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Estnisch als Schlüssel zur Integration? Zu den Ergebnissen der Sprachpolitik

3. ETHNOPOLITIK UND KULTURELLE STANDARDISIERUNG - ZUR FRAGE DER

3.4. E IN STAAT - EINE KULTUR : S PRACHE ALS M EDIUM KULTURELLER STANDARDISIERUNG IN ESTLAND

3.4.5. Estnisch als Schlüssel zur Integration? Zu den Ergebnissen der Sprachpolitik

Sprachumfeld oder die sprachlichen Beziehungen verändert. Eine Schätzung zeigt, dass die Staatsbürgerschaft bisher von 75.000-78.000 Nicht-Esten erlangt wurde, dass aber nur 43.000, eingeschlossen die eingebürgerten Esten, die Sprachprüfung bestanden. Der Anteil der aufgrund von Sprachkenntnissen eingebürgerten Personen sinkt schneller als die durchschnittliche Einbürgerungsgeschwindigkeit - 1997-1998 waren es nur 29%. In den ersten 8 Monaten von 1999 stieg die Zahl auf 43%. Nach soziologischen Studien haben zwar die nicht-estnischen Staatsbürger deutlich bessere Sprachkenntnisse als die russischen oder staatenlosen Einwohner, allerdings sind die Hälfte von ihnen z.T. seit Generationen in Estland ansässig und nicht nach dem Gesetz von 1992 naturalisiert. Die meisten von ihnen (nach dem Zensus von 1989 etwa 90.000) hatten schon zuvor keine Probleme mit dem Estnischen. Wenn diese Zahlen ungefähr korrekt sind, ist der Anteil der Naturalisierungspolitik an der Änderung der Sprachsituation sehr bescheiden:

„There is reason to presume that it was the people who could already speak the language to some degree who underwent naturalization. Therefore, the language test needed for naturalization is not currently affecting the extension of the language usage areas.“ (EHDR 1999)

Änderung der Situation ist am ehesten von neuen, jungen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu erwarten, die systematischen Sprachenunterricht in Grund- und weiterführenden Schulen erhalten. Dies wird durch eine Änderung des Sprachengesetzes vom Februar 1999 erleichtert. Hier ist vorgesehen, dass die Abschlussexamen in Estnisch an Grund- und Sekundarschulen mit den für Beschäftigungsverhältnisse relevanten Sprachtests und dem späteren Einbürgerungssprachtest kombiniert werden.

Nach einem Zensus von 1989 sprachen ungefähr 15% der russischen Bevölkerung in Estland Estnisch. Die Sprachenpolitik Estlands setzte seit der Unabhängigkeit auf die Absicherung der Dominanz der estnischen Sprache. 9 Jahre dieser konsequenten Politik haben bei den Russen weniger Anpassungserfolg gezeigt, als erwartet: Nach einer kürzlich durchgeführten soziologischen Umfrage in Tallinn sprachen nur 29% der ansässigen Russen Estnisch. Unter den Russen mit estnischer Staatsbürgerschaft ist der Anteil entschieden höher: 68% geben an, über Sprachkenntnisse zu verfügen, aber nur 35% von ihnen beherrschen Estnisch auf einem höheren Niveau als ‚etwas verstehen und sprechen können’.

Sprache kommt eine so hohe Bedeutung zu, weil die Sprachkompetenz, bzw. das Erlernen der Sprache unmittelbar mit dem Naturalisierungsverfahren verbunden ist. Die Sprachenpolitik (dies ist eine der bedeutungsvollsten Konsequenzen) verschärft auch bereits bestehende spezifische Formen räumlicher Segregation zwischen den Ethnien. Als besonders problematisch erwiesen sich die Sprachregelungen in den Regionen, die überwiegend russisch besiedelt ist und wo sich entsprechender Protest regte. Dies gilt v.a. für den Nordosten Estlands. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist, dass in diesen Regionen zwar die Möglichkeit besteht, Sprachkurse zu besuchen, es für die erworbenen Kenntnisse aber im Alltag praktisch keine Anwendungsmöglichkeiten gibt. Die Sprachprüfungen sind in diesen Gebieten damit eine noch höhere Hürde als in den anderen Landesteilen und setzen die Bildungschancen der Bevölkerung in diesen Gebieten noch stärker herab. Zudem bleiben ihnen durch die Sprachregelung Beschäftigungen verwehrt, für die sie in ihrer russischsprachigen Umgebung die estnische Sprache nicht benötigen.

