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E THNIZITÄT UND M OBILISIERUNG

2. ZUR THEORIE ETHNISCHER MOBILISIERUNG

2.3. E THNIZITÄT UND M OBILISIERUNG

In der Literatur herrschen hierzu ökonomisch argumentierende Erklärungsansätze marxisti-scher und liberaler Provenienz vor. Sie gehen davon aus, dass ökonomische Ungleichheit der Auslöser ethnischer Konflikte ist. Beispiel eines marxistischen Ansatzes ist die Dependenz-theorie, die den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Marginalisierung und ethnischen Konflikten im Kapitalismus untersucht. Hechter (1975) unterschied unter Rückbezug auf Konzepte, die in den 1960er Jahren für Lateinamerika entwickelt worden waren, am Beispiel der westeuropäischen Nationalstaaten zwischen zentralen und peripheren Regionen. Die nati-onalen Ressourcen sind nach diesem Modell im Prozeß der Industrialisierung einseitig zu Lasten der Peripherie und zu Gunsten des Zentrums aufgeteilt worden. Diese Verteilung be-wirkte eine ungleiche Entwicklung, die eine ökonomische, politische und kulturelle Hierar-chisierung nach sich zog und dann besonders problematisch wurde, wenn sie gleichzeitig ver-schiedene Ethnien einander so gegenüberstellte, dass die hierarchischen Stufen ethnischen Abgrenzungen entsprachen. In einer Art 'internem Kolonialismus' bildet sich dann eine kultu-relle Arbeitsteilung, die eine vertikale Rangordnung der beiden Gruppen nach sozioökonomi-schen Kriterien impliziert, eine Integration der benachteiligten Gruppen in die Gesamtgesell-schaft verhindert und schließlich in den schwachen Regionen zur Basis eines ethnischen, 're-aktiven' Nationalismus (v. Beyme) wird. (vgl. Waldmann 1992: 217f; v. Beyme 1994: 137f;

Hanf 1990: 33)

Eher dem liberalen Ansatz zuzurechnen sind die Ungleichheitstheorien, die sich in einer Re-vision der klassischen modernisierungstheoretischen Prämissen um die Einordnung ethnischer Konflikte in den Modernisierungsprozeß bemühen und sie als Bestandteil der Moderne inter-pretieren, wie dies beispielhaft im Ressourcenansatz geschieht: Danach geraten dominante und unterlegene Ethnien unter dem Druck der Modernisierung in einen Wettbewerb um knappe Ressourcen, aus dem diejenigen Ethnien erfolgreich hervorgehen, die über die besse-ren Organisationskapazitäten verfügen. Es kommt zur ethnischen Mobilisierung, wenn

zwi-schen Ethnien Wettbewerb um Arbeit, Wohnungen, Heiratschancen, Bildungszugang etc.

entsteht (vgl. Olzak und Nagel 1986; v.Beyme 1994: 139), d.h. gerade dann, wenn sich die Barrieren einer kulturellen Arbeitsteilung, in der die Ethnien in ihren ökonomischen Nischen nicht miteinander konkurrierten, auflösen. Ziel des Wettbewerbs ist es, die Kontrolle über Ressourcen zu erlangen, wobei den von der öffentlichen Hand kontrollierten Ressourcen (bei-spielsweise Positionen im Bildungssektor oder in der Verwaltung) eine zentrale Bedeutung zukommt. Im weiteren Gegensatz zu den klassisch-modernisierungstheoretischen Überlegun-gen wird hier der Modernisierungsprozeß nicht unilinear interpretiert: Kommunikation, Urba-nisierung und Bildung tragen nicht zur Auflösung von Gegensätzen und damit zur Universali-sierung bei, sondern machen erst Kulturmerkmale relevant, mobilisieren und politisieren das Gruppenbewusstsein. Diese Form der Ungleichheitstheorie wird im Anschluß an Olson (1968) in verschiedenen Varianten auch mit Rational Choice-Theorien verknüpft. Aus dieser Sicht wird ethnische Mobilisierung als eine Form kollektiven Handelns aufgefaßt, das gerade in der per se als ungleich verstandenen modernen Gesellschaft durch ethnische Solidarität auf die Beseitigung der sozialen Ungleichheiten zielt. (vgl. Esser 1996; Richter 1996: 60f)

