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Enttäuschte Hoffnungen: Staatsbürgerschaftsinteressen der Minderheit

3. ETHNOPOLITIK UND KULTURELLE STANDARDISIERUNG - ZUR FRAGE DER

3.3. TRADITION STATT INTEGRATION - DIE REGELUNG DER STAATSBÜRGERSCHAFT

3.3.3. Enttäuschte Hoffnungen: Staatsbürgerschaftsinteressen der Minderheit

Eines der Hauptargumente, das von Vertretern des estnischen Staates in der Staatsbürgerschaftsdebatte immer wieder vorgebracht wird, um die Vorenthaltung der

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1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998

Estland Ida-Viruma Narva

estnischen Staatsbürgerschaft für die russische Bevölkerung zu legitimieren, lautet, dass diese Bevölkerungsgruppe sich durch die russische Staatsbürgerschaft absichern könne. Tatsächlich bot das russische Staatsbürgerschaftsgesetz vom 28. November 1991 den Russen, die auf dem Territorium Estlands lebten, die russische Staatsbürgerschaft durch einfache Registrierung an.

Nach dem geänderten Gesetz vom 6. Februar 1995 haben alle ehemaligen sowjetischen Bürger, die auf dem Territorium der Sowjetunion gelebt haben, das Recht, sich als russischer Staatsbürger registrieren zu lassen.

Von den rund 500.000 in Estland lebenden Russen haben bis Mitte 1997 nur zwischen rund 90.000 und 120.000 Personen davon Gebrauch gemacht. Die Entscheidung war dabei v.a. von der Vermeidung der Staatenlosigkeit und dem Erhalt eines gültigen Reisepasses beeinflusst.

Dagegen war die Bereitschaft, die estnische Staatsbürgerschaft anzunehmen, auf Seiten der russischen Bevölkerung sehr hoch. Schon das oben beschriebene Verhalten dieser Gruppe nach dem 1989 erfolgten Aufruf, sich registrieren zu lassen, um die Chance auf eine spätere Einbürgerung zu wahren, zeigt ihr starkes Interesse an der estnischen Staatsbürgerschaft.

Nach der Untersuchung der Internationalen Organisation für Migration wollten nur 30% der russischen Staatsbürger in Estland und 7% der Staatenlosen nicht oder eher nicht die estnische Staatsbürgerschaft annehmen. (vgl. Estonian’s Noncitizens: A Survey of Attitudes to Migration and Integration. International Organization for Migration 1997) Diese Befunde zeigen deutlich, dass die russische Minderheit in Estland sich keineswegs ausschließlich oder auch nur primär mit Russland identifizierte, sondern vielmehr gewillt war, sich als Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten wie die Esten in den neuen Staat zu integrieren.

Geht man von den Staatsbürgerschaftspräferenzen der russischen Minderheit zu Beginn des Transformationsprozesses aus, so lässt sich nur der Schluss ziehen, dass die Erwartungen dieser Bevölkerungsgruppe durch die Staatsbürgerschaftsgesetze massiv enttäuscht wurden.

Als Folge dieser Entwicklung lässt sich bei der russischen Bevölkerung im Hinblick auf die Erlangung der estnischen Staatsbürgerschaft eine gewisse Resignation beobachten - die Hoffnung auf den estnischen Pass ist in den Regionen mit hohem Minderheitenanteil, Tallinn und Ida-Virumaa im Nordosten, 1995 nur noch bei wenigen anzutreffen (Tabelle 3-1):

Tabelle 3-1: Selbst eingeschätzte Chance, die estnische Staatsbürgerschaft zu erlangen (Staatenlose in %), 1995

Quelle: Kirde-Eesti 1995, 25; nach Semjonov 2000: 22

Die Veränderung in der Struktur der Staatsbürgerschaftspräferenzen der Staatenlosen macht die Misere dieser Gruppe besonders deutlich. Während im Nordosten Estlands das Interesse an der estnischen Staatsbürgerschaft Mitte der 1990er Jahre etwa gleich blieb, nahm es in Tallinn in nur drei Jahren dramatisch ab (Tabelle 3-2).36 Die russische Staatsbürgerschaft stellt aber keineswegs eine Alternative zur estnischen dar, im Gegenteil: Sowohl in Tallinn als auch im Nordosten ist das Interesse an der russischen Staatsbürgerschaft 1995 auf einem zu vernachlässigenden Niveau angelangt. In beiden Regionen wuchs die Zahl derjenigen, die sich nicht entscheiden können, welche Staatsbürgerschaft sie haben wollen.

Tabelle 3-2: Staatsbürgerschaftspräferenz von Staatenlosen (in %), 1993 bis 1995

Quelle: Kirde-Eesti 1995, 23; nach Semjonov 2000: 22

36 Dies könnte an der schlechteren Information über die genauen Einbürgerungsbedingungen im Nordosten liegen.

Realistischerweise sind die Chancen der Bewohner dieser Region eher schlechter einzuschätzen als die der Talliner. V.a. die geforderten Sprachkenntnisse stellen gerade in Ida-Virumaa ein massives Problem dar. Dieser Punkt wird später eingehender behandelt.

Tallinn Nordost-Estland

Wahrscheinlich 24.5 37.1

Unsicher 13 13.1

Nicht

wahrscheinlich 62.5 49.8

1993 1994 1995 1993 1994 1995 Estnische Staatsbürgerschaft 52,5 36,9 31,9 46,5 45,1 47,9 Russische Staatsbürgerschaft 16,0 5,2 2,6 28,3 10,0 2,8

Andere Staatsbürgerschaft … … 5,6 … … 2,8

Unklar 30,5 56,5 59,9 25,2 42,0 46,5

Tallinn Nordost-Estland

Wie lässt sich das schleppende Tempo der estnischen Naturalisierungen erklären? Ein wesentlicher Grund liegt in der Überforderung, aber auch in dem lange Zeit offensichtlich mangelnden Willen der zuständigen Behörden, die Anträge der Einbürgerungswilligen tatsächlich zu bearbeiten und ihre Klienten umfassend zu informieren.

