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Mit dem Zusammenbruch des ‚Ostblocks‘ und der Sowjetunion als dem letzten der Vielvöl-kerreiche Europas treten in Europa Probleme auf, die zum Teil die Wissenschaft vor voll-kommen neue Fragen stellen, sie zum Teil aber auch mit alten Fragen konfrontierten, von denen man glaubte, dass sie nie wieder aktuell würden – zumindest nicht in Europa. Die ge-waltigen ökonomischen, politischen und kulturellen Transformationsvorhaben in Ost- und Mittelosteuropa, die Orientierung auf die Integration in den Westen – konkretisiert in den Osterweiterungsverhandlungen der EU – haben neben Wirtschafts- und Politikexperten Ver-treter der verschiedensten Disziplinen auf den Plan gerufen, um die Vorgänge zu analysieren und zu begleiten.

Zu den alten Fragen, die sich heute, im Kontext der Globalisierung der Wirtschaft und der wachsenden Bedeutung der supranationalen Institutionen der Europäischen Union, neu stel-len, gehört diejenige nach der Bedeutung des Nationalstaats und nach dem Umgang mit ethni-schen Minderheiten. Obwohl die Staaten und Nachfolgestaaten in Osteuropa sehr unter-schiedliche Entwicklungen durchliefen, ist eine Gemeinsamkeit doch augenfällig: Wurde auch die ‚soziale Frage‘, wie der Transformationsprozess für die Bevölkerung erträglich ges-taltet und abgefedert werden könne (soziale Inklusivität), von Land zu Land unterschiedlich beantwortet, war in der ‚nationalen Frage‘ in den osteuropäischen Gesellschaften schnell ent-schieden: Die neuen Staaten gründeten sich alle als Nationalstaaten, in denen eine Ethnie als das Staatsvolk angesehen wird, in dessen Namen das Territorium beherrscht wird sowie Sym-bole und Traditionen als Ausdruck nationalen Bewusstseins legitimiert werden. Ethnisch he-terogene Staaten, wie die Tschechoslowakei oder Jugoslawien, zerbrachen entlang ethnischer Grenzziehungen.

Der Nationalismus hatte Osteuropa offensichtlich nie verlassen (Brown 1991: 35, nach v.Beyme 1994), sondern unter der „Glocke der sowjetischen Dominanz“ (v.Beyme 1994:

124) sich nicht offen artikulieren können. Ethnische Identität und Abgrenzung waren nach dem Ende dieser Vorherrschaft wichtiger denn je. Zu der nationalen Ordnung schien es keine Alternativen zu geben – in Osteuropa war die Idee der Zivilgesellschaft bald an den Realitäten gescheitert und blieb als ‚letzte Ideologie der osteuropäischen Intelligentsia‘ (v.Beyme 1994:

126) bis heute eher als Vorstellung eines Entwicklungsprogramms denn als ideologisches Gegengewicht von Bedeutung erhalten.

Eine ethnische Gruppe erweckte dabei aufgrund ihrer besonderen historischen Situation ge-steigerte Aufmerksamkeit, da sie erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion (SU) zur Minderheit gemacht wurde, als die sie sich früher nie verstehen musste: Nahezu 25 Millionen Russen und Russinnen leben gegenwärtig in den SU-Nachfolgestaaten in der ‚Diaspora‘. Ihre Situation ist nicht nur deswegen eine besondere, weil sie, ohne zu emigrieren, zur ethnischen oder sprachlichen Minorität wurden, die sich in einem neuen Staat mit dem nationalen Selbst-behauptungswillen der neuen Staatsnationen auseinandersetzen musste. (Smith/Wilson 1997:

845ff) Darüber hinaus erodierte die privilegierte Position der russischen Bevölkerung, die sich im Kontext der multiethnischen Sowjetunion als ‚primus inter pares‘ verstand, deren Sprache überall gesprochen wurde, die die politische Arena dominierte, die überall auf sowjetischem Territorium über eigene Bildungseinrichtungen verfügte und dem offiziell propagierten Ideal des Sowjetbürgers, dessen Heimat die ganze Sowjetunion sei, am nächsten kam.

