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Estland und Russland, altes und neues System als Bezugspunkte des Selbstverständ-

5. DIE ENTWICKLUNG DER ETHNISCHEN BEZIEHUNGEN NACH DER UNABHÄNGIGKEIT

5.2.2. Die Suche nach dem eigenen Platz in der neuen Gesellschaft: „Loyalty“ und „Voice“

5.2.2.2. Estland und Russland, altes und neues System als Bezugspunkte des Selbstverständ-

Staat

Ein wesentlicher Grund der estnischen Autoritäten für ihre restriktive Staatsbürgerschafts-und Sprachpolitik sowie die damit verbStaatsbürgerschafts-undenen Beschränkungen der politischen Staatsbürgerschafts-und gesellschaftlichen Teilhabe der Russen war die Befürchtung, dass sich eine russische Minderheit mit mehr Rechten als „fünfte Kolonne“ Moskaus im Lande erweisen würde und für Manipulation durch Russland offen sei, was letztlich die gerade erst gewonnene Souveränität Estlands bedrohe. Estnische Politiker hatten die russische Bevölkerung in Verdacht, Moskau näher als Tallinn zu stehen, und einen eigenständigen estnischen Staat abzulehnen. (Hallik 1996b)

Dagegen vertreten andere Forscher die Auffassung, dass infolge des Verlusts des früheren sowjetischen Bezugsrahmens die estnischen Russen eine neue Identität entwickelt hätten, in der die alte sowjetisch-nationale Mentalität der Russen zurückgetreten sei. Was an deren Stelle getreten ist, ist hingegen umstritten. Laitin (1998: 190ff) sieht sie im wesentlichen durch eine „Russian-speaking identity“ und sogar eine „Russian-speaking nationality“ (Laitin

1998: 295) ersetzt, daneben macht er auch Anhaltspunkte für eine „Baltic Russian identity“

aus. (Laitin 1998: 194) Kirch, Kirch und Tuisk (1997) dagegen stellen vor allem bei der jungen Generation der Russen eine gänzlich neue ethno-kulturelle Identität fest, die unterschiedlichste Bezüge zulässt, sich aber generell stärker an der Kultur US-Amerikas orientiere als an der der nordischen Länder. Diese jungen Russen in Estland identifizierten sich entweder als ‚Russen Estlands’ oder ‚eingeborene Russen Estlands’ oder als ‚europäische Russen’.

Es erscheint jedoch fraglich, inwieweit diese Studien tatsächlich über die Auflösung überkommener Identifikationsmuster hinaus die Ausbildung klar unterscheidbarer neuer Identifikationen aufzeigen können. Die Ergebnisse der Untersuchungen von Kirch, Kirch und Tuisk sind so widersprüchlich, dass sie kaum interpretiert werden können. Dies ist unter anderem der Komplexität der Begriffe Identität und Kultur geschuldet, die in ihrer hoch standardisierten Befragung mit der Frage „Which types of culture do you feel you belong to?“

und den Antwortmöglichkeiten“Russians of near abroad”, „Baltic Russians”, „European Russians”, Estonian Russians” und „Native Russians of Estonia” (Kirch, Kirch; Tuisk 1997) wenig sinnvoll operationalisiert erscheinen. Diese Kategorien können kaum zu einer realistischen Einschätzung der kulturellen Identität führen, weil nicht erklärt wird, was die Autoren genau unter diesen Etiketten verstehen und wie sie sich voneinander abgrenzen lassen. Damit sind den Befragten alle möglichen Interpretationen erlaubt, und es dürfte schwer fallen, sicherzustellen, dass diejenigen, die sich als „native Russians of Estonia“

bezeichneten, dies nicht aus den gleichen Gründen taten, aus denen andere andere Antwortoptionen wählten. Es ist darüber hinaus auch wenig nachvollziehbar, wie die doch einigermaßen entfernte US-amerikanische Kultur das prägende Element der Identitätsbildung bei russischen Jugendlichen sein soll. Sicher lässt sich ihr weltweiter Einfluss als Massenkultur nicht leugnen, aber wie sie mit den tradierten und viel unmittelbarer erfahrbaren lokalen oder regionalen Identifikationsmomenten so erfolgreich in Konkurrenz getreten sein soll, lässt sich nicht nachvollziehen. Die Autoren bieten zu diesen Problemen auch keinerlei Erklärungen an.

