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E THNIZITÄT UND H ERRSCHAFT

2. ZUR THEORIE ETHNISCHER MOBILISIERUNG

2.2. E THNIZITÄT UND H ERRSCHAFT

Hierbei geht es um die Analyse der Bedingungen, unter denen sich ethnische Gemeinsamkeit zur politischen Gemeinschaft entwickelt: Um die Politisierung von Ethnizität. Was sind die Voraussetzungen für einen Zusammenschluß zur politischen Gemeinschaft, warum und unter welchen Bedingungen werden überhaupt ethnische Gemeinsamkeiten virulent und lassen sich politisch mobilisieren? Unter welchen Bedingungen kommt es schließlich zu Konflikten zwi-schen ethnizwi-schen Gruppen? Welche Ethnie setzt sich bei der Staatsbildung durch, wenn ver-schiedene ethnische Gruppen auf einem Territorium leben? Was sind dabei die Ursachen des Erfolgs? In der Forschungsliteratur sind hierzu eine Fülle von Ansätzen entwickelt worden.

Herrschte lange Zeit die auf Weber und später auf Barth zurückgehende Auffassung vor, dass es kein ursprüngliches ethnisches Bewusstsein gebe, sondern nur rationelle, d. h. nicht-ethni-sche, materielle Interessen ethnische Zusammenschlüsse motivieren und zur Folge haben könnten, ist diese Annahme einer gänzlich sozial konstruierten Ethnizität im Verlauf der weiteren Diskussion mit guten Argumenten in Zweifel gezogen worden.

In der wissenschaftlichen Diskussion lassen sich – in einer recht groben Unterteilung – im wesentlichen zwei Schulen unterscheiden, die ‚primordialistische‘ und die ‚situative‘. Diese beiden Sichtweisen haben sich im Laufe einer langen Diskussion über Ethnizität und ethni-scher Mobilisierung entwickelt, die im folgenden kurz skizziert werden soll.

Das primordiale Kulturverständnis läßt sich idealtypisch beschreiben als eine Konzeption, die das Entstehen kultureller bzw. ethnisch differenter Gruppen auf als objektiv und dauerhaft angesehene Merkmale zurückführt. In dieser Sichtweise steht die Frage nach den in gegebe-nen ethnischen Gruppen intern ablaufenden Prozessen der Vergemeinschaftung im Vorder-grund. Hier werden gemeinsame Sprache, Geschichte, Hautfarbe u. ä. als Zuordnungs- und Unterscheidungskriterien betont. Geertz (1963) formuliert dieses Verständnis wohl am klars-ten: Die „[...] Übereinstimmungen des Blutes, der Sprache, der Sitten usw. haben in sich und treiben aus sich heraus ungeheuere und zeitweilig überwältigende Konsequenzen. Man ist an seinen Verwandten, seinen Nachbarn, seinen Glaubensbruder ipso facto gebunden, nicht nur aufgrund persönlicher Anziehung, taktischer Notwendigkeit, gemeinsamen Interesses oder auferlegter moralischer Verpflichtungen, sondern letztlich zu einem erheblichen Teil durch die Kraft einer unbeschreiblichen absoluten Bedeutung, die den besonderen Bindungen selbst zugeschrieben wird.“ Van den Berghe (1979) schreibt den 'Wir-Gefühlen' an sich

primordia-len Charakter zu. Smith sieht als Kern von Ethnizität ebenfalls den Mythos gemeinsamer Vor-fahren, Geschichte und Kultur, der mit einem bestimmten Territorium assoziiert ist und ein Solidarbewusstsein innerhalb der Gruppe hertstellt. (Smith 1986: 32) Ethnizität stellt danach eine subjektive, sozial und kulturell konstituierte Realität dar, die durch die Interpretationen, die Menschen über Generationen hinweg über bestimmte kulturelle, räumliche und zeitliche Aspekte ihrer Interaktion und gemeinsamen Erfahrungen entwickeln, zur ethnischen Realität wird. (Smith 1986: 22) Auf diese Weise bilden sich bestimmte ethnische Charakteristika her-aus, die wiederum die Interaktionen und Perzeptionen folgender Generationen durch die zeit-liche und räumzeit-liche Konfiguration der Gemeinschaft und durch die gemeinsamen Anschau-ungen, die die Aktivitäten ihrer Mitglieder leiten, beeinflussen. Diese ethnischen Charakteris-tika nehmen eine bindende, äußerliche, quasi objektivierte Qualität für die Mitglieder und Generationen an, unabhängig von ihren Perzeptionen und ihrem Willen; sie besitzen eine Qualität von Historizität, die selbst zum integralen Bestandteil nachfolgender ethnischer In-terpretationen und Ausdrucksformen wird.

