• Keine Ergebnisse gefunden

Politische Interessenvertretung und ethnische Entrepreneure

5. DIE ENTWICKLUNG DER ETHNISCHEN BEZIEHUNGEN NACH DER UNABHÄNGIGKEIT

5.2.2. Die Suche nach dem eigenen Platz in der neuen Gesellschaft: „Loyalty“ und „Voice“

5.2.2.3. Politische Interessenvertretung und ethnische Entrepreneure

Angesichts der Tatsache, dass die Prozesse der Identitätsbildung unter den Russen in Estland immer noch im Gange sind und gegenwärtig eher Differenzierungen denn Einigungsprozesse beobachtbar sind, stellt sich im Zusammenhang mit der übergeordneten Fragestellung nach den gegenwärtigen und zukünftigen Mobilisierungschancen der russischen Minderheit die Frage, welche Aspekte überhaupt geeignet sein könnten, als einigendes Moment für eine Mobilisierung zu fungieren. Nach den bisherigen Ergebnissen ist es vor allem die Integration in die estnische Gesellschaft, zumeist thematisiert im Zusammenhang mit der Staatsbürgerschaftsproblematik, die ein solches Potential bietet. Es herrscht in der russischen Minderheit ein erhebliches Spannungsverhältnis zwischen dem sehr hohen Integrationswillen und dem Wunsch nach rechtlicher Gleichstellung einerseits und der andauernden Frustration über den estnischen Staat und die estnische Gesellschaft andererseits, die ihr dieses Recht und

damit verbundene bessere Lebenschancen vorenthalten. Die Probleme und Einschränkungen, die durch die Staatenlosigkeit oder die russische Staatsbürgerschaft entstehen, betreffen die meisten russischen Familien und stellen eine fundamentale kollektive Erfahrung der Minderheit dar. (Hallik 2000) Daher dürfte die Unzufriedenheit über die Regelung der Staatsbürgerschaft und der Sprache den Russen Anlass zu Widerspruch bieten. (Vihalemm 1999: 20; Hallik 2000)

In diesem Abschnitt wird daher der Frage nachgegangen, wie sich die Möglichkeiten und Formen der Interessenorganisation der russischen Minderheit nach der Unabhängigkeit Estlands entwickelt haben. Untersucht wird, inwieweit Parteien und Gewerkschaften sowie andere politische Verbände die russische Minderheit entlang ihres Integrations- und Gleichstellungswunsches zu einen versuchen oder inwieweit sie eher partikulare Interessen vertreten. Der Fokus dieser Analyse ist damit auf den politischen Widerstand („voice“) der Russen gegen die Exklusion durch die Esten gerichtet. Von besonderem Interesse ist dabei, ob aus der russischen Minderheit ethnische Entrepreneure hervorgehen, die auf eine breite Mobilisierung der russischen Ethnie in Estland hinwirken.

Die Analyse der Interessenvertretungsmöglichkeiten und –formen der estnischen Russen muss die Besonderheiten der Entwicklung und Strukturierung des Parteienspektrums in Estland berücksichtigen und dazu auch Entwicklungen der Phase vor der Unabhängigkeit in die Betrachtung einschließen. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit bestand die Regierung Estlands aus dem im März 1990 gewählten Obersten Rat (ursprünglich „Oberster Sowjet“).

Da diese Wahlen auf Betreiben der zuvor an der Macht befindlichen Kommunistischen Partei Estlands Personenwahlen und keine Parteienwahlen waren, verfügte die Republik Estland über kein ausdifferenziertes Parteiensystem, das den Vorstellungen einer parlamentarischen Demokratie nach westlichem Vorbild entsprochen hätte. Um diesen Mangel zu beseitigen, beschloss der Oberste Rat im August 1990, dass alle Mitglieder des Obersten Rates eine politische Partei repräsentieren sollten. (Norgaard 1996: 86)

Das heißt allerdings nicht, dass es zu diesem Zeitpunkt keine politischen Parteien gegeben hat. Aus der 1988 gegründeten Volksfront und den zahlreichen anderen Bewegungen, wie z.

B. dem Denkmalschutzverein, entwickelten sich schon vor der Unabhängigkeit des Landes Parteien und Wahlbündnisse. (Norgaard 1996: 85ff) Dieser Ausdifferenzierungsprozess wurde dadurch verstärkt, dass die bis dahin alles dominierende Kommunistische Partei

Estlands vom Obersten Rat 1991 verboten wurde. Die Anhänger dieser Partei, Kommunisten und viele Russen, mussten daher neue Parteien gründen und Parteiorganisationen aufbauen.