Laitin belegt die von ihm ausgemachte „Russian-speaking identity“ keineswegs mit tieferen Einsichten in die Denkweisen und Orientierungen der Russen in Estland, aus denen ein gemeinsamer Bezugsrahmen ihrer Selbstwahrnehmung und ihrer Abgrenzung zu anderen zu isolieren wäre, sondern er stützt sich dabei ausschließlich auf in der russischsprachigen Presse

verwendete Begriffe zur Bezeichnung der russischen Bevölkerungsgruppe. Ihm selbst ist dabei bewusst, dass er auf Klischees zurückgreift. Er sieht darin jedoch kein Problem, im Gegenteil:

„[...] in matters of identity, clichés are more significant than reasoned categories. They reflect popular understandings and are therefore crucial of understanding what sort of messages will catch popular imagination. [...] ‚Russian-speaking population‘ appears to have a ‚naturalness‘

about it – the cliché quality I just mentioned – that gives it social power“. (Laitin 1998: 191) Es ist schon fragwürdig, inwieweit Klischees tatsächlich die ihnen von Laitin zugeschriebene

„natürliche“ begriffliche Treffsicherheit haben und zur Identifikation von sich neu formierenden Identitäten taugen. Vollkommen unverständlich ist nach Betrachtung der Ergebnisse von Laitins Inhaltsanalyse von Zeitungsartikeln, wie er zu dem Ergebnis kommt, dass der Begriff „Russian-speaking“ am besten die sich neu formierende Identität der Russen in Estland beschreibt. Insgesamt fand er in 88 Artikeln 711 Begriffe zur Etikettierung der Russen in Estland. Schon allein diese große Zahl von Ausdrücken – im Schnitt weist jeder Artikel 8 unterschiedliche Bezeichnungen für die estnischen Russen auf - verdeutlicht die große Unklarheit und Uneinigkeit über eine angemessene einheitliche Bezeichnung für diese Gruppe. Vor diesem Hintergrund von „naturalness“ im Sinne einer begrifflichen Passgenauigkeit von Klischees zu sprechen, erscheint nicht nachvollziehbar.

Vor allem aber ist Laitin entgegenzuhalten, dass er mit dem Terminus „Russian-speaking“

keineswegs den am häufigsten in den Artikeln verwendeten Begriff zur Kennzeichnung der estnischen Russen gewählt hat, sondern den dritthäufigsten, der nur einen Anteil von 17%

aller Nennungen aufwies.112 Der mit 40% aller Nennungen weitaus am häufigsten in den von Laitin analysierten Zeitungsartikeln verwendete Begriff für die Russen in Estland ist

„Russian-ethnic“. (Laitin 1998: 270) Wenn man also, wie Laitin es ausdrücklich formuliert, aus der Häufigkeit von in der Öffentlichkeit zur Titulierung der estnischen Russen verwendeten Begriffen – oder Klischees – auf die Identität der Russen schließen will, dann muss man nach den Ergebnissen seiner Inhaltsanalyse zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass estnische Russen sich als „Russen“ identifizieren – was ein kaum überraschendes Ergebnis darstellt.

112 Die hier genannten Zahlen beziehen sich nicht mehr nur auf Estland, sondern auf alle vier von Laitin untersuchten ehemaligen Sowjetrepubliken (Kasachstan, Estland, Lettland, Ukraine). Hier fand Laitin insgesamt 1815 Kategorien zur Beschreibung der russischen Diaspora (Laitin 1998: 269f).