Unter dem situativen Kulturverständnis lassen sich sehr variierende Ansätze hinsichtlich einer Gemeinsamkeit zusammenfassen. In Abgrenzung zu den Primordialisten sehen sie Ethnizität nicht als anthropologische Konstante, sondern betrachten ethnische Unterschiede als - jeweils situationsgebunden - subjektiv immer wieder neu zu konstruierende Merkmale. Von Interesse ist hier, wann, warum und entlang welcher Kriterien sich einzelne Gruppen in einer Gesell-schaft zu einem gegebenen Zeitpunkt nach außen abschließen. Im Unterschied zu den primor-dialen Konzepten sehen diese Ansätze vorhandene kulturelle Unterschiede von Gruppen nicht als grundsätzlich virulent an, sondern gehen davon aus, dass diese Unterschiede zwar durch-aus vorhanden sind, aber gendurch-auso gut latent bleiben können. Im Zentrum steht deshalb die Frage, welche jeweiligen Bedingungen dazu führen, dass diese Unterschiede für ethnische Mobilisierungen aktivierbar werden. Betont wird die Funktion von Ethnizität als Abschluß-wirkung nach außen, die Grenzziehung und Aufrechterhaltung gezogener Grenzen als we-sentliches Kriterium ethnischer Gruppen: „Der wichtigste Punkt der Analyse ist aus unserer Sicht die ethnische Grenze, die die Gruppe definiert, nicht der kulturelle Stoff, der die Gruppe kennzeichnet. [...] Wenn eine Gruppe im Interaktionsprozeß mit anderen ihre Identität be-hauptet, schließt dies immer Kriterien von Zugehörigkeit und Symbole für Zugehörigkeit und Ausschluß ein.“ (Barth 1969: 15) Das entscheidende Moment der ethnischen Mobilisierung besteht in einem Zusammenspiel sozialer und politischer Zuschreibungen von Ethnizität von außen mit inneren Segregationskräften der Gruppe: „When there exist social and political

definitions that emphasize a particular boundary or affiliation [...] and when members of such an identified group perceive economic and / or political advantages to be derived from emphasizing that particular boundary [...] then there exists a strong likelihood of mobilization on the basis of that designated identity.“ (Nagel 1986: 96) Ausschlaggebend für die ethnische Differenzierung sind hier nicht 'objektive Merkmale', sondern subjektive Konstruktion, Mani-pulation und strategische Ausnutzung von ethnischer Identität, die situationsbezogen inter-pretiert werden: Ihre Bedeutung kann wechseln, je nach Situation betont oder nicht betont werden. Da im folgenden dieser Ansatz weiter ausgeführt wird, soll an dieser Stelle dieser skizzenhafte Abriß der wesentlichen Merkmal des situativen Konzepts genügen.

Letztlich zielt also das situative Konzept auf die jeweiligen sozialen, politischen und ökono-mischen Kontextbedingungen von Ethnizität ab, während das primordiale Konzept unabhän-gig von den jeweiligen Kontextbedingungen und von Raum und Zeit existierende 'objektive' Unterschiede betont. Die kulturalistische Interpretation ethnischer Konflikte stellt bewußt die primordiale Bindung der Protagonisten im Konflikt heraus. Wenngleich die so betonten kultu-rellen Rückbezüge zunächst begründbar scheinen, werden Kontextbedingungen praktisch nicht berücksichtigt. Dabei werden nicht nur die Bedingungen ignoriert, unter denen der einer Gruppe von außen (d.h. gesellschaftlich) zugeschriebene ethnische Status Bedeutung erhält, sondern auch die Umstände, unter denen die Gruppe aus sich heraus Ethnizität als strategi-sches Instrument operationalisiert.

Ethnische Konflikte (oder auch ihre Abwesenheit) lassen sich aber weder allein mit primordi-alen noch allein mit situativen Ansätzen erklären. Für die situationsgebundene Betrachtung läßt sich anführen, dass empirisch leicht festzustellen ist, dass sich nicht überall und zu jeder Zeit Ethnien mobilisieren ließen und Nationalstaaten gründeten, also unabhängig von grund-legenden intrapsychischen individuellen Dispositionen Kontexte offensichtlich eine wesentli-che Rolle bei der Entstehung von Nationalstaaten spielen. Allerdings können sie dennoch nicht plausibel machen, warum gerade ethnische Gruppierungen so zahlreich und 'erfolgreich' sind - letztendlich wären sie vom Standpunkt rationaler Interessenverfolgung nicht von ande-ren Interessengruppen zu unterscheiden. Primordialistische Ansätze ignorieande-ren nicht nur die Dynamik kultureller Werte, sondern sie können auch keine mobilisierenden Faktoren benen-nen, die außerhalb von Kultur liegen: Wenn mit allen Handlungen lediglich die eigene un-wandelbare Kultur ausgedrückt und reproduziert wird, wie entstehen dann Konflikte oder wie werden sie beendet? Mit einem primordialistischen Argument läßt sich zwar ein

