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Kulturelle Desintegrationsspirale: Sprachanforderungen und Bildungssystem

3. ETHNOPOLITIK UND KULTURELLE STANDARDISIERUNG - ZUR FRAGE DER

3.4. E IN STAAT - EINE KULTUR : S PRACHE ALS M EDIUM KULTURELLER STANDARDISIERUNG IN ESTLAND

3.4.2. Kulturelle Desintegrationsspirale: Sprachanforderungen und Bildungssystem

gewährt, wenn sie die Landessprache sprechen, dann werden die Fragen, inwieweit die Betroffenen auch tatsächlich in der Lage sind, die an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen, und was der Staat unternimmt, um einen Spracherwerb zu ermöglichen, von entscheidender Bedeutung für die Existenzbedingungen der Minderheit.

Der estnische Staat ist sich seiner Verantwortung dafür, die erhobenen Sprachanforderungen durch entsprechende Infrastrukturen und Angebote zum Erlernen des Estnischen zu flankieren, durchaus bewusst. Wie auch die anderen baltischen Staaten hat Estland sich verpflichtet, für kostenlosen oder kostengünstigen Sprachunterricht für den Teil der Bevölkerung zu sorgen, der der Landessprache nicht mächtig ist. Die dargestellten regionalen Unterschiede im Sprachgebrauch und der Chancen zum Spracherwerb verdeutlichen dabei, dass die Konsequenzen der Sprachpolitik in der regionalen Verteilung besonders prekär sind und dass Angebote und Intensität von Sprachunterricht diesen Unterschieden Rechnung tragen müssten.

Ein solches, an den vorfindbaren Strukturunterschieden und den unterschiedlichen Bildungsbedarfen verschiedener Gruppen innerhalb der Minderheiten orientiertes Programm zur Vermittlung der Landessprache existiert jedoch nicht. Estland hat für den Bildungsbereich zwar Minderheitenschutz zugesagt, und auch das Recht auf muttersprachlichen Unterricht ist ausdrücklich garantiert. Darüber hinaus ist auch die Einrichtung privater muttersprachlicher Bildungsinstitutionen zugelassen, welche sich an den staatlichen Lehrplan zu halten haben und damit auch in dieser Hinsicht zu einer verbesserten Integration der Minderheit beitragen.

Dabei muss die Initiative für die muttersprachliche Ausbildung aber von den Betroffenen selbst übernommen werden: Das Gesetz über die Grund- und weiterführende Ausbildung des Staates Estland legt fest, dass die Sorge für die weiterführende Ausbildung in anderen

Sprachen als Estnisch den Minderheiten selbst obliegt. (Berg 1999: 43) Den Forderungen von Mitgliedern der russischen Minderheit nach staatlicher Unterstützung für kulturelle Aktivitäten wurde seitens der estnischen Regierung nur mit dem Verweis begegnet, dass die Minderheiten selbst für ihre Erhaltung und Finanzierung zu sorgen hätten (ebd.).

Grundsätzlich muss man bei der Analyse der Umsetzung der Sprachgesetze in entsprechende Bildungsangebote zwei unterschiedliche Zielgruppen berücksichtigen. Zum einen die erwachsenen und schon erwerbstätigen Angehörigen der anderssprachigen Minderheiten, für die spezielle Bildungsangebote und Infrastrukturen erst neu geschaffen werden müssen, zum anderen die junge Generation in dieser Gruppe, die über entsprechende Angebote im vorhandenen Erziehungs- und Bildungssystem, etwa in Kindergärten und Schulen, die Sprache erlernen kann. Beide Teilaspekte werden im Folgenden analysiert.

Gerade für Erwachsene, die durch die verschiedensten Anforderungen am Arbeitsmarkt auf Sprachunterricht angewiesen und die aufgrund der neuen Sprachanforderungen sehr stark von Dequalifizierung bedroht sind, gestalten sich die Bedingungen zum Erlernen der estnischen Sprache schwierig. So wird im Staatsprogramm aus dem Jahr 200040, mit dem die Integrationschancen der Minderheiten in Estland verbessert werden sollten, klar festgestellt, dass den Anforderungen an Sprachkenntnisse die Möglichkeiten zum Spracherwerb nicht entsprechen. (SP: 61f) Hierfür werden verschiedene Ursachen genannt: Qualifizierte Sprachlehrer sind Mangelware41 und die Lerngruppen sind zu heterogen:42 In die Sprachkurse drängen nicht nur Menschen, die für die Anforderungen am Arbeitsplatz Sprachunterricht nehmen, sondern auch Schüler und Studenten von berufsbildenden Schulen und Universitäten, die die Sprachauflagen staatlicher Curricula erfüllen müssen. Außerdem entspricht weder das öffentliche noch das private Angebot an Sprachkursen den spezifischen Bedürfnissen der Lernenden. Es gibt bisher offensichtlich keine Kurse, die auf die Kommunikation im beruflichen Umfeld zugeschnitten sind.43 Darüber hinaus sind die Länge

40 Dieses Integrationsprogramm wird an späterer Stelle gesondert erörtert.

41 Die niedrigen Einkommen der Lehrer und die mangelnden Weiterbildungsmöglichkeiten für Lehrer sind ein generelles Problem – gegenwärtig existieren nur drei Einrichtungen in Tartu, Tallinn und Narva: „...these institutions repeatedly fail to attract or graduate enough Estonian teachers for Russian schools“ (Brown 2001: 7). Das geringe Gehalt (etwa 175$

monatlich) bietet ebenfalls keinen Anreiz. Als Resultat verfügen nur 5% der Estnischlehrer an russischen Schulen über eine höhere pädagogische Ausbildung im Fach Estnisch als Fremdsprache (ebd.).