Laitin geht darüber hinaus auch über die Tatsache hinweg, dass – mit Ausnahme von

„Russian-ethnic“ - öfter als jeder andere positiv beschreibende Terminus zur Bezeichnung der estnischen Russen Termini verwendet werden, die die Gruppe negativ beschreiben, indem sie erklären, was sie nicht ist: „nicht Verwurzelte“, „Menschen ohne Land“, Ausländer“, Anderssprachige“, „denationalisierte Gruppe“, „Nicht-Staatsbürger“, „Menschen mit nicht definierter Staatsbürgerschaft“, „Nicht-Titulare“, „nicht aus Russland stammende Russen“

und dergleichen mehr. (Laitin 1998: 265f) Solche Negationen machen 20% aller Nennungen aus und sind damit bedeutender als der von Laitin favorisierte Begriff. Darin, dass es den Medien offenbar leichter fiel, zu sagen, was estnische Russen nicht sind, als zu sagen, was sie sind, ist ein starker Hinweis darauf zu entdecken, dass jenseits des „Russisch-Seins“ offenbar kein Element vorhanden ist, dass die Identität dieser Gruppe positiv beschreiben kann.

Insofern wäre, wenn man sich schon nicht mit „Russian-ethnic“ zufrieden geben will, der Schluss einer „Nicht-Identität“ der estnischen Russen aus Laitins Befunden immer noch folgerichtiger gewesen als der Schluss, den er letztlich gezogen hat. Seine Begründung dafür, warum er „Russian-speaking“ vorzog, erscheint jedenfalls wenig plausibel:

„In discussions about the nationality question in the near abroad, the overwhelming referent is to „Russians“. [...] Coming in second, [...] are the myriad expressions of negation. But third, in a category that did not exist a decade ago, „Russian-speaking population“ garnered 314, or 17 percent, of the references. The variants of „Russian-speaking population“ had nearly four times as many uses as „Russian-political“, the next most frequent category“. (Laitin 1998:

269)

Unter den in allen vier von Laitin untersuchten ehemaligen Sowjetrepubliken gefundenen 1815 Kategorien zur Beschreibung der dort lebenden Russen dürften etliche das Kriterium erfüllen, ein Jahrzehnt zuvor noch nicht existent gewesen zu sein, weil ein Jahrzehnt zuvor schlicht keine Notwendigkeit bestand, überhaupt in dieser Weise Kategorien für diese Gruppe zu finden. Dass die von ihm bevorzugte Kategorie viermal häufiger verwendet wird als die vierthäufigst genannte Kategorie kann, wie in den obigen Ausführungen zu der Interpretation der von Laitin festgestellten Häufigkeiten festgestellt wurde, ohnehin kein Argument für

„Russian-speaking“ sein.

Berücksichtigt man, dass die Untersuchung von Laitin ebenso wie ein großer Teil der von Kirch, Kirch und Tuisk angeführten Untersuchungen in einer Phase stattfanden, in der die wesentlichen Prozesse der Herausbildung einer neuen Identität noch gar nicht abgeschlossen

sein konnten,113 ist wohl eher Kahn (1995) zuzustimmen, der meint, dass erst die weitere Entwicklung zeigen werde, ob sich tatsächlich eine spezifische kulturelle Identität der Russen in Estland (oder im Baltikum allgemein) herausbildet.

