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D ER WANDEL DER ETHNISCHEN B EZIEHUNGEN UND DER ETHNOPOLITIK IN ESTLAND IM

3. ETHNOPOLITIK UND KULTURELLE STANDARDISIERUNG - ZUR FRAGE DER

3.1. D ER WANDEL DER ETHNISCHEN B EZIEHUNGEN UND DER ETHNOPOLITIK IN ESTLAND IM

souveränen Staat

Der Wandel von der Sowjetrepublik zu einem souveränen Nationalstaat Estland war mit gravierenden Veränderungen im politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Miteinander von Esten und Russen verbunden. Wenngleich dieser Wandel sich sehr rasch und umfassend, geradezu wie ein Bruch mit den zuvor herrschenden Verhältnissen, vollzog, was in den folgenden Kapiteln genauer herausgearbeitet werden wird, war er ganz wesentlich bestimmt von Rückbezügen der estnischen Nationalbewegung auf die Zeit der estnischen Unabhängigkeit vor dem Zweiten Weltkrieg und die Verhältnisse und Praktiken des Sowjetregimes. Dies drückt sich vor allem darin aus, dass die Nationalbewegung möglichst nahtlos an die Verhältnisse der Zwischenkriegszeit anknüpfen und die Zeit der sowjetischen Herrschaft als unliebsame Zwischenperiode mit fatalen Fehlentwicklungen verstehen wollte:

„Im Zuge der nationalen Bewegungen seit Mitte der achtziger Jahre hatten sich in allen drei baltischen Republiken klare Forderungen herauskristallisiert, die auf die Beseitigung der [...]

Fehlentwicklungen und der Mängel der sowjetischen Politik seit 1940 abzielten. Diese Forderungen waren demographischer, politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Natur. Ihnen gemeinsam war die Tendenz, die ethnische Dimension des Konfliktes mit dem sowjetischen Zentrum deutlich zu machen, [...]: das grundsätzliche Ziel der nationalen Bewegungen war es, den baltischen Völkern in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur wieder ihren Platz als „allein staatstragende Nationen“ zu verschaffen und ihre einstige Vorherrschaft der Jahre 1918-1940 zurückzugewinnen. Diese Wiederherstellung sogenannter

„nationalstaatlicher Normalität“ kann als die zugrundeliegende Zielsetzung der Politik der drei baltischen Republiken seit 1990, besonders aber seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991, angesehen werden. Dies gilt ganz besonders für die Ethnopolitik.“

(Hanne/Onken/Götz 1998: 309)

Die Politik der estnischen Nationalbewegung während des Unabhängigkeitskampfes und der späteren souveränen Regierungen Estlands gegenüber der russischen Minderheit im Land muss deshalb in der Kontinuität der Annexion des Landes durch die Sowjetunion und der sowjetischen Nationalitäten- und Wirtschaftspolitik analysiert und bewertet werden, da diese wesentlich die Ausgangsbedingungen und die politischen Inhalte und Forderungen der estnischen Unabhängigkeitsbewegung beeinflusst haben. Bevor in den folgenden Kapiteln

geschildert wird, wie sich das Verhältnis der Esten und der russischen Minderheit in Estland seit dem Beginn des Kampfes um die Unabhängigkeit von der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre veränderte, bedarf es eines genaueren Blicks auf die Ausgangslage dieser Entwicklungen. Deshalb soll hier zunächst gezeigt werden, wie die ethnischen Beziehungen sich unter dem Sowjetregime entwickelt haben und welche Faktoren für diese Entwicklungen maßgeblich waren.