Empirische Untersuchungen zeigen jedoch, dass ethnische Konflikte keineswegs lediglich als 'kulturell' kaschierte ökonomische Konflikte betrachtet werden können. Sezessionistische Bewegungen entstehen häufig - entgegen der ökonomischen Rationalität - in Regionen, die allein kaum überlebensfähig wären und nicht selten vom bisher gemeinsamen Staat profitier-ten. (Horowitz 1985; Waldmann 1992; weitere Nachweise bei Wimmer 1995: 472-81) Trotz erheblicher ökonomischer Kosten wird die Unabhängigkeit angestrebt. Vor allem aber zeigen die empirischen Ergebnisse, dass ethnischen Konflikten häufig intraethnische sozioökonomi-sche Differenzen zugrunde liegen, die der wesentlichsten Annahme ökonomisozioökonomi-scher Ansätze widersprechen: Selten sind alle politisch mobilisierten Mitglieder einer Ethnie in einer ver-gleichbaren ökonomischen Lage, stellen also ausschließlich die Unterschicht, die Mittel- oder die Oberschicht in der Gesellschaft dar. Damit werden weder Klasse und Ethnie zur Deckung gebracht, wie es der klassisch marxistische ökonomische Ansatz impliziert, noch Interessen-gruppe und Ethnie, wie es die liberalen Ansätze behaupten.7

7 In diesem Zusammenhang muss auch die These, dass ethnische Konflikte lediglich 'ethnisierte' soziale (oder marxistisch:

von falschem Bewusstsein getragene) Konflikte sind, in Frage gestellt werden: Implizit legt sie nahe, dass die Aufhebung sozialer Konflikte die Relevanz ethnischer Unterschiede vermindern würde und stellt damit, wie schon die Kritik am Ethnizitätsbegriff als rein soziale Konstruktion gezeigt hat, ein „allzu mechanistisches Verständnis der Formulierungs-, Etikettierungs- und Mobilisierungsprozesse“ (Heitmeyer 1996: 53) dar. Empirische Studien belegen, dass gerade in ethnischen Unterschichten sehr unterschiedliche Neigungen festzustellen sind, soziale und ethnische Fragen miteinander zu identifizieren - der soziale Aspekt spielt also offensichtlich keine eindeutige Rolle bei der Mobilisierung von ethnischen Gruppen. (vgl. Heitmeyer 1996: 52; Horowitz 1985: 117-125)

In der Regel ist vielmehr von einer inneren sozioökonomischen Schichtung auszugehen, die für das Forschungsfeld von großer Bedeutung ist, da sich die Akteure der ethnisch mobili-sierten Gruppen nach Schichtzugehörigkeit hinsichtlich ihrer Rolle in der Mobilisierung und ihren Konfliktmotiven wesentlich unterscheiden. So weisen Waldmann (1992) und Horowitz (1985) auf der Basis umfassender internationaler Untersuchungen darauf hin, dass es keines-falls die Unterschichten sind, die in den ethnischen Gruppen die Initiative ergreifen, sondern in erster Linie die Mittelschichtgruppen (Waldmann) und die Eliten (Horowitz). Waldmann zeigt, dass in Gesellschaften, in denen eine privilegierte und eine diskriminierte ethnische Gruppe einander gegenüberstehen, die Mittelschichtsektoren der unterlegenen Ethnie sich -unabhängig von ihrer tatsächlichen Lage - relativ stärker gegenüber der Mittelschicht der do-minanten Ethnie diskriminiert fühlen als die ethnische Unterschicht gegenüber der dominan-ten Ethnie. Horowitz präsentiert ähnliche Ergebnisse. Er kommt zu dem Schluß, dass in der Analyse ethnischer Konflikte Eliten und Massen gesondert betrachtet werden müssen, wobei die Motive der Eliten stärker im ökonomischen Bereich zu sehen sind: Sofern die unterlegene Ethnie über eine Mittelschicht verfügt, spielen in der Konkurrenz mit der sozial und kulturell eher angenäherten Mittelschicht der dominanten Ethnie Bildungsmöglichkeiten, Karrieren im Staatsapparat, Aspirationen usw. eine Rolle, die für die Masse der Bevölkerung kaum von Bedeutung sind.