Zieht man die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen zu den grundlegenden politischen Meinungen und Orientierungen der russischen Minderheit in Estland heran, so zeigt sich, dass weder das Bild der estnischen Politiker von der „fünften Kolonne“ Moskaus noch das einer bereits deutlich erkennbaren neuen Identität der Russen den tatsächlichen Verhältnissen entsprach und die Einstellungen und Orientierungen der Russen zu Estland und Russland weit komplexer und immer noch „im Fluss“ waren. Bereits in den Ausführungen zur „exit“-Option wurde deutlich, wie ambivalent und kritisch distanziert die estnischen Russen während der Umbruchphase Russland wahrnahmen. Hier soll nur dieser Aspekt wieder aufgegriffen und im Vergleich mit der Wahrnehmung der Situation in Estland vertieft werden.114 In den Einstellungen für und gegen das neue Estland und für und gegen sein neues wirtschaftliches, soziales und politisches System sowie in der vergleichenden Beurteilung Russlands und des alten sowjetischen Systems wird unmittelbar deutlich, wie sehr sich die Russen in Estland mit den neuen Gegebenheiten arrangieren, sich mit ihnen abfinden und wie stark sie gesellschaftliche und politische Entwicklungen unterstützen oder sogar mit vorantreiben.

Ergebnisse von Rose und Maley (1994) und Rose (1997) erlauben eine Einschätzung des Wandels entsprechender Orientierungen von Esten und Russen zwischen den Jahren 1993 und 1996 (Tabelle 5-7). Diese Zeitpunkte sind insofern interessant, als 1993 nach allgemeiner Auffassung den Höhepunkt der Transformationskrise Estlands markiert, während 1996 ein unter Post-Transformationsbedingungen prosperierendes Jahr war.

113 Laitin hat seine Befragung in Estland im Jahr 1993 durchgeführt, das als Höhepunkt der Transformationskrise gilt und in dem die alten Verhältnisse und Strukturen abgeschafft waren, die neuen aber erst begannen, sich in Staat und Gesellschaft zu etablieren. Dies gilt auch für einige der von Kirch, Kirch und Tuisk angeführten Untersuchungen.

114 Smith und Wilson (1997) heben besonders den Rekurs auf das Heimatland als bedeutend für eine Mobilisierung hervor.

Allerdings konzentrieren sie sich dabei auf die Chancen der Elite, materielle und ideelle Unterstützung im Kampf um Autonomie oder gar Sezession zu erlangen. Hier geht es jedoch um die Einstellung der Minderheit insgesamt zu Russland.

Tabelle 5-7: Beurteilung des wirtschaftlichen und politischen Systemwandels in Estland, 1993 und 1996 (in %)

Quelle: Rose/Maley 1994; Rose 1997 – nach Lauristin/Vihalemm/Rosengren u.a. (1997)

Esten Russen

1993 1996 1993 1996

Beurteilung des ehemaligen und des neuen Wirtschaftssystems 1 Positive Beurteilung der sozialistischen

Ökonomie vor der Unabhängigkeit 53 48 76 79

2 Positive Beurteilung des gegenwärtigen

ökonomischen Systems 43 69 41 55

3 Negative Beurteilung des gegenwärtigen

ökonomischen Systems 40 20 44 37

4 Positive Beurteilung des ökonomischen

Systems in den nächsten 5 Jahren 83 86 77 71

Beurteilung des ehemaligen und des neuen Regierungssystems 5 Positive Beurteilung des ehemaligen

kommunistischen Systems 32 22 65 67

6 Negative Beurteilung des ehemaligen

kommunistischen Systems 55 68 21 24

7 Positive Beurteilung des gegenwärtigen

Regierungssystems 58 69 50 49

8 Negative Beurteilung des gegenwärtigen

Regierungssystems 26 21 38 45

9

Positive Beurteilung des gegenwärtigen Regierungssystems in den nächsten 5 Jahren

88 89 79 72

10

Zustimmung zu der Aussage: "Wir sollten zur kommunistischen Herrschaft

zurückkehren."

.. 1 .. 14

11

Starke Ablehnung der Aussage: "Wir sollten zur kommunistischen Herrschaft zurückkehren."

.. 89 .. 55

12

Zustimmung zu der Aussage: "Uns würde es besser gehen, wenn wir immer noch Teil der Sowjetunion wären."