Solange die Sowjetunion bestand und ihr Machtanspruch unangetastet blieb, war das Verhältnis von Esten und Angehörigen der russischen Minderheit vor allem von der Annexion Estlands durch die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg und die darauf folgende Herrschaftsausübung der Moskauer Zentralregierung bestimmt. Diese Politik wurde in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich durch zwei generelle Ziele sowjetischer Entwicklungspolitik geprägt: die ideologische und kulturelle Assimilation der unterschiedlichen Völker der Sowjetunion zu einem „Sowjetvolk“ und eine rasche Industrialisierung des an Rohstoffen zur Energiegewinnung reichen, aber stark von der Landwirtschaft dominierten Landes. (Hanne/Onken/Götz 1998: 305 f)11

Beide Zielsetzungen hatten erheblichen Einfluss auf die Gestaltung und Entwicklung der ethnischen Beziehungen im Land. Dabei war sowjetische „Nationalitätenpolitik“12 formal keineswegs als Unterdrückung und Überwindung anderer Kulturen konzipiert, sondern explizit als eine umfassende Gleichstellungspolitik formuliert. Die zentrale Voraussetzung für die Integration des estnischen Volkes – wie auch der anderen Völker - in ein einheitliches Sowjetvolk wurde in der zunächst herzustellenden vollen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der einzelnen Völker gesehen. Zuerst sollte vermittels des Einsatzes großer finanzieller und administrativer Mittel die politische, kulturelle und wirtschaftliche Gleichstellung der einzelnen Völker mit den Russen erreicht werden. Auf dieser Basis, so das Kalkül, würden zwangsläufig ideologische und kulturelle Unterschiede verringert, und die ökonomische Gleichstellung gäbe keinen Anlass zu Zwietracht zwischen einzelnen Völkern.

(Simon 1986; Geyer 1993; Hanne/Onken/Götz 1998: 305 ff) Doch bestand zwischen dieser zunächst angestrebten Wahrung der kulturellen Vielfalt und dem langfristigen Ziel der

11 Die gut entwickelte Infrastruktur der baltischen Staaten Estland und Lettland machte dort die Investition in die industrielle Entwicklung preiswerter als in den weniger entwickelten Regionen der SU (Norgaard 1996: 36).

12Die Literatur zu den Nationen der Sowjetunion und der Nationalitätenpolitk ist zahlreich, stellvertretend seien hier genannt: Carrère d’Encausse (1979); Karklins (1986); Simon (1986); Kappeler (1992), Mommsen (1992); Geyer (1993) Motyl 1992 Brubaker (1997). Zur Geschichte Estlands und der anderen baltischen Staaten: Raun (1987); v. Rauch (1990); Butenschön 1992; Taagepera (1993).

Schaffung eines kulturell homogenen Gesamtstaats ein unüberbrückbarer Widerspruch, in dem die reale Politik der Zentralregierung sich letztlich doch zugunsten kultureller Hegemonie entschloss:

„Gleichzeitig wurde aber die kulturelle Vielfalt zum Zwecke der Integration in einen Gesamtstaat mit einer einheitlichen, russisch-sowjetischen Kultur überwölbt. Gerade die Verbreitung der russischen Sprache als notwendigem unionsweiten Kommunikationsmedium erhielt dabei große Bedeutung.“ (Hanne/Onken/Götz 1998: 305)

Diese kulturelle Überwölbung der eigenen Kultur wurde vor allem im Bereich der Sprache wahrgenommen. War Estnisch in der Zeit der Unabhängigkeit zwischen den Kriegen Amts-, Geschäfts- und Hauptverkehrssprache, so wurde ihr nun die russische Sprache formal gleichwertig an die Seite gestellt, was von den Esten als Bedeutungsverlust der Muttersprache empfunden wurde. Russisch spielte eine größere Rolle als Estnisch in der staatlichen und kommunalen Verwaltung, in der Wirtschaftsführung und in den gesellschaftspolitischen Organisationen. Darüber hinaus war Russisch in der Regel auch die Sprache, in der die Esten mit den Zuwanderern kommunizieren mussten, da diese zumeist nicht die estnische Sprache beherrschten. (Hanne/Onken/Götz 1998: 308)