Ökonomische Antagonismen gewinnen als Konfliktstoff eher an der Spitze sich entwickeln-der Gesellschaften als in den unteren Schichten an Bedeutung. Wie schon die Revolutionsfor-schung zeigte, kann die Deprivationsthese, wonach es bei massiven sozialen Unterschieden zu revolutionären Bewegungen (bzw. ethnischen Bewegungen) kommt, damit eindeutig wider-legt werden (vgl. Hanf 1990; Horowitz 1985; Wimmer 1995; Esser 1996): Nicht bei krassen oder wachsenden sozialen Unterschieden, sondern in Zeiten der sozialen und ökonomischen Annäherung unterschiedlicher Gruppen entstehen (ethnische) Konflikte. Insofern reichen die Befunde Waldmanns und Horowitz‘ aus, um auch die These des 'internen Kolonialismus' als allgemeines Erklärungsmodell anzuzweifeln.

Ein m. E. vielversprechender Ansatz ergibt sich aus dem Versuch, neben den 'materiellen' wettbewerbstheoretischen Elementen, wie sie sich in den referierten ökonomischen Ansätzen finden, auch 'immaterielle' Elemente in die Erklärung kultureller Konflikte zu integrieren.

Wettbewerb bleibt dabei nicht auf rein ökonomische Aspekte beschränkt, sondern wird um

soziale, politische und kulturelle Dimensionen erweitert. In einem ersten Schritt wird mit Wimmer (1995) angenommen, dass eine Politisierung von Ethnizität danach nur in spezifi-schen Situationen wahrscheinlich ist, nämlich

a ) in institutionell schwachen und/oder im Transformationsprozeß befindlichen

Gesellschaften, in denen

b) staatliche Güter entlang ethnischer Grenzen ungleich verteilt werden und sich deshalb politische Loyalitätsverbände auf der Basis ethnischen Gemeinsamkeitsglaubens kon-stituieren.

Als Ursache für eine Ethnisierung der Schlüsselpositionen in der Gesellschaft sind folglich institutionelle Defizite auszumachen. Ethnische Konflikte entstehen dann, wenn im Prozeß der Staatsbildung oder der krisenhaften Reorganisation staatlicher Institutionen ethnische Differenzen politisiert werden, und zwar dergestalt, dass ein „Kampf darum entbrennt, wel-chem 'Volk' der Staat 'gehören' soll.“ (Wimmer 1995: 467)

Drei Bedingungen sind zu nennen, unter denen sich ethnische Konflikte entwickeln (Abbildung 2-1):

Erstens eine ethnische Einfärbung der Bürokratie als wesentliche öffentliche Ressource. Über die Bürokratie läuft die Legitimierung staatlicher Machtpositionen, d.h.: Wer die Schlüsselpo-sitionen in der Bürokratie besetzt, verfügt über Definitionsmacht. Phänomene wie die Bevor-zugung der eigenen Ethnie über klientelistische Netzwerke, soziale Abschließung (Weber) und strategische Gruppenbildung entlang ethnischer Grenzen im Zuge der Besetzung dieser Positionen sind v.a. dort stark ausgeprägt, wo nicht-ethnische Kriterien für die selektive Ver-gabe bürokratischer Vergünstigungen fehlen, d.h. wenn das entsprechende institutionelle Um-feld durch Parteien, Verbände und andere Interessengruppen nicht gegeben ist oder keine historische Tradition hat. Die Bürokratie wird dann zum Konkurrenzfeld für gebildete Mittel-schichten.

Zweitens muss es in den einzelnen Ethnien eine in ihren Ansprüchen frustrierte Ober- bzw.

