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Radikale Durchsetzung von Marktprinzipien - Kennzeichen des estnischen Transformations-

3. ETHNOPOLITIK UND KULTURELLE STANDARDISIERUNG - ZUR FRAGE DER

3.5. T RANSFORMATIONSFOLGEN UND DISKRIMINIERUNG : D IE ÖKONOMISCHE SITUATION DER

3.5.2. Radikale Durchsetzung von Marktprinzipien - Kennzeichen des estnischen Transformations-

Transformation in Osteuropa bedeutete den Wandel von sozialistischen Prinzipien der Staats-und Wirtschaftsführung zu demokratischen Staats-und marktwirtschaftlichen Prinzipien, wie sie für Westeuropa und Nordamerika typisch sind. In diesem Kapitel werden die ökonomischen Folgen dieses Wandels in Estland beleuchtet. Sieht man davon ab, die Zeit von 1989 bis 1991, die „Vortransformationsphase“, als eigenständigen Abschnitt des Transformationsprozesses zu betrachten (vgl. Eamets/Philips 199852), dann lassen sich im Hinblick auf die hier verfolgte Fragestellung sinnvoll zwei Phasen des Transformationsprozesses unterscheiden, die auf die Situation der Menschen im Land unterschiedlich gewirkt haben dürften. Die erste Phase der Transformation beginnt 1989, also mit den ersten noch schwachen Reformen unter dem erodierenden Sowjetsystem, und endet Mitte der 1990er Jahre, nachdem die inzwischen souveräne estnische Regierung die wichtigsten Maßnahmen zu der von ihr verfolgten radikalen Reform des Wirtschaftssystems eingeleitet hatte und diese das alltägliche Leben der Bevölkerung bestimmten, d. h. der Umbruch täglich für die Menschen erfahrbar war. Die zweite Phase beginnt 1995 und dauert bis heute an: Sie umfasst damit die ökonomische und soziale Konsolidierungsphase des neuen marktwirtschaftlichen Systems.

Wichtige Kennzeichen des sozialistischen Regimes waren eine nahezu vollständige Ausschöpfung des Erwerbspersonenpotentials - wenn auch erkauft durch eine in vielen Betrieben und Kombinaten betriebene Hortung von Arbeitskräften, die durchaus als

„versteckte“ Arbeitslosigkeit interpretiert werden kann (Eamets 199553) -, eine starke Betonung industrieller sowie forst- und landwirtschaftlicher Tätigkeiten als den produktiven Bereichen der Wirtschaft und damit als Wohlfahrtsquellen sowie eine relative Abkopplung der Wirtschaft vom (kapitalistischen) Weltmarkt und Konzentration auf den durch sozialistische Austauschprinzipien geprägten COMECON-Markt. Der angestrebte Übergang zur Marktwirtschaft bedeutete eine vollständige Reorganisation aller Grundlagen, Mechanismen und Verteilungsregeln dieses bisherigen Wirtschaftssystems. (Kutsar 1996)

52 Vgl.: www.geo.ut.ee/nbc/paper/eamets.htm

53vgl.: Unemployment in Estonia: Myth or Reality? www.ibs.ee/ibs/economics/estonian_labour_market.html.

Vorrangiges Ziel der estnischen Regierungen war durchgängig, das Land so schnell wie möglich in die EU zu führen und die dafür notwendigen Beitrittskriterien zu erfüllen. Diese Kriterien verlangten vor allem einen ausgeglichenen Staatshaushalt, Preisstabilität und eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik. Im Streit der Experten darüber, in welcher Weise die Transformation am schnellsten und erfolgreichsten gelinge, d. h. wie möglichst rasch der Markt als Hauptkoordinationsmechanismus etabliert werden und soziale Folgen wie Arbeitslosigkeit oder Armut vermieden werden könnten (oder schlimmstenfalls als kurzfristige Übergangsphänomen beherrschbar blieben), haben die estnischen Regierungen sich deshalb durchgehend an die Maxime eines sehr harten und liberalen Transformationsmodells gehalten.

Einhellig wird der estnische Transformationskurs im Vergleich zu allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion und den europäischen Mitgliedsländern des ehemaligen COMECON als der rigideste angesehen. (Eurostat 2000; Lösch 2000) Im Vordergrund stand dabei die Überzeugung, dass durch eine schnelle Restrukturierung der Wirtschaft auch die Krisenphänomene am Arbeitsmarkt und in den Einkommensstrukturen überwunden würden.

