabhängigkeit des estnischen Staates ein alternatives Referendum, in dem über den Verbleib in der Sowjetunion abgestimmt werden sollte. An der Abstimmung beteiligten sich etwa 330.000 Personen, von denen 77% für den Verbleib im Staatenbund votierten. (Hallik 1997: 101) Sowohl die Zahl der abgegebenen Stimmen als auch die Tatsache, dass der Anteil der Ja-Stimmen in Tallinn, Narva und Kothla-Järve bei 92% bis 96% lag, deuten darauf hin, dass an dieser Abstimmung im wesentlichen die russische Bevölkerung Estlands teilnahm.

Wie bereits in dem Abschnitt über die politische Mobilisierung der Esten angedeutet, führte der fehlgeschlagene Putsch gegen Staatspräsident Gorba_ev im August 1991 zur endgültigen

92 Damit existierte parallel zu den schon erwähnten Machtzentren, dem Obersten Sowjet und dem Kongress von Estland, in den Jahren 1990-1991 ein drittes Machtzentrum in Estland.

Entscheidung über die Frage nach dem Status der Republik Estland – und damit auch über die Frage nach dem Status der russischen Einwohner der neuen souveränen Republik. Da – zumindest die deutsch- und englischsprachige - Literatur zu Estland in dieser Phase von der