.. 5 .. 38

13

Starke Ablehnung der Aussage: "Uns würde es besser gehen, wenn wir immer noch Teil der Sowjetunion wären."

.. 87 .. 29

Beurteilung der ökonomischen Situation der eigenen Familie:

14 sehr/ziemlich zufriedenstellend 29 45 25 36

15 Die ökonomische Situation ist heute

besser als vor 5 Jahren 29 39 20 25

16 Die ökonomische Situation ist heute

schlechter als vor 5 Jahren 53 38 60 51

17 Glaube, dass die ökonomische Situation

in 5 Jahren besser sein wird 52 53 33 41

Grundsätzlich fällt auf, dass Russen das alte Wirtschafts- und Regierungssystem zu diesen Zeitpunkten durchweg positiver und das neue Wirtschafts- und Regierungssystem durchweg negativer beurteilen als Esten, was prima facie die Bedenken der estnischen Nationalisten zu bestätigen scheint. Allerdings muss hierbei der Tatsache Rechnung getragen werden, dass den Russen von den Esten deutlich signalisiert wurde, dass sie in dem neuen System nicht erwünscht sind. Geringere Zustimmungsraten der Russen sind daher kaum überraschend.

Hinsichtlich des Wirtschaftssystems (Items 1-4) ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass auch mehr als die Hälfte der Esten (53%) 1993 das frühere sowjetische Wirtschaftssystem positiv beurteilt hat (Item 1), während nur 43% das neue System positiv beurteilten (Item 2) und es von immerhin 40% der Esten negativ beurteilt wurde (Item 3). Von den Russen beurteilten 1993 drei Viertel das ehemalige sowjetische Wirtschaftssystem positiv (Item 1), was deutlich über dem Wert der Esten lag. Hinsichtlich der Zustimmung und Ablehnung des neuen Wirtschaftssystems unterschieden sich die Russen jedoch nur marginal von den Esten.

41% der Russen beurteilten das neue Wirtschaftssystem positiv (Item 2), 44% negativ (Item 3). Auf dem Höhepunkt der Transformationskrise waren die Esten also von dem neuen Wirtschaftssystem genauso wenig überzeugt bzw. verunsichert wie die Russen.

Von besonderer Relevanz ist hier jedoch, wie sich diese Einstellungen im Zeitverlauf verändert haben. Hier hat sich die Kluft zwischen den Esten und den Russen deutlich vertieft.

So nahm die Zustimmung zur ehemaligen sozialistischen Ökonomie (Item 1) bei den Esten bis 1996 um fünf Prozentpunkte auf 48% ab. Bei den Russen hingegen stieg die Zustimmung von dem ohnehin schon sehr hohen Wert von 76% weiter an und erreichte 79%. Beide ethnische Gruppen schätzten das neue Wirtschaftssystem 1996 deutlich besser ein als 1993, doch stieg die Wertschätzung des neuen Systems bei den Esten wesentlich stärker als bei den Russen. So wuchs der Anteil der Esten, die das neue Wirtschaftssystem positiv einschätzten, um 26 Prozentpunkte auf 69% (Item 2), während die Zustimmung der Russen „nur“ um 14 Prozentpunkte auf 55% zunahm. Entsprechend fiel das Ergebnis hinsichtlich der negativen Bewertung des neuen Wirtschaftssystems (Item 3) aus, bei der der Anteil der Esten sich gegenüber 1993 halbiert hatte, während der der Russen um nur sieben Prozentpunkte fiel.

Bemerkenswert hoch ist die prospektive Einschätzung des marktwirtschaftlichen Systems (Item 4) beider Ethnien. 1993 schätzten mehr als vier Fünftel der Esten und mehr als drei Viertel der Russen, dass die Marktwirtschaft sich in fünf Jahren als positiv erweisen würde.

