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3. Die Entstehung der polnischen Bibliotheksgesetze

3.1 Die wesentlichen Meilensteine auf dem Weg zum Dekret

3.1.2 Die Entstehung der Bibliotheksgesetzentwürfe in der

3.1.2.1 Die Gründe und Ziele der Bibliothekare

Der nächste Meilenstein in der Entwicklung der polnischen Bibliotheksgesetzgebung war der in den 1920er Jahren begonnene Kampf der Bibliothekare um ein Bibliotheksgesetz. Dieser vorerst erfolglose Kampf dauerte nahezu 20 Jahre und brachte mehrere überarbeitete Biblio-theksgesetzentwürfe hervor. Eine bedeutende Rolle spielte hierbei der Verband Polnischer Bibliothekare (Związek Bibliotekarzy Polskich, ZBP)22 (Wspomnienia i refleksje o czasach walki o ustawę biblioteczną i realizacji dekretu o bibliotekach 1986, S. 263). Die

22 Der ZBP wurde im Jahr 1917 gegründet. Das Hauptanliegen des Verbandes war die Entwicklung des Bibliothekswesens in Polen. (Kubów 1988, S. 291) Während des 2. Weltkriegs agierte er konspirativ. Viele wichtige Entscheidungen in dieser Zeit fielen in der Nationalbibliothek in Warschau. Eine besonders arbeitsintensive Phase war der Januar 1944: Der Inhalt des zukünftigen Bibliotheksgesetzes war u. a. ein Thema. Der Verband nahm offiziell seine Tätigkeit unter den Namen Berufsverband Polnischer Bibliothekare (Związek Zawodowy Bibliotekarzy Polskich) im Februar 1945 wieder auf. Von 1946 bis 1953 trug der Verband den Namen Verband Polnischer Bibliothekare und Archivare (Związek Bibliotekarzy i Archiwistów Polskich, ZBiAP), bedingt durch den Beitritt der Archivare nach dem zweiten Weltkrieg. Im Jahr 1951 traten die Archivare aus. Dies führte zu einer weiteren Änderung des Namens in Verein Polnischer Bibliothekare (Stowarzyszenie Bibliotekarzy Polskich, SBP). (III. Sprawy Związku Bibliotekarzy i Archiwistów Polskich 1947, S. 70–75; Stowarzyszenie Bibliotekarzy Polskich; Kolankowski 1969, S. 24) Der SBP vertritt die Interessen sämtlicher Bibliothekstypen und aller Personen, die mit dem Bibliothekswesen und mit der wissenschaftlichen Information verbunden sind. Heute zählt er über 7.500 Mitglieder. (Stowarzyszenie Bibliotekarzy Polskich)

Hauptverfasser der Bibliotheksgesetzentwürfe waren Bibliothekare. (Kołodziejska 1967, S. 45–78)

Die Schaffung eines Bibliotheksgesetzes hielten insbesondere die Bibliothekare Jan Augustyniak, Faustyn Czerwijowski, Wanda Dąbrowska, Jadwiga Filipowska-Szemplińska, Józef Grycz, Józef Janiczek, Adam Łysałkowski, Jan Muszkowski und Helena Radlińska für eine dringende Aufgabe. Diese Aktivisten vertraten den wissenschaftlichen und den öffentli-chen Bibliothekssektor (Treichel 1972-1988). Verleger, Autoren und Buchhändler unterstütz-ten ihre Aktivitäunterstütz-ten. (Kołodziejska 1967, S. 70, 157; Janiczek 1946c, S. 47) Die Bibliothekare wollten möglichst nahtlos an die Ideen der Nationalen Erziehungskommission anknüpfen und eine einheitliche Bibliothekspolitik im Land realisieren (Janiczek 1946c, S. 45; Kołodziejska 1967, S. 71–73). Dabei verfolgten sie insbesondere die folgenden Ziele: 1. die Schaffung rechtlicher und finanzieller Grundlagen für öffentliche Kommunalbibliotheken (Filipowska-Szemplińska 1928, S. 147); 2. die Schaffung eines zentralen Organs in Form einer Generaldi-rektion der Bibliotheken (Generalna Dyrekcja Bibljotek) als Abteilung im Ministerium für Religionsgemeinschaften und Öffentliche Bildung (Ministerstwo Wyznań Religijnych i Oświecenia Publicznego, MWRiOP) sowie die Berufung eines sie beratenden und mit dem Recht der Gesetzgebungsinitiative ausgestatteten Staatlichen Bibliotheksbeirats (Państwowa Rada Bibljoteczna) (Rygiel 1927, S. 23); 3. die Bildung eines einheitlichen Bibliotheksnetzes, bestehend aus öffentlichen Bibliotheken, wissenschaftlichen Bibliotheken und Spezialbiblio-theken, die alle für ein breites Publikum zugänglich sein sollten (Kołodziejska 1967, S. 70).

