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Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren ethnischer Mobilisierung vor der Unabhängigkeit

4. ETHNISIERUNG POLITISCHER KONFLIKTE - UNABHÄNGIGKEITSBEWEGUNG

4.2.3. Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren ethnischer Mobilisierung vor der Unabhängigkeit

diesem Zusammenhang dominiert ist, ließen sich Informationen über die Auflösung der Organisationen der russischen Bevölkerung nur in Expertengesprächen vor Ort recherchieren.

Danach hatten die Organisationen, in denen sich die Minderheiten engagiert hatten, den Putsch unterstützt und verloren nach dessen Scheitern jedwede politische Legitimität und Handlungsfähigkeit. Aufgrund der Diskreditierung seiner Führer löste sich der JCLC nach den Ereignissen im August 1991 auf. Er geriet ebenso wie die Interfront wegen aktiver Unterstützung des Putsches ins politische Abseits. Die Funktionäre wurden ihrer Posten in Staat und Wirtschaft enthoben. Der letzte Vorsitzende des JCLC, Shepelevich, wurde sogar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

4.2.3. Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren ethnischer Mobilisierung vor der Unabhängigkeit

Abschließend sollen die Prozesse der Mobilisierung der beiden ethnischen Gruppen im Hinblick darauf bewertet werden, welche Faktoren für den unterschiedlichen Erfolg der estnischen und der russischen Organisationen bei der Mobilisierung ihrer jeweiligen Ethnie verantwortlich waren.

Die Gründe dafür, warum die Mobilisierungsstrategie der estnischen Elite bei nahezu der gesamten estnischen Bevölkerung verfing, liegen auf der Hand. Das von den estnischen Eliten als eine Möglichkeit der Lösung der wirtschaftlichen und politischen Krise der Sowjetunion allgemein und der ESSR im besonderen propagierte „Nationalisierungsprojekt“ appellierte an von der Sowjetmacht unterdrückte, aber nie verlorene identitätsstiftende Bezugspunkte der Gruppe wie die Selbständigkeit Estlands zwischen den beiden Weltkriegen oder die Entdeckung der eigenen Nation als Opfer sowjetischer Okkupation nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Betonung des Ethnisch-Nationalen bedeutete per se den Ausschluss der nicht-estnischen Bevölkerung. Darüber hinaus wurde diese jedoch auch noch negativ mit den

„Okkupanten“ allgemein und den Vertretern und Statthaltern des ungeliebten Sowjetsystems identifiziert, was die Kluft, die die Esten von der russischen Bevölkerung des Landes trennte, noch vertiefte. Wenn es sich in der schließlich nationalistisch dominierten

Unabhängigkeitsbewegung auch nicht um eine originär gegen die russische Minderheit gerichtete Ethnisierung handelte, wurden letztere dennoch – vermittelt durch die Ablehnung der Sowjetunion – zu den Opfern der estnischen Unabhängigkeit.

Die russische Elite scheiterte jedoch gerade in den Punkten, in denen die estnische Elite durchschlagenden Erfolg hatte: Sie konnte keine Themen artikulieren, die an die ethnische Identität der russischen Bevölkerung appellierten und die Gruppe als ganzes einte. Zu beobachten war vielmehr von Anfang an eine Zersplitterung von Interessen und Organisationsstrategien. Ein Teil der Elite, vorwiegend politische und ökonomische Kader, blieb pro-russisch-sowjetisch, hielt sich von den neuen politischen Organisationen fern und war am Erhalt des status quo interessiert. Es ist zu vermuten, das aus dieser Gruppe im Verlauf der zunehmend ethnisierten politischen Auseinandersetzung um den zukünftigen Status des Landes und der beiden Bevölkerungsgruppen die radikal anti-estnischen Organisationen der russischen Bevölkerung hervorgingen.93 Ein dritter Teil der Elite schloss sich der Unabhängigkeitsbewegung an – insbesondere über die Volksfront – und lässt sich eher als pro-sowjetisch-estnisch bezeichnen. Trotz einiger offensichtlicher Erfolge von Interfront, JCLC und Interregionalem Sowjet bei der Mobilisierung der russischen Bevölkerung herrscht bei den im Rahmen dieser Arbeit befragten Experten Einigkeit darüber, dass diese Organisationen es im Gegensatz zu ihren estnischen Pendants nicht geschafft haben, die russische Bevölkerung des Landes dauerhaft für ihre radikal anti-estnischen Ziele zu mobilisieren. (vgl. auch Hallik 1997: 98 f)

Zu erklären bleibt letztlich, warum die breite Masse der russischen Bevölkerung in Estland ihrer alten Elite die Gefolgschaft verweigerte. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass die russische Minderheit schon vor der Unabhängigkeit Estlands hinsichtlich ihrer ethnischen Zusammensetzung, ihres Staatsbürgerschaftsstatus, ihrer kulturellen Orientierungen und ihrer politischen Perspektiven zu heterogen gewesen sei als dass sie für ein gemeinsames politisches Ziel zu einen und zu organisieren gewesen wäre.