Mittelschicht geben, die sich im Verteilungskampf um Ressourcen benachteiligt fühlt. Es entsteht Konkurrenz zwischen der etablierten Elite der dominanten Ethnie und den Bildungs-eliten bisher ausgeschlossener Ethnien.

Die dritte Bedingung ist schließlich, dass die Mobilisierung auch auf die unteren Schichten der Ethnien übergreifen muss, so dass eine ethnische Blockbildung entsteht. Zentral ist hier die Frage, unter welchen Bedingungen eine solche schichtenübergreifende Mobilisation ent-steht. Denn da die unteren Schichten zumeist direkt keine Posten und Pfründe zu gewinnen haben, ist es keineswegs von vornherein ausgemacht, dass sie am Kampf 'ihrer' Mittelschicht oder Elite um die kollektiven Güter des Staates (Bildung, Boden, Kapital) teilnehmen. Ent-scheidend ist, dass es der Mittelschicht oder Elite gelingt, der Unterschicht plausibel zu ma-chen, dass auch für sie ein von ethnischen Kriterien geleiteter Ausschluß Konsequenzen hat, weil er ihnen nicht nur Vergünstigungen verweigert, sondern eventuell auch (zumindest in der subjektiven Wahrnehmung) einseitig Kosten aufbürdet. Anders ausgedrückt: Unterstützen die Unterschichten einer Ethnie nicht ihre Mittelschichten und Eliten im „Kampf um den Staat“, dann haben sie auch niemanden, der sie vor einseitig zu ihren Lasten geregelten Verteilungs-fragen schützt. Leisten sie hingegen diese Unterstützung, so können sie annehmen, dass diese Fragen zu ihren Gunsten geregelt werden. (vgl. Wimmer 1995)

Abbildung 2-1: Die Entstehung und Dynamik ethnischer Konflikte

Quelle: Wimmer 1995

Aus dieser Sicht sind es jedoch letztlich immer noch eher ökonomisch determinierte Prozesse der sozialen Schließung, welche bewirken, dass ethnische Kategorien schließlich politischen Loyalitätsverbänden entsprechen. Die Motive der ethnischen Unterschichten in der aktiven Beteiligung an ethnischen Auseinandersetzungen wären demzufolge immer noch ökono-misch-rational, mit dem Unterschied, dass das ökonomische Interesse hier nicht unmittelbar selbst vertreten wird, sondern man hofft, dass die höheren Schichten der eigenen Ethnie diese

Politisierung ethnischer Differenz

Ergebnis: Ethnisierung des Politischen dann, wenn staatliche Güter entlang ethnischer Linien ungleich verteilt sind und deshalb politischeLoyalitätsverbändeauf der Basis ethnischen

Gemeinsamkeitsglaubens organisiert werden

Interessen mit vertreten, wenn deren Interesse an zentralen Positionen in der Bürokratie durchgesetzt ist. Diese Überlegungen lösen zwar das Problem der zuvor dargestellten ökono-mischen Argumentation, dass ökonomische Interessen und ethnische Zugehörigkeit nicht per se deckungsgleich sind, vernachlässigen aber weiterhin die kulturellen Aspekte von Ethnizität und ethnischen Mobilisierungsprozessen. Es wird ungenügend erklärt, warum das vermeint-lich oder tatsächvermeint-lich bedrohte gemeinsame kulturelle Reservoir in den Konflikten so oft und nachhaltig thematisiert wird. Unter den oben genannten Bedingungen der gesellschaftlichen und institutionellen Instabilität kann jedoch tatsächlich nicht nur die ökonomische, sondern viel umfassender die gesamte soziale und kulturelle Existenz des Mitgliedes der unterlegenen Ethnie gefährdet sein und somit zur Mobilisierung und Radikalisierung führen.