(Smith/Wilson 1997: 852) Nach Bollow (1998: 106) existierten schon vor den Parlamentswahlen im März 1990 über 30 Parteien. Sie spielten aber für die Identifikation unterschiedlicher politischer Richtungen und die politische Willensbildung keine große Rolle.

Wichtiger waren in diesem Kontext die öffentlich bekundeten Überzeugungen der zur Wahl stehenden Kandidaten als Einzelpersonen, besonders wenn diese prominent waren. Im Sommer 1992 registrierte das Präsidium des Obersten Estnischen Rates 21 politische Parteien und Bewegungen. An den ersten freien nationalen Wahlen 1992 nahmen schon 38 Parteien teil, doch in der Folgezeit reduzierte sich die Zahl der Parteien über die Wahlen von 1995 bis 1999 stetig. Kennzeichen der ersten Jahre der souveränen estnischen Republik war eine hohe Volatilität des Parteienspektrums, sichtbar vor allem in den immer wieder wechselnden Parteibündnissen – die aufgrund einer 5%Klausel für viele kleine Parteien notwendig waren -und Regierungskoalitionen sowie der Tatsache, dass die ersten frei gewählten Regierungen aufgrund von Streitigkeiten in den jeweiligen Koalitionen vor Ablauf der Legislaturperiode abgelöst wurden. Der Nachfolgepartei der EKP, der Estnischen Arbeiterpartei, gelang allerdings weder 1992, noch 1995, oder 1999 der Sprung ins Parlament. (Norgaard 1996: 86) Sieht man von der aus der Interfront hervorgegangenen Interbewegung ab, die vehement für das alte staatssozialistische System und daher sowohl gegen die Reformen in Estland wie auch gegen die Reformen Gorba_evs kämpfte, lässt sich die politische Landschaft Estlands Anfang der 1990er Jahre in zwei politisch-ideologische Lager teilen, die die Pole des politischen Spektrums markieren. Zum einen gab es eine restaurative Bewegung, in der die Nation über alles gestellt und als Garant für die Wiederherstellung des früheren estnischen Staates der Zwischenkriegszeit begriffen wurde. Diese Restauration zielte auf das Rückgängigmachen möglichst aller durch die Sowjetherrschaft hervorgerufenen Entwicklungen, insbesondere der demographischen Veränderungen der Bevölkerungsstruktur.

Dementsprechend war die Konzeption der Staatsbürgerschaft in diesem Kontext ethnisch definiert und schloss die nach dem Zweiten Weltkrieg zugewanderten Russen von der Möglichkeit, estnische Staatsbürger zu werden, von vornherein aus. Die Idee der Wiederbelebung des starken nationalen Staats der Vorkriegszeit vertraten vor allem ehemalige Dissidenten als die radikalsten Verfechter der sofortigen Unabhängigkeit. Sie fanden sich vor allem in der später mehrfach an der Regierung beteiligten ”Estnischen Nationalen Unabhängigkeitspartei”, als Abgeordnete im ”Estnischen Kongress” sowie als

Mitglieder des Denkmalschutzvereins. (Hallik 1998: 275f; Bollow 1998: 106f)

Dieser Restaurations-Ideologie stand die Vorstellung einer anti-totalitären Demokratie gegenüber, in der der Schutz der nationalen Rechte und der neuen Unabhängigkeit als substantieller Bestandteil einer neuen, humanen und pluralistischen Gesellschaft verstanden wurde. In dieser Konzeption eines pluralistischen, toleranten und offenen Staates kam der Staatsbürgerschaft nicht die Bedeutung für die Definition des neuen Nationalstaats zu, wie es in der restaurativen Konzeption der Republik der Fall war. Demzufolge sollte die Staatsbürgerschaft auch nicht nach ethnischen Kriterien exklusiv gehandhabt werden, sondern es sollten möglichst alle Einwohner Estlands Staatsbürger der neuen Republik werden. In dieser Konzeption wären also die Russen voll in den estnischen Staat integriert worden. Zu diesem Lager zählte – bis zu ihrer Aufspaltung in Sozialdemokratische Partei und Liberale -die estnische Volksfront,118 in der ehemalige Mitglieder der Kommunistischen Partei Estlands führende Positionen innehatten (z. B. Marju Lauristin, Edgar Savisaar), und ”Vaba Eesti”

(Freies Estland), die ebenfalls von ehemaligen Führungskräften der KPE (Arnold Rüütel;

Indrek Toome) getragen wurde. (Hallik 1998: 275f; Bollow 1998: 106f)

