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Die Auswirkungen der Staatsbürgerschaftspolitik auf die Integration der Minderheit

3. ETHNOPOLITIK UND KULTURELLE STANDARDISIERUNG - ZUR FRAGE DER

3.3. TRADITION STATT INTEGRATION - DIE REGELUNG DER STAATSBÜRGERSCHAFT

3.3.2. Die Auswirkungen der Staatsbürgerschaftspolitik auf die Integration der Minderheit

Generell ist zu konstatieren, dass die estnischen Regierungen hinsichtlich ihrer Politik gegenüber anderen ethnischen Gruppen auf ihrem Territorium eine deutlich

34 Einige Experten kritisieren, dass die schwedische Minderheit mit nur ca. 1.300 Mitgliedern aufgenommen worden ist, während deutlich größere Gruppen wie die ukrainische (ca. 37.000), die finnische (ca. 14.000) oder die belorussische (ca.

22.000) nicht erwähnt werden (Thiele 1999: 12).

rückwärtsgewandte Orientierung aufweisen. Sowohl das Staatsbürgerschaftsgesetz als auch die Minderheitenregelung knüpfen an den Bedingungen an, die vor der russischen Annexion geherrscht haben. Die seit dem Zweiten Weltkrieg völlig veränderte ethnographische Struktur des Landes wurde ignoriert. Letztlich ist dies als Versuch zu werten, bei der Wiedergründung Estlands die Minoritätenpolitik der Zwischenkriegszeit wieder zu beleben.

Für die Einwohner haben diese Politik und die genannten Regelungen erhebliche Konsequenzen gehabt. Wesentliche Folge des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes und seines Vorgängers waren breite Statusdifferenzierungen hinsichtlich der Staatsbürgerschaft und der damit verbundenen Rechte:

• Staatsbürger durch Geburt: Verfügen über alle Rechte. Etwa 1 Million Einwohner Estlands.

• Naturalisierte Staatsbürger: Können nicht für das Präsidentschaftsamt der Republik kandidieren, können in bestimmten Fällen ihre Staatsbürgerschaft verlieren. Etwa 100.000 Personen. Nur Staatsbürger Estlands werden, sofern sie einer Minorität angehören, als Repräsentanten einer nationalen Minorität anerkannt.

• ‚Neue Staatsbürger‘: Können ebenfalls nicht für die Präsidentschaft kandidieren.

Darüber hinaus besitzen sie kein Wahlrecht, können nicht ins Parlament gewählt werden und nicht in der Armee dienen. Neue Staatsbürger können diejenigen werden, die den grauen Pass besitzen (Pass für Staatenlose), und Illegale, die sich bereits über einen langen Zeitraum in Estland aufhalten. Ihre Zahl ist unbekannt.

• Personen mit mehrfacher Staatsbürgerschaft: Personen, die in den Westen geflüchtet waren, Esten, die in Russland leben und Personen, die bewusst ihre Angaben gefälscht haben. Etwa 200.000 Personen.

• Nicht-Staatsbürger mit einer permanenten Aufenthaltserlaubnis: Sie dürfen keine politischen Parteien gründen, keinen Handel mit Waffen treiben und keine Immobilien im Grenzbereich und auf kleinen Inseln erwerben. Sie müssen keine Arbeitserlaubnis beantragen, dürfen sich an lokalen Wahlen beteiligen (allerdings nur aktiv), Meetings organisieren, als Sicherheitskräfte arbeiten und Waffen besitzen. Etwa 100.000 russische Staatsbürger und 200.000 Besitzer des ”grauen Passes” (Ausländerpass) besitzen eine derartige Aufenthaltserlaubnis.

• Nicht-Staatsbürger mit einer temporären Aufenthaltserlaubnis: Diese müssen eine Arbeitserlaubnis beantragen, haben keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung,

können sich grundsätzlich nicht an Wahlen beteiligen, nicht als Sicherheitskräfte arbeiten und dürfen keine Waffen besitzen. Diese Gruppe umfasst etwa 20.000 Personen.

Daneben existiert die Gruppe der Illegalen, die bereits lange in Estland leben. Ihr Umfang lässt sich nicht genau beziffern und wird auf 30.000 bis 80.000 Personen geschätzt. Diese Gruppe differenziert sich in verschiedene Gruppen (Arjupin 2000), wie z.B. diejenigen, die zu SU-Zeiten eine permanente Aufenthaltserlaubnis hatten, aber aus verschiedenen Gründen die vom Ausländergesetz vorgeschriebene Frist zur Beantragung einer neuen nicht einhalten konnten. Hierbei handelt es sich um Menschen, die dennoch feste Einkommensquellen haben – Rentner, alleinerziehende Mütter, Invaliden und kinderreiche Familien. Des weiteren sind Ausländer betroffen, die eine Aufenthaltsgenehmigung zu Sowjetzeiten hatten, denen das Ausländergesetz jedoch keine Aufenthaltsgenehmigung garantiert und die einen Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung nur aus dem Ausland stellen können. Selbst wenn ein solcher Antrag im Ausland gestellt worden ist, muss auf die Entscheidung im Schnitt anderthalb Jahre gewartet werden. Darüber hinaus kommt Illegalität durch Scheidungen in russisch-estnischen Familien zustande, wenn Eltern versäumen, ihre Kinder fristgerecht registrieren zu lassen (Birckenbach 2000: 38), oder durch die niedrig gehaltene Immigrationsquote. In verschiedenen Fällen wurde im Rahmen von Familienzusammenführungen Angehörigen zwei bis drei Mal die Aufenthaltsgenehmigung verweigert, weil die Immigrationsquote bereits erfüllt war. (Semjonov 2000)