42 Das Problem des Lehrermangels und der ungenügenden Abstimmung auf die Bedürfnisse der Zielgruppen wird auch explizit in der Evaluation der sozialen Integrationsprojekte Estlands angemahnt. In der Erwachsenenbildung wird eine stärkere Konzentration auf Integrationsaktiviäten außerhalb des Sprachtrainings empfohlen. (Hopkins/Elenurm/Feldman (2000): Mid-Term Evaluation Of Social Integration Projects In Estonia, Tallinn: 6)

43 Das zeigt sich daran, dass im Integrationsprogramm ausdrücklich die Einrichtung solcher Kurse als Zielvorgabe formuliert wird. (SP 2000:39)

und Intensität der angebotenen Kurse für das Ablegen der Sprachprüfung im Rahmen der Staatsbürgerschaftsbeantragung nicht ausreichend. In der Regel werden Kurse von 50-60 Stunden angeboten. Die Autoren des Integrationsprogramms weisen in diesem Zusammenhang auf Erfahrungswerte englischer Sprachlehrinstitutionen hin, nach denen der Erwerb von Anfängerkenntnissen bereits 180-200 Stunden erforderlich macht und 370-400 Stunden für die Überwindung der Kommunikationsschwelle notwendig sind.(SP: 63)

Nach Schätzungen des Narva Regional Language Centre von 1998 braucht ein Anfänger ohne Vorkenntnisse sogar etwa 300 Stunden (d.h. ungefähr anderthalb Jahre) um das erforderliche Sprachniveau für den Staatsbürgerschaftstest zu erlangen. Die Kosten dafür betragen etwa 3000 estnische Kronen (EEK) (das durchschnittliche monatliche Einkommen lag 1998 bei 1.801 EEK, die monatliche Arbeitslosenunterstützung bei 300 EEK) Diese Zahlen zeigen, dass die Finanzierung der Kurse für die meisten Russen ein unüberwindliches Hindernis darstellt. Die estnischen Autoritäten ignorieren diese Fakten. Der estnische Staat bietet keinen kostenlosen Sprachunterricht für Erwachsene mehr an. (Norgaard 1996: 203) Die OSZE-Mission unterstützte angesichts dieser Lage Sprachunterricht für Krankenschwestern, Lehrer und Personal der öffentlichen Verwaltung, also für Beschäftigungsgruppen, deren Relevanz auch von der estnischen Regierung nicht bestritten werden kann. Die OSZE-Mission wandte sich an den Europarat, um Unterstützung für ein Projekt zu gewinnen, in dem Krankenschwestern im Krankenhaus von Kothla-Järve (Ida-Virumaa) ein spezielles Sprachtraining erhalten sollten. Die Situation des Krankenhauspersonals ist charakteristisch für die scheinbar auswegslose Situation der russischen Beschäftigten, die von den estnischen Sprachgesetzen betroffen sind:

„Due to the Estonian language laws, more than half of the 301 nurses need language training in order to be allowed to continue to work but cannot afford to pay for the courses because of their low salaries”. (Birckenbach 2000: 52f)

Auch in anderen Bereichen sind Veränderungen nur schwer zu bewirken.

Die Sprachsituation in der öffentlichen Verwaltung ist nicht viel besser. Um Abhilfe zu schaffen wurde das Projekt „Education of Russian-Speaking Students of Estonia in Public Administration” initiiert. Finanziert wurde es vom EU-Phare-Programm, der Technischen und der Pädagogischen Universität in Tallinn und westeuropäischen Universitäten. Der estnische Staat vergab die Stipendien zunächst ausschließlich an Staatsbürger, später auch an Nicht-Staatsbürger unter der Bedingung, dass sie Estnisch sprechen. Die Verwaltung im Nordosten profitierte nicht von dem Projekt – Studenten mit Estnischkenntnissen sind in der Regel nicht

motiviert, im russischsprachigen Nordosten auf Jobsuche zu gehen. „Consequently, it is increasingly difficult to find trained employees who can contribute to the modernisation of public administration in Northeast Estonia”. (Birckenbach 2000: 53)

Nicht überall wurde und wird versucht, die geforderten Sprachkenntnisse zu vermitteln -während die Angestellten in öffentlichen Verwaltungen oder Krankenhauspersonal v.a. im Nordosten praktisch nicht zu ersetzen sind, sind die sprachlichen Anforderungen auf der anderen Seite ein Trumpf gegenüber den Arbeitern und Angestellten, die im Prozess des wirtschaftlichen Umbruchs 'überflüssig' geworden sind:

„According to the Estonian authorities, most dismissals have occurred in the private sector, where companies use the language requirement as a means of discharging superfluous workers“. (Norgaard 1996: 181)