Dadurch sei von vornherein das Potential aktivierbarer ethnischer Identität in der Gruppe sehr begrenzt gewesen. (Smith 1998: 5; Vihalemm 1999: 19) Dieser Erklärungsansatz wendet sich strikt gegen die vor allem von radikalen russischen Organisationen wie der Interfront

93 Über den genauen Hintergrund der einzelnen Organisationen und ihrer Entwicklung gibt es keine Veröffentlichungen. Die hier angeführten Überlegungen basieren auf subjektiven Beobachtungen und Einschätzungen der in Estland befragten Experten. Sie müssen daher zu einem gewissen Grad spekulativ bleiben, können jedoch auch ein hohes Maß an Plausibilität für sich in Anspruch nehmen.

vertretene Meinung, in Estland existiere eine kulturell homogene russophone Gruppe, die geschlossen Diskriminierung und Exklusion durch die Esten ausgesetzt sei. Diese Auffassung wird von Smith (1998: 5) sogar dezidiert als Rhetorik Moskauer Strategen bezeichnet (Smith ebd.)

Die Betonung der ethnischen und kulturellen Heterogenität der Gruppe erscheint mit Blick auf einige ihrer Strukturmerkmale jedoch wenig plausibel. Wie schon in der Einleitung dieser Arbeit gezeigt, rechtfertigen es die demographischen Verhältnisse von einer „russischen“

Minderheit zu sprechen, auch wenn damit Ukrainer, Weißrussen und Angehörige anderer Nationalitäten nicht explizit gemacht werden, die darüber hinaus (als Erbe der sowjetischen Zeit) zum größten Teil eher Russisch als Estnisch sprechen. (Hanne/Onken/Götz 1998: 318f) Zumindest in Bezug auf die Ausgrenzung über die Sprache erleben sie eine Gemeinsamkeit mit der russischen Bevölkerung Estlands.

Die Ursache für den ausbleibenden Mobilisationserfolg der russischen Minderheit in Estland wird hier deshalb nicht in deren internen Strukturunterschieden gesehen, sondern in der mangelnden Kongruenz von politisch-wirtschaftlichem Interesse einerseits und ethnischem Interesse andererseits. Um diesen Ansatz zu erläutern, bedarf es eines Rekurses auf den estnischen Mobilisierungserfolg. Ausgangspunkt ihrer politischen Mobilisierung war die politische und wirtschaftliche Krise des Landes. Um ihre Lage zu verbessern, konnten die Esten auf eine Reform der Sowjetunion und des Status der ESSR in dieser Föderation drängen. Unter den Bedingungen von Glasnost und Perestrojka bot sich ihnen aber auch die Alternative, auf die ethnische und nationale Eigenständigkeit zu verweisen und sich damit vom sowjetisch-russischen System zu distanzieren, das als Ursache der Krisenlage angesehen wurde. Die Aktualisierung der latenten ethnischen Identität war somit ein Mittel, aus den Zwängen und Krisen des Sowjetsystems zu entfliehen und die eigene politische und ökonomische Situation zu verbessern.94 Politisch-ökonomisches und ethnisches Interesse waren bei den Esten vollständig kongruent.

94 In dem zähen politischen Kampf um die wirtschaftliche Selbständigkeit Estlands innerhalb der Sowjetunion offenbarte sich die wachsende Macht der Peripherie gegenüber der maroden Zentralmacht. Das am 27. November 1989 vom obersten Sowjet der UdSSR verabschiedete Gesetz „Über die wirtschaftliche Selbständigkeit der Litauischen SSR, der Lettischen SSR und der Estnischen SSR“ wurde in Estland als Sieg gefeiert und von Väljas mit den Worten kommentiert: „Der Weg zu unserer Selbständigkeit und Souveränität ist geöffnet“. (zit. n. Brettin 1995: 116) Der Oberste Sowjet hatte indes kaum eine Chance, diesen Sieg, d.h. die Verknüpfung von ökonomischen und ethnischen Zielen, zu verhindern. Die sich verschlechternde Wirtschaftslage und der daraus immer offener zu Tage tretende Unmut in der Bevölkerung ließ die estnischen Spitzenpolitiker zu zwar suspekten, aber dennoch unverzichtbaren Krisenhelfern werden.

Die Russen in Estland waren von der politischen und ökonomischen Krise genauso betroffen wie die Esten. Die Verbesserung zumindest ihrer ökonomischen Lage konnten sie sich angesichts der abgewirtschafteten Planungsökonomie am ehesten von der estnischen Lösungsstrategie erhoffen, die den status quo als Sowjetrepublik massiv in Frage stellte.