Auch die Realisierung des Industrialisierungsprojekts war nicht frei von Widersprüchen, die sich auf die ethnischen Beziehungen auswirkten. Zum einen handelte es sich in Estland um einen sehr stark agrarisch geprägten Staat, in dem bis zum Zweiten Weltkrieg kaum Industrie entwickelt worden war: unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg waren immer noch zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. (Bollow 1998: 90) Die Sowjetregierung musste also erst einmal die Voraussetzungen für den Wandel der estnischen Volkswirtschaft zu einem modernen Industriestaat sowjetsozialistischer Prägung schaffen, d.h. Schwerindustrien ansiedeln und vor Ort für ein entsprechend ausgebildetes Arbeitskräftepotential sorgen (Hallik 199613): Darüber hinaus verfolgte sie mit brutalen Mitteln das Ziel der Kollektivierung der Landwirtschaft, um die Industrialisierung auch durch den Umbau dieses Sektors voranzutreiben. (Forced Migration Projects 1997)14

13 Vgl. a. http://www.unu.edu/unupress/unupbooks/uu12ee/uu12ee00.htm

14 vgl. zu diesen Abschnitten der estnischen Geschichte auch: http://www.ciesin.ee/ESTCG/HISTORY2.html

Die Bereitstellung einer ausreichenden Menge qualifizierter Arbeitskräfte gestaltete sich schon deshalb problematisch, weil Estland während des Krieges durch Kriegshandlungen und Emigration, aber auch durch Vertreibung, Deportation und Ermordung nahezu der gesamten jüdischen Bevölkerung des Landes rund ein Viertel der Bevölkerung verloren hatte.

(Hanne/Onken/Götz 1998: 305)15 Hinzu kam, dass die totalitäre Regierung in Moskau den aus dem unabhängigen estnischen Staat der Zwischenkriegszeit hervorgegangenen einheimischen Verwaltungs- und Wirtschaftsspezialisten misstraute und deren Beseitigung betrieb, anstatt sie in das sowjetische Modernisierungskonzept einzubinden. Durch Ausschaltung der alten Elite und die Kollektivierung der Landwirtschaft wurden nach dem Krieg aus den drei baltischen Sowjetrepubliken noch einmal hunderttausende Menschen deportiert und zehntausende von ihnen ermordet (Hanne/Onken/Götz 1998: 305; in Estland waren rund 50.000 Personen Opfer von Deportation und Ermordung)16. Um die dadurch noch verschärfte Arbeitskräfteknappheit aufzufangen, entschied sich die politische Zentrale letztendlich dafür, die für das Industrialisierungsprojekt und die politische Kontrolle der neuen Sowjetrepublik notwendigen Arbeitskräfte und Spezialisten aus russischen und russischsprachigen Experten zu rekrutieren. Dabei wurden vor allem Russen, Weißrussen und Ukrainer an Schlüsselpositionen gesetzt. (Hanne/Onken/Götz 1998)

In dieser ersten Phase der Zuwanderung kamen etwa 100.000 Personen nicht-baltischer Herkunft in die baltischen Republiken. (Hanne/Onken/Götz 1998: 306) Allerdings hatte die sowjetische „Entwicklungspolitik“ für Estland zumindest in ökonomischer Hinsicht auch positive Folgen, die wiederum eine neue Zuwanderungsdynamik in Gang setzten. Zwischen 1956 und 1968, unter der Ära Chru__ev, verbesserte sich das wirtschaftliche Niveau der estnischen Volkswirtschaft so sehr, dass sie einen weit besseren Lebensstandard der Bevölkerung erlaubte als in Russland. Dieser Umstand zog erneut eine Immigrationswelle nach sich, vorwiegend aus den ärmeren Regionen Russlands. (Oplatka 1999: 166) Eine letzte Einwanderungswelle aus Russland fand schließlich Anfang der 1970er Jahre unter dem Druck zur Erhöhung der Produktivität der estnischen Energiewirtschaft statt, aber auch vor dem Hintergrund einer sich stetig verschlechternden ökonomischen Versorgungslage der Bevölkerung.17

15 ebd.

16 http://www.ciesin.ee/ESTCG/HISTORY3.html; Brettin (1995: 79) geht von 80.000 verschleppten, inhaftierten und ermordeten Personen aus. Dabei handelte es sich vor allem um Bauern, die sich der Zwangskollektivierung widersetzt hatten.