Die Ereignisse des August 1991 – der gescheiterte Putsch in Moskau – fielen mitten in die Phase der durch den Parlamentsbeschluss über die Parteizugehörigkeitspflicht der Abgeordneten ausgelösten Neukonfiguration des Parteiensystems. Sie brachten nicht nur jeglichen bis dahin organisierten Widerstand gegen die Unabhängigkeitsbewegung von nicht-estnischer Seite zum Erliegen (vgl. Kapitel 4), sondern sie schwächten aufgrund des sich mit dem Putsch in Moskau verstärkenden Misstrauens gegenüber den Russen auch nachhaltig die Position derjenigen, die der Minderheit konstruktiv gegenüberstanden und die Konzeption des offenen Staates verfolgten. Die ideologische Hinwendung zur Restauration zeigte sich am deutlichsten in der Wiederherstellung des Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1938, die vom Obersten Rat am 26. Februar 1992 beschlossen wurde, ein halbes Jahr vor den ersten freien Wahlen in der neuen Republik Estland. Durch diesen Beschluss, der wesentlich von dem nationalistischen Parteibündnis „Pro Patria“ getragen wurde, war allen russischen Immigranten der Sowjetzeit die automatische Staatsbürgerschaft verwehrt. (Hallik 1998:

275ff) Da die neue Verfassung der Republik bestimmte, dass nur Staatsbürger Estlands das aktive und passive Wahlrecht ausüben dürfen, konnten die russischen Abgeordneten des

118 Von der Volksfront spalteten sich 1990 die Liberaldemokratische Partei und die Sozialdemokratische Partei ab. Im Oktober benannte sie sich in Zentrumspartei um. (Norgaard 1996:87)

Obersten Rats, die keinen estnischen Pass erhielten, nicht für die Wahl am 20. September 1992 kandidieren und daher durfte die übergroße Mehrheit der Russen an dieser Wahl nicht mehr als Wähler teilnehmen.(Bollow 1998: 106f)

In diesem Klima war es eine quasi natürliche Folge, dass der Wahlkampf zu den Wahlen im September 1992 sehr stark von nationalistischen Themen wie der staatlichen Unabhängigkeit, der Sicherheit vor Russland, der Staatsbürgerschaftsfrage und der Sprachregelung bestimmt wurde. Infolge dieser Wahlkampfthemen und des weitgehenden Ausschlusses russischer Kandidaten und Wähler führten die Wahlen zu einer deutlichen Veränderung der Zusammensetzung des Parlaments gegenüber dem im März 1990 gewählten Obersten Rat:

Nun dominierten die nationalistischen Kräfte. (Bollow 1998: 107) Stärkste Fraktion wurde das national-konservative Parteibündnis Pro Patria.119 Zusammen mit der Estnischen Nationalen Unabhängigkeitspartei,120 die zweitstärkste Fraktion wurde, und den „Moderaten“, einem Bündnis aus Estnischer Sozialdemokratischer Partei und Estnischer Zentrumspartei – der Nachfolgeorganisation der Volksfront – bildete es die neue Regierung. (Norgaard 1996:

88) Nach Hallik (1998) war der Ausgang dieser ersten freien Wahlen das Fanal der bis heute anhaltenden Exklusion der Russen durch die estnischen Politiker im Parlament:

„After parliamentary elections in September 1992 and the victory of the nationalist Pro Patria Party, this citizenship issue became the hallmark of a generally selective and exclusivist ethnic policy, which was apparent in the government’s legislation from 1992-1995“. (Hallik 1998: 276)

Angesichts des breiten Spektrums politischer Richtungen in dieser Regierungskoalition war es kein Wunder, dass sie nur zwei Jahre an der Macht blieb. Ursache des Bruchs der Koalition war, dass Pro Patria und die anderen Koalitionsparteien keine gemeinsame Linie in der Landwirtschaftspolitik fanden. Während Pro Patria und die Nationale Unabhängigkeitspartei jegliche protektionistische Hilfe ablehnten, waren die Moderaten bereit, bestimmte Zweige der Landwirtschaft zu unterstützen. Auch favorisierten die Moderaten das Modell einer progressiven Einkommenssteuer, die die Belastung der Bezieher niedriger Einkommen senken sollte. Dieses Steuermodell wurde von Pro Patria und der Nationalen Unabhängigkeitspartei strikt abgelehnt. Auch das Pro Patria-Bündnis zerfiel über diese

119 Das Wahlbündnis schloss folgende Parteien ein: ‚Vaterland‘, Christlich-demokratische Partei Estlands, Konservative Partei Estlands, Republikanische Partei.