So wird im Evaluationsbericht über die sozialen Integrationsprojekte Estlands die Arbeit der Staatsbürgerschafts- und Migrationsbehörde (Citizenship and Migration Board, CMB) kritisiert – offensichtlich gibt es in der Behörde massive interne Schwierigkeiten und Mängel bei der Information von Klienten. Zudem bestehen über die Funktion des CMB auch innerhalb der Regierung unterschiedliche Auffassungen. Letztlich wurden viele Ratsuchende, insbesondere Personen ohne estnische Staatsbürgerschaft, abgeschreckt. Die Kommission spricht sich für die Verstärkung der Integrationsaktivitäten seitens der Behörde aus und schlägt die Etablierung von Integrationsberatern vor, die in den Regionen aktiv werden, in denen die Minderheitenproblematik besonders kompliziert ist; ein Teil der Dienstleistungen des CMB sollte darüber hinaus in den privaten Sektor verlagert werden. (Mid-Term Evaluation 2000: 5) Auch die OSZE-Mission in Tallinn wurde von einer Vielzahl von Ratsuchenden belagert, die in den zuständigen Behörden keine oder falsche Auskünfte über die Beantragung von Pässen, Aufenthaltsgenehmigungen oder die Naturalisierungsmodalitäten erhalten hatten. (vgl. Birckenbach 1999, s.a. Kap. 4) Darüber hinaus verfügen die Antragsteller aus der Gruppe der russischen Minderheit offensichtlich über sehr unterschiedliche Voraussetzungen für den Erwerb der estnischen Staatsbürgerschaft.

Wie selektiv und ungleich der Zugang dieser Gruppe zur Staatsbürgerschaft ist und welche Kriterien offensichtlich bei der Auswahl eine Rolle spielten, verdeutlicht der Survey der Open Estonia Foundation, in dem Russen mit estnischer, mit russischer und ohne Staatsbürgerschaft befragt wurden (Tabelle 3-3):

In der Gruppe mit estnischem Pass ist der Anteil der höher Qualifizierten deutlich größer als in den Gruppen der russischen Staatsbürger oder der Staatenlosen. Sie sind in höherer Anzahl bereits in Estland geboren, sind jünger, bekleiden höhere Positionen, bilden sich beruflich weiter und beurteilen in stärkerem Maße als die Angehörigen der anderen Gruppen ihren Arbeitsplatz als sicher. Da sie das mit der Beantragung der Staatsbürgerschaft einhergehende Sprachexamen bewältigen konnten, sind auch ihre Sprachkenntnisse besser. Sie wünschen sich in weitaus geringerem Maße als die Befragten der anderen Gruppen die sowjetischen

Verhältnisse zurück. Auch wenn mehr als die Hälfte von ihnen eine doppelte Staatsbürgerschaft befürwortet (53%), ist es doch für sie ein offensichtlich geringeres Problem als für russische Staatsbürger (83%) oder für Staatenlose (71%), dass ihnen diese verweigert wird.

Für die beiden letztgenannten Gruppen sind hingegen Unsicherheit, Gefährdung der Existenz und die Schwierigkeiten, als nicht gleichberechtigter Einwohner des Landes zu gelten, brennende Probleme.

Auf den ersten Blick ist es allerdings erstaunlich, wie stark die Gemeinsamkeiten zwischen der Gruppe mit estnischer Staatsbürgerschaft und der Gruppe der Staatenlosen ist. Im Vergleich zu der Gruppe der russischen Staatsbürger sind auch hier mehr Personen mit höherer Bildung und beruflicher Position vertreten, die Vertrauen in die zukünftige Entwicklung Estlands haben und von denen immerhin noch 30% ihren Arbeitsplatz als sicher einschätzen. Die Gemeinsamkeiten ergeben sich wesentlich durch das Alter - sie kommen wie diejenigen mit estnischem Pass überwiegend aus der jüngeren Generation und können offensichtlich einen höheren sozio-ökonomischen Status im kompetetiven Arbeitsmarkt besser verteidigen als diejenigen mit russischer Staatsbürgerschaft.

Tabelle 3-3: Merkmale von Gruppen mit unterschiedlichem Staatsbürgerschaftsstatus (in %)

Quelle: Open Estonia Foundation 1997a

Für die russische Staatsbürgerschaft haben sich offensichtlich jene entschieden, die ihre Chance auf Integration als gering beurteilt haben oder beurteilen mussten. Diese Gruppe besteht überwiegend aus Alten oder Personen in mittleren Jahren, die über geringere Qualifikation und so gut wie keine Sprachkenntnisse verfügen. Hier ist der Anteil von

Estnische

In Estland geboren 63 15 43

Unter 44 Jahre alt 64 27 65

Mit höherer Bildung 34 16 18

Manager, Spezialisten, Angestellte 48 21 32

Arbeiter 20 36 33

Weiterbildung am Arbeitsplatz im

letzten Jahr 30 5 18

Gefühl der Sicherheit des jetzigen

Arbeitsplatzes 41 18 31

Estnischkenntnisse sehr gut/gut 37 1 8

Tägliche Kommunikation auf

Pensionären besonders hoch.

3.4. Ein Staat - eine Kultur: Sprache als Medium kultureller