Das Defizit der ökonomischen Argumentation läßt sich jedoch in einem zweiten Schritt im Rückgriff auf Bourdieu (1983) beheben, wenn Aspekte, die ökonomische und kulturelle Mo-mente miteinander verbinden, hinzugezogen werden: Ethnische Konflikte entstehen dann, wenn ethnische Gruppen das spezifische moralische, soziale und kulturelle Kapital (Bourdieu 1983), über das sie verfügen, in dem ihre alltägliche Reproduktion verankert ist und das nicht in andere soziale Räume außerhalb der Gruppe transferiert werden kann (d. h. dort praktisch wertlos ist), in Gefahr gerät. Das kulturelle Kapital, das die „Gesamtheit der kulturell defi-nierten Symbole, Eigenschaften, Fähigkeiten, Mitgliedschaften und Handlungen“ (Esser 1996: 88) umfaßt, ist prekär. Aufgrund der Nichttransferierbarkeit dieses Kapitals ist gerade in Zeiten der Erosion und Transformation von Gesellschaftssystemen die spezifische Gefähr-dung gegeben, dass sämtliche Ressourcen der ethnischen Gruppe ihren Wert verlieren, weil sie anderweitig nicht verwendbar sind.8

Das Motiv ethnischer Konflikte besteht in der Verbindung zweier Momente: Das erste ist das der subjektiven Bedrohung der „kulturellen Grundlage der Alltagsproduktion“, bzw. der „Ge-fährdung der Produktivität der in einer Gruppe geltenden, kontrollierten und nicht ersetzbaren primären Zwischengüter“. (Esser 1996: 91f) Bei letzteren handelt es sich um die in einer Gruppe oder Gesellschaft als „jeweils oberste Ziele geltenden Güter“, nach denen - innerhalb ihres Geltungsbereichs - alle streben, um ihr grundlegendes Bedürfnis nach sozialer Wert-schätzung und physischem Wohlbefinden zu befriedigen. Diese primären Zwischengüter un-terliegen in der Gruppe über das Wertesystem des Prestiges und des Rechtssystems einer

8 In jüngerer Zeit hat auch S. May (2001) eine Verbindung des primordialen und situationalen Verständnisses von Ethnizität mit Rückgriff auf Bourdieu hergestellt. May überträgt Bourdieus Habitus-Konzept von der Klasse auf Ethnizität als eine spezifische Art des Denkens und des Fragenstellens und verbindet dies mit dem Ethnizitätskonzept von A. Smith.

kulturellen Definition, in der festgelegt ist, was höchste Wertschätzung oder tiefste Verach-tung evoziert. Der Wert des kulturellen Kapitals hängt vom Erhalt der jeweiligen institutio-nellen Definition ab:

„Die Symbole des kulturellen Kapitals sind damit viel mehr als 'materiell' eigentlich belang-lose Zeichen. Sie sind der Kern der Definition von Situationen. Im Hintergrund steht ein be-stimmtes System der Verteilung von Rechten und Prestige - und darüber des Wertes, den ein bestimmtes kulturelles Kapital, das ein Akteur oder eine Gruppe kontrolliert, jeweils hat. Weil dieses Kapital oft das einzige Pfand der Akteure zur Produktion der Mittel ist, die für die Be-dienung ihrer Bedürfnisse nach sozialer Wertschätzung und nach physischem Wohlbefinden notwendig sind, ist der Kampf um die Symbole und um deren Bewertung eine oft lebens-wichtige Investition in dieser Produktion“. (Esser 1996: 89, Hervorhebungen im Original)9 Aus dieser Bedrohung ergibt sich - dieses ist das zweite Moment - ein 'Wettlauf um die Defi-nitionsmacht' des Wertes spezifischer Ressourcen, mit anderen Worten, um die Kontrolle der Herrschaft und damit der „Fähigkeit, die 'Verfassung' einer Gesellschaft bestimmen zu kön-nen. Und es ist ja diese Verfassung, die festlegt, ob - etwa - ein Adelstitel, eine bestimmte Hautfarbe oder das Sprechen einer bestimmten Sprache etwas wert ist oder geächtet wird.“