120 Die Estnische Unabhängigkeitspartei gründete 1989 zusammen mit dem Denkmalschutzverein die Bewegung des

‚Bürgerkommittees’ (vgl. Kap. 3), das nur den Vorkriegsstaatsbürgern im neuen Staat volle politische Rechte zugestehen wollte. (Norgaard 1996: 197)

Streitigkeiten, und nach einem Misstrauensvotum gegen den Premier Laar wurde die Regierung mit dem Rest der Koalition unter dem neuen Premier Andres Tarand bis zu den Parlamentswahlen 1995 weitergeführt. (Norgaard 1996: 85ff)

Der Streit, über den die erste frei gewählte Regierung der Republik Estland zerbrach, verdeutlicht, dass schon sehr bald nach der Unabhängigkeit und der ersten Wahl die Bevölkerung das Interesse an nationalistischen Themen verlor. Stattdessen wurden wirtschaftspolitische Themen wichtiger. Der Wahlkampf für die Wahlen am 5. März 1995 wurde infolgedessen vollkommen durch wirtschaftspolitische Themen bestimmt. (Bollow 1998: 107) Dementsprechend veränderte sich auch die Zusammensetzung des Parlaments. Pro Patria verlor seine Mehrheit an die Nationale Koalitionspartei Tiit Vähis, die zusammen mit der Ländlichen Union und der Zentrumspartei die neue Regierungskoalition stellte. Der Wahlsieg der Koalitionspartei und ihrer Regierungspartner basierte auf der Botschaft, dass die notwendigen Wirtschaftsreformen stärker sozial abgefedert werden sollten und er wurde deshalb von vielen als Linksruck interpretiert. (Hallik 1996a; Mattusch 1996: 126; Norgaard 1996: 98; eine Gegenmeinung vertritt Bollow 1998: 107) Die Linksruck-Einschätzung trifft allerdings nur auf die Periode bis Oktober 1995 zu, in der die Koalition mit der Zentrumspartei bestand. (Mattusch 1996: 126)

In den Parlamentswahlen am 7. März 1999 setzte sich schließlich wieder die national-konservative Pro Patria durch, doch diesmal nicht mit weiteren national gesinnten Parteien, sondern zusammen mit den Verfechtern radikaler Wirtschaftreformen von der liberalen Reformpartei und den Moderaten. Darin war insofern auch keine Rückkehr zu den nationalistischen Themen der unmittelbar auf die Unabhängigkeit folgenden Periode zu sehen, als die stärkste Kraft in dieser Wahl die Zentrumspartei von Edgar Savisaar wurde.

Doch errang die Pro-Patria-Allianz 53 der insgesamt 101 Abgeordnetensitze, so dass die Zentrumspartei trotz ihres Wahlsiegs in die Opposition gehen musste. (Huang 1999)

Insgesamt zeigt sich in den Wahlkampfthemen und den Wahlergebnissen eine einseitige Ausrichtung auf estnisch-nationale Themen und die allgemeinen wirtschaftlichen Probleme des Transformationsprozesses des Landes. Eine explizite Vertretung der Interessen der russischen Einwohner des Landes fand nicht statt, bestenfalls wurden ihre Interessen vermittelt über die Maßnahmen zur sozialen Flankierung der Transformation berücksichtigt.

In den durch die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Transformation geprägten Jahren

war der Umgang mit der Minderheit kein Thema für die estnischen Politiker. In den Wahlen 1995 gelang aber immerhin dem russischen Wahlbündnis ”Unsere Heimat ist Estland”, das sich im Verlauf der ersten Legislaturperiode gebildet hatte, mit sechs Sitzen der Einzug ins Parlament, so dass drei Jahre nach den ersten Wahlen in der unabhängigen Republik Estland die Russen wieder über eine Interessenvertretung im Parlament verfügten. Diese Feststellung muss jedoch insofern eingeschränkt werden, als „Unsere Heimat ist Estland“ nach der estnischen Verfassung nicht von allen Russen gewählt werden konnte, sondern nur von Russen mit estnischer Staatsbürgerschaft. Die gleiche Einschränkung gilt auch für die Parteimitglieder. (Hallik 1998) Mit den Wahlen von 1995 bewegte sich die politische Macht und die ideologische Fokussierung der Regierung stärker auf die gesellschaftliche Mitte zu, ohne dass allerdings tiefgreifende Veränderungen in der Ethnopolitik zu erwarten waren:

„A review of the positions of Estonia’s parties and electoral coalition on ethnic policy (as they were formulated for the 1995 parliamentary elections) shows that none of them is ready to initiate a principal revision of this policy“. (Hallik 1998: 277)