Dieses hohe Maß an Vertrauen in die Zukunft des neuen Wirtschaftssystems erfährt jedoch im Zeitverlauf ebenfalls eine ethnische Spaltung: Während diese Einschätzung bei den Esten bis 1996 noch weiter zunahm, sank sie bei den Russen um sechs Prozentpunkte.

Ein ähnliches Bild zeigt sich hinsichtlich der Einschätzung des ehemaligen und des neuen Regierungssystems durch die beiden ethnischen Gruppen (Items 5-13). 1993 beurteilte nur ein Drittel der Esten das ehemalige kommunistische System positiv (Item 5), ein weit größerer Anteil (55%) beurteilte das alte Regierungssystem negativ (Item 6). Von den Russen haben 1993 zwei Drittel das alte Regierungssystem positiv eingeschätzt, und nur ein Fünftel beurteilte es negativ. Überraschend muten die Ergebnisse über die Einschätzung des neuen Regierungssystems (Item 7) an. 1993 schätzten weniger als drei Fünftel der Esten das neue Regierungssystem positiv ein. Während dieser Wert angesichts der Rhetorik und der politischen Massenmobilisierung, mit denen der Kampf um die Unabhängigkeit des Landes geführt wurde, erstaunlich klein erscheint, fiel der entsprechende Anteil unter den Russen mit 50% überraschend hoch aus. Angesichts der Tatsache, dass es die Entscheidungen der estnischen Politiker im Obersten Rat waren, die mit ihrer streng nationalistischen Politik die Misere und den massiven Statusverlust der Russen verursachten, wäre ein höheres Maß an Skepsis und Ablehnung gegenüber diesem System leicht nachvollziehbar. Das gegenwärtige Regierungssystem negativ (Item 8) beurteilte 1993 ein gutes Viertel der Esten und knapp zwei Fünftel der Russen. Im Zeitverlauf haben sich die Einstellungen der beiden ethnischen Gruppen zum alten und neuen Regierungssystem ähnlich entwickelt wie die zum alten und neuen Wirtschaftssystem: Die Zustimmung der Esten zum neuen System und ihre Ablehnung des alten Systems nahmen zu, während bei den Russen die Zustimmung zum alten und ihre Skepsis gegenüber dem neuen System wuchs. Auch die Zukunftserwartungen hinsichtlich des neuen Regierungssystems (Item 9) entsprechen dem schon bei der Beurteilung des Wirtschaftssystems vorgefundenen Muster: Beide Ethnien gehen davon aus, dass das neue Regierungssystem in fünf Jahren positive Ergebnisse gebracht haben wird, doch während diese Erwartung bei den Esten 1993 und 1996 mit 88% bzw. 89% konstant hoch blieb, sank diese Erwartung bei den Russen von 79% auf 72%.

Die Items 10 bis 13 enthalten Aussagen zum Regierungssystem, die den beiden ethnischen Gruppen nur 1996 zur Beurteilung vorgelegt wurden und daher keine Aussage über die Veränderung der Meinungsbilder im Zeitverlauf zulassen. Auch hier zeigt sich generell bei den Russen ein höheres Maß an Zustimmung zum alten System als bei den Esten. So

wünschte sich beispielsweise kein Este 1996 das kommunistische Herrschaftssystem zurück (Item 10), während dies immerhin 14% der Russen wollten. Dennoch zeigt dieses Ergebnis deutlich, dass auch die große Mehrheit der Russen in Estland kein Interesse an einer Rückkehr zu den alten Verhältnissen hatte, auch wenn der Anteil, der diese Aussage starke ablehnt (Item 11), bei den Russen mit 55% deutlich kleiner ist als bei den Esten (89%). Der Aussage „Uns würde es besser gehen, wenn wir noch Teil der Sowjetunion wären“ (Items 12 und 13) stimmten nur 5% der Esten und nur 38% der Russen zu, und 87% der Esten sowie 29% der Russen lehnten sie ab. Dieses Ergebnis macht deutlich, dass hinter der größeren Sympathie der Russen für das alte System kaum die Erwartung konkreter materieller Besserstellung steht, sondern dass sie offensichtlich ein eher diffuser Ausdruck der Unzufriedenheit mit Entwicklungen unter dem neuen System ist.