17 http://www.ciesin.ee/ESTCG/HISTORY3.html;

Die demographischen Folgen dieser Entwicklungen für das Land waren gravierend. Stellte die estnische Titularethnie 1934 noch 88,2% der Bevölkerung, während Russen nur 8,2% der Bevölkerung ausmachten, so betrug der Bevölkerungsanteil der Esten 1989 nur noch 61,5%, während Russen, Weißrussen und Ukrainer zusammen 35,2% der Bevölkerung ausmachten.

(Hanne/Onken/Götz 1998: 306)18 Nach Hanne, Onken und Götz (1998) waren die von Hanne (1996) folgendermaßen für Lettland beschriebenen Verhältnisse typisch für die Situation aller baltischen Republiken:

„Durch den Einsatz von Spezialisten aus Russland und der Ukraine in der Wirtschaft waren Russen, Russland-Balten, Ukrainer und Weißrussen im Wirtschaftsmanagement stark überrepräsentiert. In der Miliz, Polizei, Schifffahrt, Luftfahrt und in den kommunalen Verwaltungen dominierten sie ebenfalls. Auch in den nach sowjetischem Ideal prestigeträchtigen Industriebeschäftigungen überwogen sie. Die baltischen Völker hingegen waren in der Landwirtschaft sowie im Kultur-, Gesundheits- und Bildungsbereich stärker vertreten, wo Beschäftigungen zumeist schlechter bezahlt und mit weniger Prestige versehen waren. Durch die Zuwanderung von Spezialisten wiesen die größten nicht-baltischen Ethnien, allen voran die Russen, auch ein etwas höheres Bildungsniveau sowie einen höheren Urbanisierungsgrad auf“. (Hanne/Onken/Götz 1998: 307)

Doch war diese Unterrepräsentanz der Balten besonders in den 1950er und 1960er Jahren ausgeprägt, in der Folgezeit haben die von der Moskauer Zentralregierung aufgebrachten enormen Mittel zur Ausbildung baltischer Kader und Spezialisten zu einer Relativierung dieser Verhältnisse geführt. (Hanne/Onken/Götz 1998: 307 f) Esten stand so trotz der kulturellen, ökonomischen und politischen Dominanz der Russen der Weg in gesellschaftliche Leitungsfunktionen durchaus offen, in einigen Bereichen waren sie zahlenmäßig sogar überrepräsentiert. Aufgrund der Förderung nationaler Kader stellten sie Ende der 1980er Jahre in allen wichtigen Bereichen des öffentlichen Lebens den größten Anteil der Beschäftigten.

Nach den sowjetischen Statistiken von 1987 machte der Anteil der Esten in der Staatsbürokratie 72% aus; sie stellten 67% des wissenschaftlichen Personals, im kulturellen und künstlerischen Bereich 84%, in der Bildung 71%, im Gesundheitswesen, Sport und sozialer Sicherheit 67%, in Handel und Dienstleistung 62%, im Bauwesen 61%, Transport und Kommunikation 47%, in der Landwirtschaft 84% und schließlich in der Industrie 47%.

Die politischen Spitzenpositionen im Obersten Sowjet der Republik Estland nahmen in den 1970ern und frühen 1980ern zu 70%- 80% ethnische Esten ein. Im Zentralkomitee erhielten sie ebenfalls zwischen 70% und 80% der Sitze, obwohl der Anteil der Esten in der Kommunistischen Partei Estlands nur etwa 50% betrug. (Park 1994: 74 ff)

18 Die Anteile von Ukrainern und Weißrussen an der Bevölkerung waren 1934 zu gering, um sie statistisch ausweisen zu

Den Esten kam hier die Hierarchie im sowjetischen Nationalitätenspektrum zugute. Schon strukturell gesehen waren Ethnien mit eigenen Unionsrepubliken im Vorteil. Die Nationalitätenpolitik hatte eine Rangordnung von Nationen (nacii), Nationalitäten (nacional'nosti) und Völkerschaften (narodnosti) geschaffen. Ihnen entsprachen ungefähr die Territorialeinheiten, die in der Unionsverfassung 1936 und 1977 festgeschrieben wurden:

Unionsrepubliken, Autonome Republiken, Gebiete und Kreise. (vgl. Geyer 1993: 176) Die Chancen von Angehörigen der Titularethnien auf eine Karriere in der Verwaltung oder Wirtschaft waren durch bessere Bildungsmöglichkeiten eindeutig höher als für Angehörige der Völker, die z.B. in einer autonomen Republik lebten.19 Hodnett (1978) weist nach, dass zwischen 1955 und 1972 in 11 der 14 nichtrussischen Republiken die Titularnationalität auf Republiksebene in der Partei und Administration überrepräsentiert war.20 Nach Simon (1986) hatten z.B. die Autonomen Republiken gegenüber den Unionsrepubliken einen deutlich schlechteren Status. Bildungswesen und Berufsleben standen in diesen im hohen Maß unter russischem Einfluss und gewährten Einheimischen keine Chancengleichheit.

Die Herrschaft durch die Moskau gegenüber loyalen estnischen Kader brachte beiden Seiten Vorteile, die auch die 40 Jahre wirksame Unterdrückung oder mindestens die Kontrolle ethnischer Artikulation erklären können: In den Modernisierungsanstrengungen der SU kam der Etablierung nationaler Kader eine wesentliche Rolle zu. Nach der Einschätzung Roeders (1991) wurde in der SU der interethnische Friede weniger durch die Beseitigung von ethnischem Konfliktstoff hergestellt als vielmehr durch die Eliminierung von Mobilisationschancen für unabhängigen ethnischen Protest. Die Strategie lief darauf hinaus, die einheimische Unterstützung der lange Zeit schwachen fomalen Organisationsstrukturen in den territorialen Administrationsfunktionen zu sichern und ethnische Unruhen wirksam zu unterdrücken.

können. Die Angaben beruhen auf einer noch in der Sowjetunion durchgeführten Volkszählung.

19 So war das muttersprachliche Sekundarschulwesen für Baschkiren, Udmurten, Komi, Karelier, Tschetschenen u.a.

schlechter ausgebaut als für Titularnationen und wurde dazu seit den 1960er Jahren noch weiter abgebaut. Die meisten Völker der autonomen Republiken waren auf russischsprachige Sekundarschulen angewiesen. Auch der Anteil dieser Völker an der Zahl der Hochschulabsolventen ist deutlich geringer als der der Titularnationen. (Simon 1986: 303ff) Minoritäten waren gegenüber den Titularnationen vielfach im Nachteil, da diese durch den sowjetischen Ethnoföderalismus ungleich höhere Chancen der beruflichen und sozialen Mobilität hatten. Dieser Umstand wurde bereits zu sowjetischer Zeit von Minoritäten kritisiert. (vgl. Karklins 1986: 142ff, 219)

20 Allerdings bestanden zwischen den Unionsrepubliken wesentliche Unterschiede: Während in den Kaukasischen Republiken die von Hodnett untersuchten leitenden Positionen zu 80-100% mit Einheimischen (= Angehörigen der Titularethnie) besetzt waren, stellten Kasachen und Moldawier kaum die Hälfte der Amtsinhaber in ihren Republiken; im Baltikum, in der Ukraine und in Usbekistan waren die leitenden Positionen zu 75- ca. 90% mit Einheimischen besetzt, in Belorussland, Tadschikistan, Turkmenien und Kirgisien zu 50-74%.

Zu diesem Zweck wurden

1. in jeder Republik einheimische Kader geschaffen, die die Kontrolle über die Mobilitätsressourcen wie Arbeit, Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen, Massenmedien usw., erhielten;

2. das Verhalten der Kader durch ein Sanktionssystem gelenkt, das von unerwünschten, v.a. primordial orientierten Artikulationen abhielt, und schließlich

3. den Kadern die Verantwortung übertragen, innerhalb der offiziellen Institutionen ein ethnisch distinktes Schichtungssystem zu schaffen und gleichzeitig das Entstehen von ethnischen Akteuren außerhalb dieser Institutionen zu verhindern.