Die westliche Forschung tat sich lange Zeit schwer mit der Analyse dieses Tatbestands. Das Wesen ethnischer Identität, mehr noch die Motive ethnischer Konflikte wurden lange Zeit als ein Phänomen betrachtet, das im Verschwinden begriffen sei, bzw. dort an Bedeutung ver-liere, wo durch sich modernisierende Gesellschaften parochiale, askriptive Bindungen gelöst und Verteilungskonflikte durch den massenhaft gestiegenen Lebensstandard befriedet seien.

Horowitz (1985; 1992) wies in diesem Zusammenhang wiederholt auf den westlichen ‚bias‘

in der Analyse von ethno-nationalen Phänomenen hin, nach dem durch die paradigmatische Prominenz der sozialen Frage in der westeuropäischen und nordamerikanischen Forschung allein jene Erklärungsansätze galten, die eine ökonomische Interessenleitung auch in ethni-schen Konflikten nachwiesen, den ethniethni-schen Konflikt mithin zum sozialen Verteilungskon-flikt erklärten. Hinsichtlich der Überzeugung, dass es sich bei diesen KonVerteilungskon-flikten im Kern um materielle Belange handele, herrschte eine auffällige Einmütigkeit ansonsten sehr unter-schiedlicher Ansätze, von der marxistischer Klassentheorie bis zu liberalen Markttheorien.

Das Paradigma des Klassenkonfliktes und der Gedanke der sozialen Mobilität haben ebenso wie der liberale Individualismus der Moderne Argumente gegen den Bestand ethnisch defi-nierter Gemeinschaften gegeben (vgl. Horowitz 1992: 12), die bis in die Gegenwart fortwir-ken – ethnische Konflikte werden in der Kategorie der sozialen Klasse beschrieben, materielle Interessen als Katalysatoren des Konflikts gesehen und in jedem Fall als erstes identifiziert.

Vieles macht die Suche nach materialistischen Gründen auch plausibel – nur finden sich ge-rade in ethnischen Bewegungen und Konflikten immer wieder Konstellationen, in denen sich

auch bei genauerer Analyse nicht die materiellen Interessen als primäre Ursachen für Kon-flikte offenbaren, Klasse oder soziale Schicht sich nicht mit ethnischer Blockbildung decken.

Unter Ideologieverdacht gerieten bei der Erklärung dieser Phänomene schnell jene Theorien, die jenseits des Verteilungskonfliktes etwa emotionalen Bindungen Wirkungsmächtigkeit in diesen Konflikten zusprachen. Und in der Tat: Theorien wie etwa Huningtons ‚Clash of Civi-lizations‘ bestechen weniger durch analytischen Tiefgang als durch ihre geschickte Verbin-dung von politischer Polemik mit einer Identitäts(re)konstruktion, in der Xenophobie und eine konfliktgeladene ethnische Differenzierung die dominanten Aspekte sind. Trotz der wenig überzeugenden Verabsolutierung der kulturellen Differenz können Vertreter des kulturalisti-schen Lagers wie Huntington jedoch einen Erfolg für sich verbuchen, nämlich die Aufmerk-samkeit darauf gelenkt zu haben, dass ethnisch-kulturelle Konflikte sich nicht in der Moderne aufgelöst haben, sondern - im Gegenteil – auch ‚moderne‘ Gesellschaften davon in wachsen-dem Maße betroffen sind.