Ein linguistische empirische Untersuchung der Universität Tartu von 1997 weist die geringe sprachliche Kompetenz der russischen Bevölkerung in Ida-Viru nach. (Vihalemm 1999) Nach den untersuchten Altersgruppen gegliedert verfügt die mittlere Gruppe der 24-32jährigen über die geringsten Estnischkenntnisse, die Gruppe der jüngsten im Schulalter (15-23 Jahre) und die Gruppe der 33-40 jährigen liegen ungefähr gleich auf. In den letzten beiden Gruppen geben aber auch weit über die Hälfte der Befragten an, nur minimal oder sehr begrenzt auf Estnisch zu kommunizieren (62 %, bzw. 57%). Unter den Regionen Tallinn, Tartu und den Städten Ida-Virus schneidet wiederum der Nordosten am schlechtesten ab – 94% der 140 Befragten geben an, selten bis nie auf Estnisch zu kommunizieren.

Diese Ergebnisse weisen nicht darauf hin, dass sich in den eher isolierten russischen Sprachregionen die Sprachkenntnisse verbessern werden (gerade die jüngere Generation verfügt nur sehr eingeschränkt über Sprachkenntnisse). Offensichtlich, so die Studie, entstanden im Laufe der letzten 10 Jahre auch keine linguistischen ‚Pufferzonen‘, in denen Personen mit Passivkenntnissen ihre Sprachkenntnisse verbessern konnten:

”The environment where the vast majority of younger Russians operate has a concentric (e.g.

centering around one’s workplace or school) and relatively closed character. Communication in Estonian is for each speaker likely restricted to certain spheres and partners”. (Vihalemm 1999: 34)

In diesem Zusammenhang ist es auch nicht verwunderlich, dass die Motive der russischsprachigen Gruppe, Estnisch zu lernen, in erster Linie instrumentellen Charakter haben, während integrative Aspekte unwichtiger geworden sind.

Nach Einschätzung von Vihalemm hat die Forcierung der estnischen Sprache innerhalb der russischen Gemeinschaft einerseits zwar eine kleine Gruppe Estnischsprechender hervorgebracht, die stärker integriert sind und sich nicht in erster Linie als ‚Nicht-Esten‘

identifizieren, andererseits wird diese Entwicklung sich umkehren, wenn sich auf staatlicher Ebene keine Veränderung der Sprachenpolitik einstellt, die eine effektivere Integration der russischen Minderheit bewirkt. (Vihalemm 1999: 35)

Hinsichtlich des Sprachpotentials der jüngeren Generation kommen auch Anderson/Silver/Titma u.a. (1996) zu ähnlichen Ergebnissen. In einer Untersuchung der interethnischen Beziehungen in Estland kommen sie bezüglich der Sprachenverhältnisse zu dem Resultat, dass sich zwischen den Generationen eine wesentliche Kluft auftut – die jeweils ältere Generation unter den Esten und Russen verfügt nach eigener Auskunft über bessere Kenntnisse des Russischen bzw. Estnischen als die jüngere Generation der jeweiligen ethnischen Gruppe. Die schlechteren Russischkenntnisse auf Seiten der jungen Esten sind z.T.

erklärbar – Russisch ist nicht mehr die verbindliche erste Sprache und zumindest für die jungen estnischen Männer fällt der sprachliche Anpassungsdruck während des Dienstes in der sowjetischen Armee weg. Den wesentlichsten Grund sehen Anderson/Silver/Titma u.a. in dem Generationswechsel, der wechselseitige Anpassungschancen nicht erhöht:

„Most of the knowledge difference, however, probably is a reflection of real intergenerational change – as well as a deterioration in mutual accommodation between Russians and Estonians. Among both Russians and Estonians, the younger cohorts were much less likely to be bilingual than the older ones. This suggests a growing divergence of interests and sympathy between the nationalities“. (Anderson/Silver/Titma u.a.. 1996: 33)

Zusammenfassend lässt sich hier festhalten, dass die russische Minderheit seit der Unabhängigkeit in politischer, rechtlicher und kultureller Hinsicht deutlich gegenüber den Esten benachteiligt wurde. Zu Sowjetzeiten in einer privilegierten Position, musste die Gruppe nicht nur hinnehmen, diese Privilegien zu verlieren, sie erfuhr darüber hinaus den Ausschluss von politischen Mitentscheidungs- und gesellschaftlichen Teilhaberechten. Damit wurde das soziale Kapital der Gruppe, das zuvor vor allem in Form ihrer Rolle in der Staats-und Wirtschaftsverwaltung mit entsprechenden Kontakten bestand, vollkommen entwertet. In

der neuen estnischen Gesellschaft waren sie nicht mehr gefragt – was sich insbesondere in den Staatsbürgerschaftsgesetzen ausdrückte – und es wurde fortan ohne sie entschieden. Die Regelungen zur Staatsbürgerschaft mögen zwar dem Vergleich mit entsprechenden Regelungen in westeuropäischen Demokratien standhalten, möglicherweise sogar, wie Meissner (1995: 306) betont, zu den liberalsten in Europa zählen. Es ist jedoch zu bedenken, dass die russische Minderheit in Estland gleichsam mit einem Schlag von Staatsbürgern (der Sowjetunion) zu größtenteils Nicht-Staatsbürgern (Estlands) wurde, ohne dies aktiv etwa durch Migration beeinflusst zu haben, über realistische Rückkehroptionen oder eine andere Staatsbürgerschaft (außer der bald obsoleten sowjetischen) zu verfügen. In dieser Situation ist weniger entscheidend, dass das Staatsbürgerschaftsgesetz formal den europäischen Standards genügt. Entscheidend für die Beurteilung des Gesetzes sollte vielmehr sein, ob es dieser historischen Ausnahmesituation gerecht geworden ist.

Die Verdrängung der russischen Sprache aus dem öffentlichen Leben bedeutete eine massive Entwertung des kulturellen Kapitals der Russen, da sie nun in ihrer Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt wurden, wenngleich dies im russisch dominierten Nordosten keine so große Rolle gespielt haben wird wie in Tallinn. Als besonders prekär für die Russen erwies sich die von der national-estnischen Regierung durchgesetzte Verbindung von Sprachprüfung, Arbeitserlaubnis und vor allem Staatsbürgerschaft. Die bisherigen Resultate der Sprachpolitik, die vor allem die Anpassung durch Erlernen der estnischen Sprache vorsieht, sind ambivalent: Zwar ist von Seiten der estnischen Regierung ein Integrationsprogramm aufgelegt worden, in dem die Integration der russischen Minderheit auch als Aufgabe des Staates definiert wird, andererseits zeigen die Verantwortlichen in der politischen Führung des Landes aber noch immer wenig Interesse an der Einrichtung und Unterstützung einer Infrastruktur, die diesen Integrationsprozess fördern würde.

Die Entwertung der russischen Sprache und die Beschneidung der politischen Teilhaberechte im neuen Staat bilden für ethnische Konflikte essentielle Voraussetzungen, wie sie in Kapitel 2 genannt wurden – für die russische Minderheit ist die „kulturelle Grundlage der Alltagsproduktion“ ihrer Ethnie gefährdet. Inwieweit auch ihre ökonomische Partizipation im estnischen Staat eingeschränkt wurde, soll im folgenden untersucht werden.

3.5. Transformationsfolgen und Diskriminierung: Die