Die Auswirkungen dieser restriktiven Staatsbürgerschaftspolitik sind in der Bevölkerungsstruktur Estlands deutlich sichtbar: 1999 machten Nicht-Esten mit 503.000 einen Anteil von 35% an der Gesamtbevölkerung Estlands aus. Davon waren knapp 30%

(144.000) estnische Staatsbürger, rund 18% (88.000) sind russische Staatsbürger35 und knapp 3% (13.000) sind Staatsbürger anderer Länder. Insgesamt ist also jeder fünfte Nicht-Este Staatsbürger eines anderen Landes. Die verbleibenden rund 250.000 Personen werden wahlweise als Ausländer, Personen mit unbestimmter Staatszugehörigkeit, Staatenlose oder Personen ohne Papiere bezeichnet.(EHDR 1999:Kap2.3)

An diesen Zahlen werden Ausmaß und Dringlichkeit des Problems der nicht geregelten

35 Diese Zahl schwankt in den Angaben erheblich, weil nicht mit Bestimmtheit gesagt werden kann, wie viele von dieser Gruppe in Estland verbleiben. Schätzungen gehen von 80.000 bis rund 125.000 Personen aus (Semjonov 2000: 20; vgl. a.

Kirch 1997: 53).

Statusfragen deutlich, denn auch schon im März 1995 lebten zwischen 200.000 und 250.000 Personen ohne Staatsbürgerschaft und ohne Aufenthaltsgenehmigung in Estland. Obwohl diese damals bis zum 12. Juli des Jahres ihren Status regeln mussten, da zu diesem Zeitpunkt die alten sowjetischen Pässe ungültig wurden, hat ihre Zahl sich kaum verringert.

Im September 1999 besaßen 299.000 nicht-estnische Einwohner eine Aufenthaltsgenehmigung, davon nur 12% eine unbegrenzte. Dabei differiert, wie oben beschrieben, der Status von Personen mit unbegrenzter und Personen mit begrenzter Aufenthaltsgenehmigung erheblich. Mit der unbegrenzten Aufenthaltsgenehmigung steht zugleich der Arbeitsmarkt offen, die begrenzte Erlaubnis erfordert hingegen die Einholung einer Arbeitsgenehmigung, ein Vorgang, der mit aufwendigen bürokratischen Vorgängen verknüpft ist. Heute haben nur ca. 115.000 der Nicht-Staatsbürger eine Arbeitserlaubnis, 31%

unter den russischen Staatsbürgern, 37% der Staatenlosen.

Integration durch Naturalisierung spielt im Vergleich zu den anderen rechtlichen Statusabstufungen die geringste Rolle. Ihr Tempo ist nach wie vor gering: Von 1992 bis 1998 wurden etwa 106.000 Personen naturalisiert. Davon waren jeweils rund ein Fünftel im Alter von unter 18 Jahren oder zwischen 19 und 35 Jahre alt, gut ein Drittel war 36 bis 55 Jahre alt.

Bemerkenswert ist, dass Personen im Alter von 56 und mehr Jahren immerhin noch knapp ein Drittel aller Naturalisierungen im hier beobachteten Zeitraum stellten. Das Einbürgerungstempo variierte dabei mit den unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen stark:

Am schnellsten war es, als das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1938 wieder Gültigkeit erlangte, es verlangsamte sich deutlich, als 1995 das neue Staatsbürgerschaftsgesetz verabschiedet wurde, welches eine Reihe von Anforderungen mit sich brachte, die viele nicht erfüllen konnten (Abbildung 3-1). Dabei waren viele von den eingeführten Sprachtests und der Prüfung über die estnische Verfassung befreit, z.B. Kinder von neu eingebürgerten Personen, die unter 15 Jahren alt sind.

Abbildung 3-1: Naturalisierungen in Estland 1992 bis 1998

Quelle: Estonian Citizenship and Migration Board

Deutlich fällt in Abbildung 3-1 die bimodale Verteilung der Gesamtentwicklung bei den Naturalisierungsprozessen auf. Das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1992 hat trotz seiner restriktiven Regelungen offensichtlich viele Angehörige anderer Volksgruppen nicht davon abgehalten, sich um die estnische Staatsbürgerschaft zu bewerben und diese auch zu erlangen.

Der Rückgang an Naturalisierungen zwischen 1994 und 1995 dürfte in erster Linie auf eine Phase abwartenden Verhaltens in der Übergangszeit bis zum Inkrafttreten des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1995 zurückzuführen sein. Darauf deutet auch der Wiederanstieg der Zahl der Naturalisierungen nach 1995 hin. Eine Ursache des überaus starken Rückgangs nach 1996 ist in den verschärften Zugangsregelungen zur estnischen Staatsbürgerschaft zu sehen. Der Anstieg zwischen 1995 und 1996 ist primär auf den Abbau der Antragsflut zurückzuführen, die sich durch die abwartende Haltung vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes aufgestaut hatte. Danach nahmen die Naturalisierungsfälle infolge der rigideren Auswahlkriterien ab. Eine andere Ursache könnte darin bestehen, dass nach 1996 das Interesse der Angehörigen anderer Volksgruppen an der estnischen Staatsbürgerschaft erlahmt ist. Dieser Frage wird im folgenden Abschnitt nachgegangen.