Während das „Wie“ des Reformprozesses steter Quell politischer Auseinandersetzungen war, waren die politischen Positionen in der Minderheitenpolitik sehr festgelegt und wiesen kaum Differenzierungen zwischen den im Parlament vertretenen Parteien auf. Hallik (1998: 277) stellt in ihrer Untersuchung der estnischen Parteienlandschaft fest, dass mit Ausnahme der Moderaten und der Zentrumspartei alle estnischen Parteien, die 1995 im Parlament vertreten waren, einen starken ethnischen ‚Selbstverteidigungsreflex‘ hatten – die russischen Einwohner wurden immer noch als die hauptsächliche Bedrohung für das estnische Volk angesehen. Auch waren sich alle estnischen Parteien in dem Punkt einig, die Auswanderungsbereitschaft von Nicht-Esten aktiv zu fördern (siehe oben die Ausführungen zur „exit“-Option). Darüber hinaus sah die große Mehrheit der Parteien den estnischen Staat als ethnisch definiert an, weshalb sich fast alle gegen einen politischen Dialog mit Vertretern des nicht-estnischen Teils der Bevölkerung über die Staatsstruktur, die Beteiligung der Minderheit an der politischen Macht oder andere Beteiligungsformen sperrten. Die wechselvolle Geschichte des Ministerpostens für Ethnische Belange und auch die Schwierigkeiten bei der Erarbeitung des Integrationsprogramms zeigen deutlich, dass den Minderheitenfragen zumindest nicht kontinuierlich und wohl auch nicht immer ganz freiwillig durch die Regierungen Beachtung geschenkt wurde.121

121 vgl Pettai 2000.

Allein die Zentrumspartei und die Moderaten setzten sich für einen Dialog zwischen den ethnischen Gemeinschaften ein und konnten in die Ideologie ihrer Parteien die Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft integrieren. Aber auch für diese beiden Parteien gilt wie für alle anderen, dass sie als wesentliche Voraussetzung der Integration der Russen die Aneignung der estnischen Sprache ansahen, was sich auch in der Ausgestaltung des Integrationsprogramms (SP 2000, vgl. Kapitel 3) niederschlug. Hallik kommt in ihrer Einschätzung auch der zukünftigen Entwicklung ethno-nationaler Positionen der Parteien zu einem recht pessimistischen Ergebnis:

„As a result, one can define the current national ideology of Estonia’s political parties as one of ethno-nationalism, in which the main tasks for the future – in what should be done to stabilize such a nation-state society as well as provide for its social security – have only marginally begun to understood“. (Hallik 1998: 278)

Die estnischen Parteien haben bis auf wenige Ausnahmen die Minderheit bisher als Wählerklientel noch nicht entdeckt. Viele sind weiterhin an einer klaren Abgrenzung zu den Russen im Land interessiert. Offensichtlich ist der ‚ethnische Selbstverteidigungsreflex’

(Hallik) immer noch stark ausgeprägt .

Wenngleich die estnischen Parteien die tonangebenden im estnischen Parlament sind, so existieren doch einige russische Parteien, die die Interessen der Minderheit vertreten. Zwar sind diese Parteien durch die gesetzlichen Restriktionen in ihrer Performanz auf nationaler Ebene beschränkt. Doch da Nicht-Staatsbürger zumindest auf kommunaler Ebene wählen –wenngleich nicht gewählt werden – dürfen, haben sie doch mit Tallinn und Ida-Virumaa zwei wichtige russische Ballungsgebiete, in denen sie bei lokalen Wahlen Hochburgen haben.

Auf nationaler Ebene sind die Russen ausschließlich in dem Wahlbündnis „Unsere Heimat ist Estland“ aktiv, das aus zwei Parteien besteht: der EÜR (Eestimaa Ühendatud Rahvapartei = Estnische Vereinigte Volkspartei, Parteivorsitz: Victor Andreev) und der der VEE (Vene Erakond Eestis = Russische Partei in Estland, Vorsitzender: Nikolaj Maspanov). Von den sechs Sitzen im Parlament, die „Unsere Heimat ist Estland“ in der Wahl 1995 erhielt, entfielen 4 auf die EÜR und zwei auf die VEE.

Generell ist die Politik der beiden russischen Parteien auf Minderheitenfragen gerichtet, dagegen spielen allgemeine soziale und ökonomische Themen eine untergeordnete Rolle. Die Mehrzahl ihrer Politiker spricht sich allerdings für eine stärkere staatliche Kontrolle der Ökonomie aus. Beide russischen Parteien setzen sich für die Behauptung der kulturellen und