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Benachteiligung der Minderheit - Folge der Systemtransformation oder Folge ethni-

3. ETHNOPOLITIK UND KULTURELLE STANDARDISIERUNG - ZUR FRAGE DER

3.5. T RANSFORMATIONSFOLGEN UND DISKRIMINIERUNG : D IE ÖKONOMISCHE SITUATION DER

3.5.1. Benachteiligung der Minderheit - Folge der Systemtransformation oder Folge ethni-

Estland hat nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes wie viele Nachfolgestaaten der Sowjetunion einen tiefgreifenden Wandel von einer staatssozialistischen zu einer marktwirtschaftlich verfassten Volkswirtschaft erlebt. Die damit verbundenen grundlegenden Reformen und Umbrüche des Wirtschafts- und Sozialsystems führten in sehr kurzer Zeit zum Entstehen und Anwachsen der bis dato zumindest als Massenphänomen unbekannten Arbeitslosigkeit und einer völligen Neustrukturierung der Einkommensverhältnisse sowie zunehmender Armut. (Kulikov 1999; Kutsar 1996). In diesem Abschnitt wird untersucht, wie sich die Arbeitsmarkt- und Einkommenssituation der Esten und der russischen Minderheit seit Gründung des estnischen Staates entwickelt haben.

Die bisher in diesem Kapitel präsentierten Befunde über die Rekonstruktion des estnischen Nationalstaates geben Anlass zu der Vermutung, dass die russische Minderheit in Estland im Zuge der Transformation des Landes zu einer Marktwirtschaft und der anschließenden Konsolidierungsphase auch in ökonomischer Hinsicht benachteiligt worden sein dürfte. Dies erfolgte wesentlich über die Abkehr vom Sowjetsystem und über eine starke Betonung der eigenen Ethnie und der estnischen Kultur. Damit einher ging eine bewusste Benachteiligung der russischen Bevölkerung in kultureller, politischer und rechtlicher Hinsicht. Dass diese Ungleichbehandlung sich nur auf diese Bereiche der Neukonstituierung der Gesellschaft beschränkt und vor den ökonomischen Aspekten Halt gemacht haben soll, erscheint wenig plausibel. Viel eher lässt sich argumentieren, dass die Benachteiligung in kultureller, rechtlicher und politischer Hinsicht sich zwangsläufig auch auf die ökonomische Situation der russischen Bevölkerung Estlands ausgewirkt haben müsste.

Zum einen ist auch in diesem Kontext auf den Bedeutungswandel der Sprache für die soziale und ökonomische Situation des Einzelnen und seiner Angehörigen zu verweisen. Bis zur Gründung des estnischen Staates war es, wie überall in der Sowjetunion, notwendig, die russische Sprache zu beherrschen, um in wichtige politische oder ökonomische Entscheidungspositionen zu gelangen. Auch unter dem Sowjetsystem war Sprache daher ein Instrument zur Machtausübung. Es darf aber nicht übersehen werden, dass sie über diese Funktion hinaus noch eine wichtige andere soziale Funktion hatte: als „lingua franca“ war sie

das kommunikative und soziale Bindeglied und damit einer der wichtigsten Integrationsfaktoren in diesem ethnisch und kulturell sehr heterogenen Staat(enbund). Die sowjetische Zentralregierung hatte daher ein vitales Interesse daran, dass die Bürger der Sowjetunion in allen Republiken und Autonomen Gebieten gute Möglichkeiten zum Erlernen der russischen Sprache vorfanden. Wie gezeigt werden konnte, lässt sich in der Praxis der estnischen Sprachenpolitik zwar die Machtfunktion, nicht aber die Integrationsfunktion von Sprache nachweisen. Ein vitales Interesse des estnischen Staates an einer guten infrastrukturellen Ausstattung des Landes mit Institutionen zur Vermittlung der Landessprache fehlt. Die Landessprache hat in erster Linie einen exklusiven Charakter. Dies muss sich zwangsläufig auch auf die Erwerbs- und Einkommenschancen der russischen Minderheit auswirken.