Die Verfolgung primordial orientierter Ziele konnte deshalb nicht im Interesse der ethnischen Kader sein, da das Anreizsystem mit seinen Belohnungen in Form materieller Zuwendungen und Statusgewinn an die Normen und Ziele der Moskauer Zentrale gebunden war. V.a. nach den stalinistischen 'Säuberungen', denen die einheimischen Eliten weitgehend zum Opfer fielen21, und der 'Sowjetisierung' der einheimischen Institutionen (Roeder 1991: 206) waren die Kader mehr denn je an die sowjetischen Institutionen gebunden. Das Ziel der Kader in der sowjetischen Administrationshierarchie war im wesentlichen der Gewinn eines Anspruchs auf möglichst viele Ressourcen. Ethnische Führer, die primordial ausgerichtete Themen zuließen, wurden schnell von ihren Posten entfernt.22

Die ethnischen Kader entfalteten in ihren Heimatländern während der Phase der Modernisierung und des Wachstums eine Politik der 'affirmative action', durch die v.a. den Angehörigen der Titularnationalität Chancen zum Aufstieg in die Intelligentsia und entsprechende Berufsschichten des Landes eröffnet wurden. Karrieremöglichkeiten innerhalb des Administrationsapparates und Managementpositionen im Zuge der Industrialisierung und Kollektivierung kamen wie auch die Einrichtung neuer Bildungsinstitutionen v.a. den jeweils dominierenden Ethnien zugute und führten somit zu einer systematischen strukturellen Bevorzugung.

21 Die Jahre vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu Stalins Tod waren in den baltischen Republiken von Terror erfüllt.

1952 wurde die gesamte Führung der estnischen kommunistischen Partei ‚gesäubert‘ und durch Kommunisten von außerhalb ersetzt. (Norgaard 1996: 36)

22 So wurde z.B. der Erste Parteisekretär der armenischen KP, Sarobjan, 1966 von seinem Posten entfernt, weil er anti-türkische Massenkundgebungen zum 50. Jahrestag des Massakers an den Armeniern nicht verhindert hatte. (vgl. Roeder 1991: 207; Grobe-Hagel 1992: 36)

Um Gegeneliten innerhalb der offiziellen Institutionen zu verhindern, verfügten die Kader über ein dichtes Netzwerk paralleler Institutionen, die alle Aspekte des beruflichen Lebens kontrollierten - wissenschaftliche und künstlerische Artikulation wurde durch und über offizielle Einrichtungen kanalisiert. Außerhalb der offiziellen Institutionen wurden Gegeneliten durch mangelnden Zugang zu den Mobilisierungsressourcen und Abdrängung in die Illegalität blockiert. Ethnische politische Aktionen blieben so an den instrumental definierten Zielen der Kader orientiert.

In der Folge dieser Strategie und ihrer politischen Umsetzung verbanden sich informelle Netzwerke mit den formalen Staatsstrukturen, die Mitglieder der Netzwerke erlangten Zutritt zu finanziellen Ressourcen und geschätzten Waren. Deren Rolle als Belohnung und die Kontrolle über ihre Verteilung durch die Kader verstärkten die Netzwerkstrukturen. Nach Easter (1996) waren diese Netzwerke bis Anfang der 1970er Jahre überregional angelegt, und Karrieremuster regionaler politischer Eliten liefen auf zentrale Positionen auf SU-Ebene hinaus. Unter Breschnew wurde die Macht der territorialen administrativen Eliten als Resultat der allmählichen Machtverlagerung vom Staatszentrum zu den Peripherien entlang informeller Linien eingeschränkt und partikularistischer:

„Informal network ties were employed by regional elites to capture political and economic resources from the center, a situation that led to pervasive economic corruption among the regional political elite. When Gorbachev attempted to introduce a radical reform program in the second half of the 1980s, he found that the structure of informal network ties diminished the center's capacity to implement policies outside Moscow [...] It can be argued that the Soviet state eventually fell apart along the very lines upon which it had been built six decades earlier.“ (Easter 1996: 577)