Die Welle der osteuropäischen Staatenbildungen brachte damit neuen Stoff für die Diskus-sion, wie das Fortwirken der ethnischen Identität und der oftmals erschreckende Fundamenta-lismus ethnischer Bewegungen zu erklären sei. Auf der Suche nach Auslösern und Akteuren war dabei zunächst festzustellen, dass weder die Prognosen der Totalitarismustheorie noch der Nationalismustheorie der 1970er und 1980er Jahre zutrafen: Allen ethnischen Differenzen zum Trotz war die Ruhe und Stabilität in der Koexistenz innerhalb der multiethnischen Staa-ten nur bedingt und zeitweise einer zentralisierStaa-ten, repressiven Kontrolle zuzurechnen. Die Annahme, dass diese Staaten an ihren ethnischen Differenzen zerbrechen würden, bewahr-heitete sich ebenfalls nicht. (v. Beyme 1994: 126)

Für die Forschung eröffneten sich nun jenseits der klassischen System- und Funktionalis-mustheorien Möglichkeiten, die ethnischen und nationalen Identitäten und ihre Geschichte hinter dem „Eisernen Vorhang“ genauer in den Blick zu nehmen. Der ehemaligen Sowjet-union als größtem der drei zerfallenden föderativen Staaten kam hier besondere Bedeutung zu.

Etliche Forscher richteten im Wissen um die neue Bedeutung ethnischer Identität ihr Augen-merk auf die Geschichte und Situation der Nationalitäten in der Sowjetunion, der sich vor Perestrojka und Zerfall nur wenige gewidmet hatten (vgl. etwa Rockett 1981; Karklins 1986;

Simon 1986), was angesichts der schlechten Quellen- und Datenlage nicht sehr überrascht.

Zwar wurde nun entdeckt, dass die Nationalitäten der Sowjetunion keineswegs „seelenlose Kollektive waren, die auf die Formulierung der sie betreffenden Projekte scheinbar keinen Einfluss ausübten“. (Baberowski 1998: 307) Die Geschichtsschreibung über die Nationalitä-ten wird aber auch gegenwärtig noch als defizitär empfunden, da sie zu sehr auf die „Auf-zählung normativer Akte, die für Wirklichkeit ausgegeben werden“ bezogen sei. (Baberowski 1998: 307f)1

Der Zusammenbruch und die daraus entstehenden souveränen Nachfolgestaaten rückten aber nicht nur die Ethnien in den Mittelpunkt des Interesses, die sich nun erstmals oder erneut Staat und Verfassung gaben. Durch die Auflösung der föderalen Struktur und die National-staatsgründungen fand sich in den meist ethnisch heterogen besiedelten Territorien ein Teil der Bevölkerung plötzlich als eine ethnische Minderheit in den neuen Staaten wieder, deren Ansprüche auf Partizipation und Repräsentation gegenüber den Titularethnien neu verhandelt werden mussten und durchaus nicht überall gesichert waren. Der Situation und Entwicklung der Russen in der Diaspora widmeten sich seit Mitte der 1990er Jahre eine Reihe von For-schungsarbeiten, in denen diese neue Situation der russischen Minderheiten beleuchtet wird.2 Wurde zunächst die Möglichkeit lokaler und regionaler Destabilisierungsprozesse in der Um-bruchsphase der Staatsgründungen diskutiert (Kolstoe; Shlapentokh) differenzierte sich die Betrachtung und Analyse in den folgenden Jahren weiter aus – Smith und Wilson (1997) wie-sen zu Recht darauf hin, dass man nicht von der ‚einen‘ russischen Diaspora sprechen könne, sondern je nach dem spezifischen Kontext hinsichtlich ihres ethnischen Bewusstseins und ihrer Existenzbedingungen sehr unterschiedliche Gruppierungen eventuell vorschnell als Kollektiv interpretiere und damit Gefahr laufe, multiple Identitäten, entstehende oder bereits existierende Fragmentarisierungen und Identitätsverschiebungen innerhalb der Minderheiten-gruppe zu übersehen. Die Diskussion wandte sich nun verstärkt der ‚Identitätsfrage‘ und den Reaktionsoptionen der neuen Minderheit zu3 – inwiefern war die verstreute russische Bevölkerung in den ehemaligen Sowjetrepubliken nun in der Lage, ihre Position zu behaup-ten, wo fand Widerstand oder Abwanderung statt? Dort, wo die Minderheit in den neuen

1 Die Periode des Stalinismus wurde neben Simon (1986) von Suny (1994) untersucht. Roeder legte bereits 1991 eine interessante Untersuchungsskizze zur Rolle der nationalen Eliten im sowjetischen Herrschaftssystem vor. Einen Überblick über die ethnische Landschaft bieten Kappeler (1992), zur SU-Periode Grobe-Hagel (1992). Zur Renaissance des Nationalismus vgl. Geyer (1993); Mommsen (1993); Brubaker (1992) analysiert die Institutionalisierung von Nationalstaatlichkeit in der sowjetischen Nationalitätenpolitik.