Zum anderen werden der russischen Bevölkerung durch die Verweigerung des Staatsbürgerschaftsrechts wichtige, früher verfügbare Möglichkeiten der politischen Interessenvertretung und der gesellschaftlichen Teilhabe an der Gestaltung der sozialen und ökonomischen Entwicklung des Landes vorenthalten, was die Wehrhaftigkeit dieser Gruppe gegen als ungerecht empfundene Normen und Verhaltensmuster deutlich reduziert und die Wahrscheinlichkeit, im gesellschaftlichen und politischen Spiel um die Verteilung wichtiger ökonomischer Ressourcen diskriminiert zu werden, deutlich erhöht haben dürfte.

Entsprechend finden sich in der Literatur Hinweise (Norgaard 1996; Ettmayer 1999) darauf, dass viele Angehörige der Minderheit, die nicht in der Lage sind, die Landessprache zu sprechen, dadurch nicht nur am Zugang zu höher qualifizierten Berufsbereichen und ökonomischen oder politischen Schlüsselpositionen gehindert werden, sondern schon Schwierigkeiten haben, in einfacheren Berufen eine Anstellung zu finden. Alle maßgeblichen Untersuchungen über die Veränderung der sozialen Situation der Bevölkerung in Estland50 kommen zu dem Ergebnis, dass die russische Bevölkerung von den Umbruchprozessen und der Wirtschaftskrise stärker betroffen ist als die estnische Bevölkerung. Doch gibt dieser Befund noch keine Antwort auf die Frage, ob dieses Ergebnis als Resultat ethnischer Diskriminierung zu interpretieren ist oder ob andere Ursachen diese stärkere Betroffenheit der Minderheitenethnie erklären können.

50 Hierzu zählen der von der UN jährlich veröffentlichte „Estonian Human Development Report“ (EHDR), verschiedene Surveys, die von dem „Estonian Institute for Market Research“ (EMOR) ab 1992 durchgeführt wurden und die ab Beginn der 1990er Jahre bis 1994 durchgeführten NORBALT-Surveys, die eine umfassende Untersuchung von 4883 Haushalten in Estland hinsichtlich ihrer ökonomischen und sozialen Existenz, sowie ihrer politischen Einstellungen vornahmen.

Gegen die Behauptung einer besonderen ökonomischen Benachteiligung der Nicht-Esten wird mit Recht eingewendet, dass es jenseits der ethnischen Zugehörigkeit eine Vielzahl von Faktoren gibt, die ebenfalls großen Einfluss auf Erwerbs- und Einkommenschancen der Menschen haben, wie beispielsweise Alter, Geschlecht und Bildungsstand, darüber hinaus der ausgeübte Beruf und regionale Disparitäten in der Wirtschaftsstruktur des Landes. (vgl.

Aasland 1996: 106 ff) Kirch und Kirch (1992) und Kirch (1997) behaupten in diesem Kontext deshalb, dass die russische Minderheit in Estland keineswegs gegenüber der Titularethnie benachteiligt sei oder gar bewusst diskriminiert werde, sondern die teilweise stärkere Betroffenheit dieser Gruppe von den ökonomischen und sozialen Folgen der Transformation allein eine Konsequenz regionaler Disparitäten des Landes sei. Die russische Bevölkerungsgruppe konzentriere sich neben Tallinn in erster Linie auf den Nordosten (Ida-Viru), dessen Wirtschaftsstruktur sehr stark von der Industrie (Uran- und Ölschieferabbau, Energiegewinnung) dominiert ist. Infolgedessen, so Kirch und Kirch, herrschten unter den Angehörigen der russischen Minderheit traditionell Industrieberufe vor, die durch den in der Transformation extrem beschleunigten Strukturwandel zu einer Dienstleistungsgesellschaft mehr und mehr an Wert verlören und nicht mehr in dem Masse nachgefragt würden, wie sie von dieser Bevölkerungsgruppe am Arbeitsmarkt angeboten würden. Die Esten hingegen wiesen eine breitere regionale und berufliche Verteilung auf als die russische Minderheit und seien aus diesem Grunde besser in der Lage, sich an die Erfordernisse der sich modernisierenden Volkswirtschaft anzupassen.