Zielvorgaben und Instrumente für diesen Prozess wurden deshalb fast ausschließlich für den wirtschaftlichen Wandel formuliert und entwickelt. Sozialpolitische Maßnahmen spielten als Flankierung dieses Wandels und zur Abfederung seiner sozialen Folgen nur eine sehr untergeordnete Rolle, vielmehr wurden sie als zusätzliche Komponenten zur Unterstützung des schnellen ökonomischen und sozialen Wandels instrumentalisiert. Nach Eamets (1995) und Kulikov (1999) lassen sich die Spezifika des estnischen Transformationspfades wie folgt beschreiben:

• Ein jährlich ausgeglichener Staatshaushalt

• Ein auf der Currency-Board-Idee54 basierendes monetäres System mit fixen Wechselkursen (die Estnische Krone wurde an die Deutsche Mark gekoppelt: 1 DM = 8 EEK)

• Keinerlei Außenhandelsbeschränkungen oder Auflagen für ausländische Direktinvestitionen

• Eine Gesetzgebung, die den schnellen Wandel von öffentlichem in privates Eigentum

54 Dabei wird die einheimische Währung zu 100% durch ausländische Devisen garantiert. Die Geldmenge wird nur erhöht, wenn auch diese Reserven erhöht werden. (Eamets 1995)

fördert

• Proportionale Einkommens- und Körperschaftssteuer (jeweils 26%)

• Keine Subventionen für den Agrarsektor

• Sehr restriktive Regelungen der Höhe von und Anspruchsdauer auf Arbeitslosenunterstützung

• Keine Belastung der Unternehmen durch Sozialabgaben für Arbeitslosenversicherung

• Ein sehr geringer Kündigungsschutz für Arbeitnehmer

In den von Vertretern der Politik, der Wirtschaft und der Wissenschaft gleichermaßen gern gezogenen Vergleichen zu den anderen europäischen Transformationsstaaten und zu den EU-Mitgliedsstaaten wird auch auf den schnellen Aufbau eines funktionsfähigen Finanzsektors und den raschen Wandel der sektoralen Struktur der estnischen Volkswirtschaft als weitere Erfolge des estnischen Transformationspfads verwiesen. (Eamets 1998) Wie rasant und tiefgreifend sich der Wandel der estnischen Wirtschaftsstruktur in der Transformation vollzogen hat, lässt sich am eindrucksvollsten an den folgenden Indikatoren illustrieren:

• Waren 1989 noch 98% aller Erwerbstätigen beim Staat, so waren 1994 bereits 47%

(Marksoo 1996) und weitere zwei Jahre später schon 63% (Eamets 1998) der Erwerbstätigen im privaten Sektor beschäftigt. Dabei konnte sich die Privatwirtschaft vor allem in der Land- und Forstwirtschaft, dem Baugewerbe, der Leichtindustrie und dem Handel entfalten, während der Staat weiterhin in der Schwerindustrie, der Energieerzeugung, dem Verkehrswesen und dem sozialen Sektor dominierte.

(Marksoo 1996)

• Das Bruttosozialprodukt wies bereits ab Mitte der 1990er Jahre positive

Wachstumsraten auf. Während es 1993 um 9% und 1994 noch um 2% gegenüber dem jeweiligen Vorjahr sank, nahm es 1995 um 4,3%, 1996 um 4% und 1997 um 10,6%

gegenüber dem jeweiligen Vorjahr zu. (Statistical Office of Estonia 1998)55

• Während in vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion und den anderen osteuropäischen Transformationsländern im Zuge ihres Systemwandels zur Marktwirtschaft die Arbeitslosigkeit ein sehr hohes Ausmaß erreicht hat, blieb sie in

55 Die Angaben für 1997 beziehen sich nur auf den Zeitraum Januar bis September. Bei dieser positiven Entwicklung ist allerdings das Niveau des BIP im internationalen Vergleich zu berücksichtigen: Laut Eurostat (2000) belief sich das BIP pro Kopf in Estland 1996 gerade auf ein Drittel des EU-Durchschnitts. Es steht zu vermuten, dass die in der Literatur immer wieder anzutreffende und hier übernommene Periodisierung des estnischen Transformationsprozesses bis Mitte der 1990er Jahre nicht unerheblich durch diese Trendwende in der Entwicklung des Wirtschaftswachstums beeinflusst war.