2 Stellvertretend seien hier genannt: Shlapentokh/Sendich/Payin 1994; Kolstoe 1995; Chinn/Kaiser 1996; Aasland 1996;

Smith/Wilson 1997.

3 Dieser Frage ging v.a. Laitin (1998) in einer vergleichend angelegten empirischen Studie unter dem Titel ‚Identity in formation‘ nach, vgl. auch Smith 1998.

Staaten blieb, wurde zur zentralen Frage, ob und wie sie sich den neuen Bedingungen anpas-sen werde, ob sie sich zu einem kollektiven Subjekt entwickele, das politisch und kulturell geschlossen auf die nationalen Abgrenzungsprozesse reagiere, oder eher eine diffuse Gruppe individueller Akteure sei, die nur durch bestimmte Merkmale, wie z.B. die gemeinsame Spra-che, verbunden werde. (vgl. Laitin 1998; Vihalemm 1999: 18)

Dabei wurde dem Baltikum aus verschiedenen Gründen in der Forschung, aber auch in der Öffentlichkeit, besondere Aufmerksamkeit zuteil. Estland, Lettland und Litauen hatten sich als erste aus dem sowjetischen Staatenbund gelöst und ihre Unabhängigkeit erklärt. Da die Annektierung der drei Staaten durch die Sowjetunion 1940 vom westlichen Ausland nie aner-kannt worden war, verfolgte die Weltöffentlichkeit die erneuten Staatsgründungen dieser Länder überwiegend mit großer Sympathie und Anteilnahme. Die Reaktionen aus der politi-schen Zentrale in Moskau brachten zudem nicht nur Sowjetologen zu Bewusstsein, dass sich hier vermutlich nicht nur das Schicksal der baltischen Peripherie entschied, sondern der ge-samte Staatenbund nun Anfang der 1990er Jahre einer ungewissen Zukunft entgegensah.

In den nun folgenden Jahren fielen die baltischen Staaten nicht nur durch ihre rasche Orientie-rung an West- und Nordeuropa und ihrem entschiedenen Transformationskurs v.a. in der öko-nomischen Sphäre auf, sondern auch durch eine vergleichsweise rigide Haltung gegenüber ihrer russischen Minderheit.4 Dabei ist in der Diskussion die Legitimität und das Ausmaß dieser Rigidität heftig umstritten. Im Falle Estlands werden auf der einen Seite die deutlich erkennbaren sozialen Erosionsprozesse in der estnischen Gesellschaft als Konsequenz des liberalen Steuerkurses interpretiert, der alle Einwohner Estlands gleichermaßen treffe (Kirch/Kirch 1992), auf der anderen Seite stellen eine Reihe von Autoren eine mehr oder minder starke Benachteiligung der Minderheit in den meisten gesellschaftlichen Sphären fest.

(Laitin 1998; Andersen 2000; Vihalemm 1998; Smith/Wilson 1997; Aasland 1998)

Angesichts der Zuspitzung der ethnischen Beziehungen in Estland – aber auch in anderen Nachfolgestaaten der UdSSR - wurde vielfach erwartet, dass es dort zu gewaltsamen ethni-schen Konflikten kommen werde. David Laitin beschreibt in seiner Untersuchung zur Situa-tion der russischen Minderheit in Estland, Lettland, Ukraine und Kasachstan die Stimmung folgendermaßen:

4 In vielen Forschungsbeiträgen zur Minderheit in den baltischen Republiken wird zwischen ‚russischsprachiger‘ und

‚russischer‘ Minderheit unterschieden. Angesichts der Tatsache, daß im Untersuchungsfall Estland die Differenz zwischen diesen Gruppen maximal 2% beträgt, wurde hier auf diese Unterscheidung verzichtet. (vgl. a. Smith/Wilson 1997: 862)

„In all four republics, the Russian-speakers are angry and frustrated. They blame the titulars in general, and the nationalist leaders of their republics in particular, for the uncertainty they are currently facing. For many theorists of ethnic tension, this is the recipe for war.”

Brubaker (1997) war beispielsweise davon überzeugt, dass die russischen Minderheiten in den neuen Republiken kommunale Rechte und Privilegien fordern werden und, falls ihre Ansprü-che nicht erfüllt würden, mit ihrer Mobilisierung zu rechnen sei. Doch erstaunliAnsprü-cherweise – und auch dankenswerterweise – haben sich diese negativen Erwartungen vielfach nicht erfüllt.

Artur Kuznetsov, erster Minister für Nationalitätenfragen in der Volksfront-Koalition Est-lands, sagte 1991 gegenüber Laitin (1998: 180):

„[...] our situation is without violence between the ethnic groups, without sharp confrontations and victims. … Now Estonia is the only republic in the Soviet Union without one person hurt in the ethnic violence, we have had no victims.”

Abgesehen davon, dass Estland heute ein selbständiger Staat und keine Sowjetrepublik mehr ist, hat sich an diesen beiden Feststellungen bis heute nichts geändert.

Diese beiden Stellungnahmen und der in ihnen enthaltene scheinbare Widerspruch wurden zum Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Ein großer Teil der Forschung über die ethni-schen Beziehungen in den Transformationsstaaten des ehemaligen Ostblocks konzentriert sich auf die eindeutigen Konfliktfälle: Wie ist es etwa auf dem Balkan oder in Azerbaid_an, wo Konflikte offen, vielfach unter Anwendung von Gewalt ausgetragen wurden, zu diesen ge-kommen, welche Faktoren sind für den Ausbruch verantwortlich, welche Entwicklungen ha-ben ihn begünstigt? Dagegen werden die Fälle, in denen die Entwicklung trotz ethnischer Heterogenität, zuweilen sogar spannungsgeladener Atmosphäre, einen friedlichen Verlauf nehmen, weniger häufig untersucht. Dabei ist das in den meisten der neuen Staaten Osteuro-pas sichtbare Phänomen ebenso erklärungsbedürftig: Warum kommt es in jenen Gesellschaf-ten, in denen anscheinend alle Voraussetzungen für den Ausbruch eines offenen ethnischen Konfliktes gegeben sind, nicht dazu? Diese Arbeit will einen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke leisten und geht am Beispiel Estlands drei zentralen Fragestellungen nach:

• Wovon hängen Entstehung und Verlauf ethnischer Mobilisierungsprozesse in ethnisch heterogenen Gesellschaften ab?

• Wie haben sich seit Beginn des Unabhängigkeitskampfs der Esten die ethnischen Beziehungen in dem Land entwickelt und wie werden sie sich voraussichtlich weiter entwickeln?

• Welche Faktoren haben den Ausbruch militanter ethnischer Konflikte bisher verhin-dert und welche Chancen bestehen, dass sie auch in Zukunft pazifierend wirken wer-den?