In diesen Widersprüchen offenbart sich die besondere Problematik einer Analyse der sozioökonomischen Situation unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen eines Landes unter den Bedingungen einer grundlegenden Systemtransformation. Weil eine solche Transformation die gesamte Bevölkerung trifft, wird die Beurteilung der Lage einzelner Gruppen oder Personen in der Gesellschaft erschwert: Ohne eine sehr tiefgestaffelte Analyse der Entwicklungen in beiden Gruppen ist es nicht möglich, ein bei einem Individuum beobachtetes Phänomen wie Arbeitslosigkeit oder Armut immer eindeutig als (allgemeine ökonomische) Folge der Transformation oder als (politisch induzierte) Folge seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe zu bestimmen. Eine im Verhältnis zu anderen ethnischen Gruppen höhere Betroffenheit von Arbeitslosigkeit oder Armut in einer Ethnie kann daher unter diesen Bedingungen höchstens als mehr oder weniger vager Hinweis auf ethnisch bedingte Diskriminierung interpretiert, nicht aber als ihr Beweis angeführt

werden.

Diese Restriktion gilt andererseits aber auch für das von Kirch und Kirch (1992) und Kirch (1997) vorgebrachte Argument: Aus der Überlagerung eines anderen Faktors mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe und einer stärkeren Betroffenheit dieser Gruppe von Armut oder Arbeitslosigkeit darf nicht geschlossen werden, dass die ethnische Zugehörigkeit gar keine Rolle für die Benachteiligung dieser Gruppe spielt.

Ob in Estland eine ethnisch bedingte Diskriminierung der russischen Minderheit im ökonomischen Bereich vorliegt oder aber eine stärkere Betroffenheit dieser Gruppe von negativen Folgen des Umbruchprozesses anderen Faktoren zuzuschreiben ist, ließe sich methodisch einwandfrei nur durch die Gegenüberstellung von im Hinblick auf Faktoren wie Alter, regionale Herkunft, Bildung etc. vergleichbaren Gruppen beider Ethnien ermitteln. Eine solche Analyse jedoch ist bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht durchgeführt oder zumindest noch nicht veröffentlicht worden, obwohl die erwähnten Studien und auch die dem Statistical Office of Estonia vorliegenden Daten eine solche Analyse ohne weiteres zuließen.

Aufgrund dieses Mangels ist eine eindeutige und abschließende Klärung dieser Frage auch in dieser Arbeit nicht möglich, zumal hier nicht eine Momentaufnahme der ökonomischen Lage der beiden ethnischen Hauptgruppen Estlands an einem bestimmten Zeitpunkt interessiert, sondern die Entwicklung der ökonomischen Situation über einen mehr als zehn Jahre umfassenden Zeitraum. Da eine umfassende Analyse nicht möglich ist, wird im folgenden mittels der verfügbaren Daten, die einen Vergleich beider ethnischer Gruppen erlauben, eine annäherungsweise Klärung des Sachverhalts unternommen.51

Vor der Präsentation der Ergebnisse dieser Analyse ist es jedoch notwendig, Kennzeichen, Verlauf und Folgen des Transformationsprozesses in Estland allgemein darzustellen. Erst auf dieser Grundlage lässt sich ermessen, inwieweit Entwicklungen der sozialen Lage der Angehörigen der beiden ethnischen Gruppen dem allgemeinen Wirtschaftsverlauf folgen und wo deutliche Abweichungen zum allgemeinen Trend auftreten. Solche Abweichungen sollen als Indikatoren ethnischer Diskriminierung im sozialen und ökonomischen Wandel des

51 Die im Folgenden verwendeten Daten entstammen im wesentlichen dem Statistical Office of Estonia und Surveys über die soziale Lage in Estland, die von verschiedenen anderen Institutionen durchgeführt wurden. Sie erlauben Aussagen über die Entwicklung des Erwerbspersonenpotentials, der Erwerbstätigkeit, der Arbeitslosigkeit und der Inaktivität in beiden ethnischen Gruppen. Darüber hinaus sind schlaglichtartig Aspekte der Einkommenssituation von Esten und Nicht-Esten darstellbar. Faktoren wie Alter, Geschlecht, Bildung sowie Berufsausbildung oder Wohnort (Region) sind nicht nach ethnischer Zugehörigkeit aufzugliedern gewesen.

Landes angesehen werden.

3.5.2. Radikale Durchsetzung von Marktprinzipien - Kennzeichen des estnischen