immerwäh-render Konflikt konstruieren, aber nicht vorhersagen, wann ein Konflikt aufbricht oder been-det wird, da Faktoren außerhalb des Kulturraums nicht ins Gewicht fallen. Für eine Konflikt-prognose taugen sie somit nicht.

Wichtig für die Erklärung und Beurteilung ethnischer Konflikte ist deshalb ein differenzierte-rer Zugang zu diesem Problembereich. Der Schlüssel hierzu liegt in der Verbindung von Ele-menten des primordialen und des situativen Konzepts. Jenseits der Definition von Ethnizität als sozialer Konstruktion wird anerkannt, dass menschliche Vergemeinschaftung über die Herausbildung von Gruppenmerkmalen grundsätzlich die Basis zur Entstehung von Ethnizität bietet. Ethnizität kann sich deshalb als soziales Phänomen nur realisieren, wenn sie an (la-tente) kulturelle Gemeinsamkeiten anknüpfen kann. (vgl. Esser 1988, 1996: 73) Ethnizität stellt damit hinsichtlich der Frage, ob sie soziales Handeln motivieren und steuern kann, le-diglich ein Potential dar - denn nur in Fällen, in denen es Gründe für kollektives Handeln gibt, wird Ethnizität, die als Ressource verfügbar ist, aktualisiert: Zur Mobilisierung einer nach kulturellen Merkmalen definierten Gruppe bedarf es einer ‚Interessenleitung‘ (Hanf 1990).

Ethnizität bezieht sich, in Anlehnung an Marx‘ Ausdruck der ‚Klasse-an-sich‘, nur auf die

‚Gruppe-an-sich‘, die im primordialen Sinne eine soziale Kategorie vorstellt, die jedoch noch kein soziales Handeln konstituiert, aber über ethnische Mobilisierung die ‚Chance‘ für Verge-sellschaftung und Vergemeinschaftung bietet. Die ‚Gruppe-für-sich‘ drückt neben der objek-tiven Gegebenheit der kulturellen Gruppe das Selbstbewusstsein der Gruppe aus, die die la-tenten Ressourcen situationsbezogen aktiviert und die Gruppe zum Subjekt politischen und sozialen Handelns werden läßt. (vgl. Hanf 1990: 32: Rex 1990: 147)

„Auf diese Weise erfährt die sozio-biologische Deutung des ethnischen Nepotismus eine nicht-biologische, historisch-kulturelle Grundlegung: Es gibt in einer Gesellschaft ein Reser-voir von gedanklichen Modellen der Typisierung, Abgrenzung und von Gefühlen der Solida-rität zu 'ethnischen' Gruppen, die nicht erst aktuell konstruiert worden sind. Sie sind in vielen kulturellen Selbstverständlichkeiten noch sichtbar, wenngleich nicht virulent. Und deshalb stoßen die aktuellen 'Konstruktionen' bei den Menschen auch nicht auf komplettes Unver-ständnis, wenn sie damit konfrontiert werden. Die Anknüpfungsmöglichkeit an durchaus schwache, latente kulturelle Muster ist eine Bedingung für alle Versuche der Wiederbelebung ethnischer Ideen und Ideologien. Gänzlich aus dem Nichts heraus kann Ethnizität sicher nicht geschaffen werden. Aber ihren Sinn müssen die versunkenen Erinnerungen über aktuelle Ge-meinsamkeiten und Abgrenzungen gewinnen. Und das können nur aktuelle gemeinsame und auch starke Interessen sein“. (Esser 1996: 73)

Wenn das Vorhandensein kultureller Unterschiede allein nicht ausreicht, um ethnische Mobi-lisierungsprozesse und Konflikte zu initiieren, dann lautet die weiterführende Frage, worin die

eigentlichen Motive für ethnische Mobilisierungen liegen. Wer wird von ihnen erfaßt? Wel-che Prozesse kennzeichnen die Mobilisierung, in der kulturelle, beispielsweise religiöse Ge-meinsamkeiten das Gewicht gewinnen, das ihnen in der kulturalistischen Denkfigur von vornherein zugeschrieben wird?