Dabei konnten sie allerdings kaum auf ihre Identität als Russen oder als „Sowjetvolk“ setzen, womit sie sich selbst auf den juristischen, politischen und territorialen Bereich Russlands oder der Sowjetunion verwiesen hätten. In der Tat sind sie von den in genau dieser Logik denkenden und handelnden Esten in dieser Phase - und später mit den Sprach- und Staatsbürgerschaftsregelungen - immer wieder auf diesen Bereich verwiesen worden. Wollten sie sich selbst also nicht die Legitimation nehmen, in Estland zu bleiben, so war es für die Angehörigen der russischen Minderheit mehr als riskant, ihre gesellschaftlichen Partizipationsrechte unter Verweis auf ihre ethnische Zugehörigkeit einzufordern. Pro-sowjetische konservative Bewegungen wie die Interfront, die sich in einer sowjetideologischen Terminologie (Brettin 1995: 162f) für den Erhalt des alten wirtschaftlichen und politischen status quo einsetzte, stellte dazu keine Alternative dar und schürte Konfrontationen zwischen estnischer und russischer Bevölkerung, an denen der überwiegende Teil der Minderheit nicht interessiert sein konnte. Politisch-ökonomisches Interesse und ethnisches Interesse waren also im Falle der russischen Minderheit nicht kongruent.

Dieser Erklärungsansatz lässt sich nicht allein aus den Prozessen vor der estnischen Unabhängigkeit ableiten und belegen, weil in dieser Phase nur sehr wenige Untersuchungen über die entsprechenden Interessen- und Motivlagen der russischen Minderheit durchgeführt worden sind. Im folgenden Kapitel wird anhand von Daten aus den 1990er Jahren deutlich, dass offensichtlich die wesentlich günstigere Einschätzung der wirtschaftlichen Lage in Estland im Vergleich zu der Russlands oder den Rest der Sowjetunion sowie die Tatsache, dass viele Angehörige der russischen Minderheit kaum oder keine Beziehungen zu Russland hatten, maßgeblich den Bleibewillen der Russen in Estland motiviert haben dürften. Was sich jedoch schon für die Phase vor der Unabhängigkeit zeigen lässt, ist die im Zuge der sich 1990 verschärfenden Konfliktstellung zwischen der ESSR und der Moskauer Zentralregierung zunehmende Unterstützung des Ziels der staatlichen Unabhängigkeit Estlands durch die russische Minderheit. Gefragt nach dem erwünschten politischen Status des Landes für die Zukunft sprachen sich im April 1989 54% der nicht-estnischen Befragten (Esten: 2%) für den Erhalt des status quo, 25% (39%) für die Unabhängigkeit innerhalb des sowjetischen Bundes, und nur 5% (56%) für einen völlig unabhängigen Staat aus. Bis zum Mai 1990 hatten sich

diese Präferenzen erheblich verändert. Nur noch ein Fünftel der Nicht-Esten wünschte sich den Verbleib Estlands in der Sowjetunion, 46% votierten für Unabhängigkeit im Staatenbund und mehr als ein Viertel (26%) wollte Estland als unabhängigen Staat außerhalb der Sowjetunion sehen. Die Esten sprachen sich zu diesem Zeitpunkt schon mit überwältigenden 96% für die letzte Option aus. (Kivirähk 1991, zit. nach Lauristin/Vihalemm 1997: 91: Kirch 1995: 44) Bei aller ethnischer Konfliktstellung, die ja vor allen Dingen von der estnischen Bevölkerung ausging, war nur ein Jahr vor der Unabhängigkeit des Landes und auf dem Höhepunkt der ethnischen Auseinandersetzungen einer großen Mehrheit der russischen Bevölkerung der Verbleib in einer unabhängigen Republik Estland und die Schwächung der Macht der Moskauer Zentralregierung lieber als die radikalen pro-sowjetischen und anti-estnischen Ziele der Interfront, des JCLC und des Interregionalen Sowjets. Genau hierin drückt sich die behauptete mangelnde Kongruenz von ethnischem und politisch-ökonomischem Interesse aus, und genau hierin liegt die zentrale Ursache, warum diese Organisationen darin versagten, ihre Ethnie dauerhaft zu mobilisieren.

Nach Steen (1997.34) bedeutete der Zusammenbruch des alten Regimes und der Weg in die estnische Unabhängigkeit sowohl für Esten wie für Russen zunächst den Verlust der Sowjet-Ideologie als kohärentem Identifikations- und Legitimationsmuster. Im Gegensatz zu den Russen jedoch blieb für die Esten dieser Verlust nicht ohne Ersatz: Anstelle der sowjetisch-ideologischen Kohärenz trat bei ihnen die Kohärenz des estnischen Nationalismus als neues Identifikations- und Legitimationsmuster. Viele Vertreter der alten sowjetischen Nomenklatura, wie Edgar Savisaar oder Arnold Rüütel, konnten sich im Umbruch der estnischen Volksfront anschließen und später radikal für die Unabhängigkeit votieren. Für die Russen bedeutete das Votum für eine estnische Unabhängigkeit unter ethnisch gefasster Definition von „Nation“ den fast vollständigen Verlust ihres sozialen, rechtlichen und kulturellen Bezugsrahmens ihres Selbstverständnisses.

5. Die Entwicklung der ethnischen Beziehungen nach der