Gerade in der Regierungszeit Breschnews, in der die Amtszeiten verlängert und die Ämterrotation verringert wurde, gelang es - trotz eines deutlichen Trends zur Re-Russifizierung (vgl. a. Simon 1986: 311f)23 - der Nomenklatura verschiedener Republiken, Klientelsysteme aufzubauen, die im wesentlichen ihre lokalen bzw. regionalen Interessen vertraten. (vgl. Geyer 1993: 177; Meyer 1990: 25) Die von Easter beschriebene Entwicklung der Regionalisierung und Partikularisierung setzte sich in den 1980er Jahren unter dem Trend zu größerer administrativer Spezialisierung fort. Nunmehr wurden auch weniger offensichtliche Schlüsselpositionen, wie niedrigere Verwaltungsbereiche, aber auch sensible Bereiche wie innere Sicherheit und die Parteiadministration, nach ethnischen Kriterien

23 In der üblichen Besetzungspraxis stellte die Titularnation den Ersten Parteisekretär, während der Zweite Parteisekretär in

besetzt. (vgl. Jones/Grupp 1984: 174; Roeder 1991: 204; Simon 1986: 314) Dadurch, dass die entsprechenden Ethnien nahezu ausschließlich über die Bereiche Propaganda und Kultur verfügten (ZK-Sekretär für Propaganda, die Leitung der Abteilungen Propaganda und Kultur, die Minister für Kultur- und Bildungswesen, der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes), kontrollierten sie darüber hinaus wichtige Instrumente der politischen Mobilisierung, wie z.

B. Medien, Versammlungsräume usw.. (vgl. Simon 1986: 314)

Allerdings wurde der Anteil von Angehörigen der baltischen Völker in den von Moskau als strategische Schlüsselpositionen angesehenen Posten in Staat und Wirtschaft dadurch nicht nennenswert erhöht. (Hanne/Onken/Götz 1998: 308) Aus dem überproportionalen Anteil der Esten in der politischen Sphäre darf deshalb nicht auf ihre Entscheidungsmacht geschlossen werden - die wichtigsten politischen Positionen, die über die letztendliche Entscheidungsmacht verfügten waren in Estland wie auch im übrigen Baltikum, von Russen oder 'russifizierten' Esten - Esten, die in Russland geboren oder zumindest aufgewachsen waren - ausgefüllt. Von den insgesamt fünf Positionen im Sekretariat des Zentralkomitees der KPE waren in der Regel zwei bis drei Positionen mit ethnischen Russen besetzt. (Park 1994:

75)

Wie die sowjetische Nationalitätenpolitik letztendlich zu beurteilen sei, ist in der Literatur umstritten. Kirch und Kirch (1992: 94ff., 1997: 14) sehen darin eine Kolonisierungs- und Sowjetisierungsstrategie, Saar und Titma (1992: 8) behaupten, das alleinige Ziel dieser Politik habe in der Vermischung der Völker und der Annexion kleiner Nationen bestanden. Hanne, Onken und Götz (1998: 306) halten dem jedoch entgegen, dass sich keine Belege für diese

„falsch zugespitzte Behauptung“ beibringen ließen und vermuten hinter dieser Interpretation baltisch-nationalistische Emotionen. Sie wenden plausibel gegen solche Auffassungen ein, dass in Regionen und Ländern, wo es keinen nennenswerten Industrialisierungsprozess gegeben habe, wie etwa in Litauen, auch nur wenig Zuwanderung stattgefunden habe. Als

„falsch zugespitzte Behauptung“ beibringen ließen und vermuten hinter dieser Interpretation baltisch-nationalistische Emotionen. Sie wenden plausibel gegen solche Auffassungen ein, dass in Regionen und Ländern, wo es keinen nennenswerten Industrialisierungsprozess gegeben habe, wie etwa in Litauen, auch nur wenig Zuwanderung stattgefunden habe. Als