(Esser 1996: 80)10

Das Gefühl der Bedrohung und der daraus resultierende Wettlauf um die Definitionsmacht sind jedoch keine quasi naturgesetzlich gegebenen - primordialen - Phänomene, sondern sie entstehen nur unter bestimmten Bedingungen: Sind die gesellschaftlichen Verhältnisse stabil, bilden sich Gleichgewichte, in denen sich unterschiedliche Bewertungen der kulturellen Ka-pitalien zwischen verschiedenen Gruppen bilden. In diesem stabilen System sind auch mas-sive Ungleichheiten kein Anlaß zur ethnischen Mobilisierung. Die Situation ändert sich aber sofort im Falle der grundlegenden Transformation der Gesellschaften und des Zusammen-bruchs „jener Strukturen, die zuvor die Ruhe in der ethnischen Schichtung bewirkt hatte (sic!)“. (Esser 1996: 93) Die Karten für die Bewertung des kulturellen Kapitals werden neu gemischt; die ethnischen Gruppen werden gleichsam in den Wettlauf gezwungen, um nicht durch 'Zuspätkommen' zwangsläufig zu unterliegen: „Damit lassen sich die Bedingungen für

9 Ähnlich argumentieren Rubenstein/Crocker in ihrer Kritik an Huntingtons These vom 'clash of civilizations'. Nach Ansicht der Autoren sind Konflikte viel eher durch die Mißachtung grundlegender, nicht verhandelbarer Bedürfnisse nach Identität, Zugehörigkeit, Sicherheit etc., zu erklären, als durch kulturelle Differenzen. (Rubenstein/Crocker 1994: 114-18)

10 Vgl. zu diesem Punkt auch Horowitz, der den Kampf um den Staat als sozialpsychologisch motivierten Prozeß von Gruppenvergleich und -konkurrenz interpretiert. Auch bei Horowitz kommt ethnischen Unterschieden gerade in Transformationssituationen Bedeutung zu. Symbolische Streitfragen erhalten zwischen konkurrierenden Ethnien in dieser Situation greifbaren Wert: Eine Sprach - und Staatsbürgerpolitik zugunsten einer (dominierenden) Ethnie zeigt symbolisch wie auch materiell die Dominanz der betreffenden Gruppe und die Minderwertigkeit der unterlegenen insgesamt an - für die

‚breite Masse‘ der dominanten Ethnie läßt sich auch ohne direkten Gewinn, der der Elite vorbehalten bleibt, ein Prestigegewinn ableiten. (Horowitz 1985: 217-30)

das Motiv und für die Ausgangssituation kollektiver Konflikte so zusammenfassen: Es muss sich um die Festlegung der Bewertung von spezifischem und unersetzlichem Kapital einer Gruppe handeln. Und es muss eine im Prinzip offene Situation unter relativ gleich starken Gruppen gegeben sein, bei denen die Gruppen sich Chancen ausrechnen können, ihre jeweili-gen spezifischen Bewertunjeweili-gen gejeweili-gen eine drohende Abwertung durchzusetzen.“ (Esser 1996:

94)

Ethnische Gemeinschaften bringen laut Esser besonders günstige Voraussetzungen zur Mobi-lisierung und Verbreitung des Konflikts mit. Zum einen ist der Anreiz der Teilnahme in ethni-schen Gruppen besonders hoch, da sie über hohe Sanktionsmöglichkeiten verfügen, ein er-hebliches soziales Kapital (über Beziehungsnetzwerke) aktivieren können und außerdem die subjektive Belohnung oft sehr hoch ist. Zum anderen wird die Verbreitung der Bewegung durch die typischerweise hierarchische Struktur begünstigt. (Esser 1996: 95)

Die Verbindung politischer, sozialer und kultureller Aspekte bietet den Vorteil, dass ökono-mische und kulturelle Motive gleichermaßen einbezogen werden und so einseitige Perspekti-ven auflösen. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass nicht mehr - wie bei einseitig ökonomi-schen oder kulturalistiökonomi-schen Ansätzen - im Prinzip nur ein Motiv für die Mobilisierung der Gesamtheit einer Ethnie ursächlich gemacht wird.

In den nächsten Kapiteln wird die Entwicklung der ethnischen Beziehungen in Estland an-hand des hier vorgestellten Modells untersucht.

3. Ethnopolitik und kulturelle Standardisierung - zur