Estland vergleichsweise moderat. Nach der amtlichen Statistik lag die Arbeitslosenquote in Estland 1995, in der Endphase der Transformation, gerade bei 2,1%. (Marksoo/Luuk 1999: 7)

• Die Mobilität auf dem estnischen Arbeitsmarkt hat ein sehr hohes Ausmaß erreicht:

Laut Estonian Human Development Report (EHDR 1997) erfuhr in den Transformationsjahren fast die Hälfte aller Erwerbstätigen einen Arbeitsplatzwechsel oder -verlust.

• In keinem anderen Transformationsland, so Eamets (1998), werde der notwendige Strukturwandel von einer agrar- und industrielastigen Volkswirtschaft zur Dienstleistungsgesellschaft schneller vollzogen als in Estland. Der Anteil des tertiären Sektors an der Gesamtbeschäftigung stieg nach Angaben des Statistical Office of Estonia von knapp 42% im Jahr 1989 auf rund 55% im Jahr 1995 und erreichte 2001 schließlich einen Anteilswert von 59%.

• Besonders vom außenpolitischen Ergebnis her beurteilt hat sich die Strategie einer harten Transformationspolitik für Estland ausgezahlt: Galt das Land Mitte der 1990er Jahre hinter Ländern wie Polen, der Tschechischen Republik oder Ungarn als ein eher zweitrangiger Kandidat für einen möglichen EU-Beitritt, so führt Estland die Riege der Beitrittskandidaten aufgrund seiner wirtschaftlichen Erfolge inzwischen an.

Angesichts dieser Resultate scheint es nur folgerichtig, dass Vertreter der Politik und der Wirtschaft in Estland die Entwicklung des Landes während der Transformationsphase gerne als eine ungebrochene Erfolgsgeschichte präsentieren. Estland scheint auf den ersten Blick die zentralen Annahmen einiger Transformationstheoretiker (vgl. Böri 1994; Blanchard et al:

1994; Cornelius 1995) zu bestätigen, wonach die Systemtransformation möglichst rasch und radikal umgesetzt werden sollte und transformationsbedingte Arbeitslosigkeit und die weiteren damit verbundenen sozialen Probleme durch politische Maßnahmen zu begrenzen sind und letztlich nur als vorübergehendes Phänomen beim Übergang von der staatlich dominierten Wirtschaft zur Marktwirtschaft erscheinen. Eamets konstatiert, dass die Systemtransformation in Estland vor allem deshalb erfolgreich war, weil die beiden zentralen Reallokationsprobleme des Arbeitsmarktes der estnischen Volkswirtschaft, die Verlagerung der Beschäftigung vom öffentlichen zum privaten sowie vom primären und sekundären zum tertiären Sektor, gelöst wurden:

„In general, these studies (gemeint sind Transformationsstudien neoklassischer Ausprägung -d. Verf.) conceive unemployment as a gap between the speed at which the state sector is

shedding labour and the private sector is absorbing labour. (…) In the transition period, demand and supply shocks were experienced across the economy and have been mainly responsible for the rise of unemployment. The sharp decline of employment in primary and secondary sectors was compensated by a rapid increase of employment in the tertiary sector.

This allows us to conclude that the restructuring has been successful in the Estonian economy“. (Eamets 1999: 4)

Einschränkend muss jedoch ergänzt werden, dass diese positive Bilanz sich ausschließlich auf die Entwicklungen im Zeitraum zwischen 1989 und 1997 gründen kann, also auf die Phase der Systemtransformation und die ersten Jahre der Konsolidierungsphase der Marktwirtschaft.

1998 setzte jedoch aufgrund externer Schocks - genannt werden hier die internationale Finanzkrise, die Russlandkrise, der Kosovo-Konflikt und die nachfragebedingte Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in der EU - in ganz Mitteleuropa ein deutlicher Konjunkturabschwung ein. In Estland äußerte sich diese negative Gesamtentwicklung in Form einer drastischen Rezession - das Bruttoinlandsprodukt sank 1999 gegenüber 1998 um 3,9%, und dieser Trend setzte sich im Jahr 2000 fort. (Eurostat 2000) Damit verbunden war ein erneuter Anstieg der Arbeitslosigkeit, der bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt anhält.56