Bezogen auf die ökonomische Situation der eigenen Familie (Items 14-17) nehmen beide ethnischen Gruppen eine positive Entwicklungstendenz wahr, die allerdings bei den Esten stärker ausgeprägt ist als bei den Russen. So beurteilten 1993 nur 29% der Esten ihre Lage als zufriedenstellend (Item 14). 29% meinten ebenfalls, dass ihre ökonomische Situation zum Zeitpunkt der Befragung besser gewesen sei als fünf Jahre zuvor (Item 15), doch mehr als die Hälfte von ihnen war der Ansicht, dass die Situation 1993 schlechter als fünf Jahre zuvor war (Item 16). Die Beurteilung der ökonomischen Lage durch die Russen war 1993 der der Esten sehr ähnlich: 25% schätzten ihre Lage als zufriedenstellend ein, nur ein Fünftel meinte, dass die ökonomische Lage 1993 besser gewesen sei als fünf Jahre zuvor, aber drei Fünftel meinten, sie sei schlechter gewesen als früher. 1996 war bei den Esten der Anteil derjenigen, die die aktuelle ökonomische Situation ihrer Familie als zufriedenstellend einstuften, auf 45%

gestiegen, und knapp zwei Fünftel beurteilten damals die gegenwärtige Lage besser als fünf Jahre zuvor. Bei den Russen war ebenfalls eine Verbesserung der ökonomischen Situation zu beobachten, doch erfasste sie offensichtlich weniger Familien. Der Anteil derjenigen, die 1996 die aktuelle ökonomische Situation ihrer Familie als schlechter als fünf Jahre zuvor beurteilten, war in beiden ethnischen Gruppen gesunken. Während er unter den Esten nicht einmal mehr zwei Fünftel ausmachte, war es bei den Russen allerdings immer noch die Hälfte, die ihre Situation als verschlechtert einstuften. Ein besonders markanter Unterschied zwischen Esten und Russen findet sich bei der Einschätzung der zukünftigen Entwicklung der ökonomischen Situation ihrer Familien (Item 17): Während der Anteil derjenigen, die eine Verbesserung ihrer Situation in den nächsten fünf Jahren erwarteten, bei den Esten stagnierte und sowohl 1993 als auch 1996 gut die Hälfte ausmachte, stieg dieser Anteil bei den Russen

von 33% auf 41% an. Angesichts der vergleichsweise schlechten Erfahrungen der Russen mit dem neuen ökonomischen und politischen System drückt sich in diesen Zahlen wohl vor allem ihre Hoffnung darauf aus, dass sich ihre Situation im neuen Estland wieder verbessern wird.

Im Ergebnis lässt sich sagen, dass sowohl der Wandel des Wirtschaftssystems wie der des Regierungssystems von den Esten in den ersten Jahren der Existenz ihres neuen Staates mit einer zunächst nur langsamen, dann jedoch sehr massiven Abkehr vom alten sowjetischen und einer starken Hinwendung zum neuen System verbunden war. Bei den Russen dagegen fand das neue System im Zeitverlauf nur eine verhältnismäßig verhalten wachsende Zustimmung,

Im Ergebnis lässt sich sagen, dass sowohl der Wandel des Wirtschaftssystems wie der des Regierungssystems von den Esten in den ersten Jahren der Existenz ihres neuen Staates mit einer zunächst nur langsamen, dann jedoch sehr massiven Abkehr vom alten sowjetischen und einer starken Hinwendung zum neuen System verbunden war. Bei den Russen dagegen fand das neue System im Zeitverlauf nur eine verhältnismäßig verhalten wachsende Zustimmung,