Zur Beantwortung dieser Fragen wurden verschiedenen Quellen ausgewertet. Basierend auf einer Literaturanalyse und der Sichtung unterschiedlichen statistischen Datenmaterials über den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel in Estland wurde ein Leitfaden für Ex-pertengespräche entwickelt, der die Grundlage für Interviews mit verschiedenen Experten aus Forschung und Politik in Deutschland und Estland war. Die Expertengespräche wurden in den Jahren 2000 und 2001 geführt. Der generelle Ansatz der Arbeit besteht in einem doppelten Vergleich: In einem ersten Schritt wird die Situation der Esten und der Russen in Estland mit-einander verglichen, wobei seit dem Beginn des Unabhängigkeitskampfs der Esten stattge-fundene bzw. stattfindende Veränderungsprozesse im sozio-ökonomischen Status der beiden Gruppen von besonderem Interesse sind. In einem zweiten Schritt soll geprüft werden, ob die in dieser Arbeit gefundenen Erklärungen für die Entwicklung der ethnischen Beziehungen in Estland auch auf entsprechende Entwicklungen in anderen Ländern anwendbar sind und mit alternativen Erklärungsmodellen konkurrieren können.

Die Arbeit geht in den folgenden sieben Kapiteln unterschiedlichen Dimensionen der Prob-lemstellung nach. Zunächst (Kapitel 2) wird aus der wissenschaftlichen Diskussion über eth-nische Konflikte ein theoretisches Modell der Entstehung und des Verlaufs etheth-nischer Mobili-sierungsprozesse entwickelt, das die wesentlichen Bestimmungsfaktoren dieser Prozesse be-nennt und miteinander in Beziehung setzt. Daran anschließend (Kapitel 3) beginnt die Be-stimmung der regulativen Rahmenbedingungen und der derzeitigen Qualität der ethnischen Beziehungen in Estland. Hier werden beide Gruppen in bezug auf ihren rechtlichen, politi-schen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Status in der estnischen Gesellschaft vergli-chen. Entlang der Kriterien Sprache, Staatsbürgerschaft, Wahlrecht und der sozialstrukturel-len Entwicklung der beiden ethnischen Gruppen soll geklärt werden, inwieweit die russische Minderheit Estlands in den neuen Staat inkludiert oder exkludiert wird. Im vierten Kapitel werden die ethnischen Mobilisierungsprozesse in Estland vor der Unabhängigkeit des Landes daraufhin untersucht, wie es zu der beobachteten Umkehr des gesellschaftlichen Status der

Esten und der Russen kam. Von besonderer Relevanz ist hier, welche Gruppen innerhalb der beiden Ethnien als Akteure der politischen Interessenorganisation aufgetreten sind, welche Zielsetzungen existierten, welche Gruppen und Organisationen sich formiert haben, welches ihre gesellschaftliche Basis war und in welcher Form der politische Streit zwischen den bei-den Ethnien sich vollzogen hat. Daran anschließend (Kapitel 5) wird der Frage nachgegangen, wie sich die russische Minderheit unter den veränderten politischen, rechtlichen und ökono-mischen Bedingungen und nach ihrem Verlust an gesellschaftlichem Status in der neuen Re-publik Estland eingerichtet hat. Auch hier interessieren ethnisch basierte Prozesse politischer Mobilisierung, darüber hinaus aber auch fundamentale politische Orientierungen der Russen sowie Auswanderungspläne, Anpassungsprozesse, Resignation und Formen des Widerstands gegen empfundene Diskriminierungen. Gefragt wird auch, ob sich in der gegenwärtigen Situ-ation ethnische Entrepreneure auf Seiten der Russen identifizieren lassen. Im sechsten Kapitel werden auf der Grundlage des in Kapitel 2 entwickelten Modells der Entstehung und Ent-wicklung ethnischer Mobilisierungsprozesse die Ergebnisse der Analyse der ethnischen Be-ziehungen in Estland präsentiert und zu klären versucht, wie stabil der gegenwärtige ethnische Friede in Estland auch für die Zukunft sein wird. Im siebten Kapitel wird am Beispiel der Ukraine und der „Kultur-Differenz“-These geprüft, ob das hier entwickelte Erklärungsmodell auch auf andere Länder anwendbar ist und bessere Erklärungen für die beobachtbaren Phä-nomene im Bereich der ethnischen Beziehungen liefert als andere Modelle. Im achten Kapitel werden schließlich die Ergebnisse der Arbeit im Kontext des bevorstehenden Beitritts Est-lands zur Europäischen Union reflektiert.