Während das letzte Ziel eher einer Vision gleichzustellen war, waren die beiden ersten Ziele dringender und unmittelbar miteinander verknüpft. Das zweite Ziel führte sogar zu einer Alli-anz zwischen den Bibliothekaren der öffentlichen und der wissenschaftlichen Bibliotheken im Kampf um ein Bibliotheksgesetz (Kołodziejska 1967, S. 70).

Im wiedererrichteten23 Polen waren öffentliche Kommunalbibliotheken in der Bibliotheks-landschaft ein Novum. Eine große Anzahl von Bibliotheken befand sich im Besitz von

23 Der nach 123 Jahren wiedererrichtete Staat kämpfte mit außen- und innenpolitischen Problemen. Dazu gehörten insbesondere: die bewaffneten Auseinandersetzungen um die Grenzen, die starken ethnischen Minderheitengruppen im Land (Die Bevölkerung Polens wies im Jahr 1921 folgende Zusammensetzung aus:

Polen 69,2 %, Ukrainer 14,3 % Juden 7,8 %, Weißrussen 3,9 %, Deutsche 3,9 % und Andere 0,9 % (Pietrzak 2009, S. 499).) und die schwierige Integration der drei Teilgebiete. Das Staatswesen musste neu aufgebaut werden. In sozialer Hinsicht lastete auf dem polnischen Volk das Erbe der Adelsrepublik. Das Zusammenwachsen der Intelligenz wurde dadurch erleichtert, dass sie sozial hauptsächlich der Schlachta

schaften und Vereinen24 sowie verschiedenen Institutionen und Privatpersonen. (Dubowik 1982, S. 111) Die Bibliotheken der Bildungsorganisationen hatten zwar einen öffentlichen Charakter (Zarzębski 1991a-2000, S. 28), standen jedoch in der Regel nicht jedem Bürger zur Verfügung (Kołodziejska 1967, S. 12). In Anbetracht des weitverbreiteten Analphabetismus, des allgemeinen Bildungsrückstands, der Armut und der nicht adäquaten Buchproduktion (Kołodziejska 1967, S. 34–40) gab es im Bildungsbereich einen breiten und dringenden Handlungsbedarf.

Im Rückgriff auf die nationale Tradition entstand zwar am 15. September 1919 im wiederer-richteten Polen die Abteilung für Bibliotheken25 im MWRiOP. In ihre Zuständigkeit fielen aber nur staatliche Bibliotheken26 und finanziell vom Ministerium unterstützte nicht-staatliche Bibliotheken. Die Kompetenzen der Kommission waren eingeschränkt und die personelle Besetzung miserabel. (Janiczek 1946c, S. 45; Rygiel 1927, S. 9)

(polnischer Land- und Kleinadel) entstammte (Kleßmann 1971, S. 158). Die endgültige Staatsverfassung wurde am 17. März 1921 verabschiedet (Dz. U. von 1921 Nr. 44, Pos. 267).

24 Einen guten Einblick in die Tätigkeit der großen Bildungsgesellschaften und –vereine, wie Gesellschaft für Volksbüchereien (Towarzystwo Czytelń Ludowych, TCL), Gesellschaft zur Förderung der Volksschule (Towarzystwo Szkoły Ludowej, TSL), Warschauer Wohltätige Gesellschaft (Warszawskie Towarzystwo Dobroczynności, WTD) und Polnischer Schulverein (Polska Macierz Szkolna, PMS) und ihrer Bibliotheken gibt Jadwiga Kołodziejska in der Publikation „Publiczne biblioteki samorządowe w okresie międzywojennym“ [Die öffentlichen Kommunalbibliotheken in der Zwischenkriegszeit] (Kołodziejska 1967, S. 16–28). Die Bibliotheken der Bildungsorganisationen wurden in der Regel als Volksbüchereien (biblioteki oświatowe) bezeichnet. Die Kommunalbibliotheken (biblioteki samorządowe) und die überwiegend synonym verwendeten Bezeichnungen öffentliche Kommunalbibliotheken (publiczne biblioteki samorządowe), allgemeine Bibliotheken (biblioteki powszechne) oder öffentliche allgemeine Bibliotheken (publiczne biblioteki powszechne) unterschieden sich von den Bibliotheken der Bildungsorganisationen vor allem durch eine freie Zugänglichkeit. (Kołodziejska 1967, S. 12)

25 Diese Abteilung wurde nach einigen Umstrukturierungen im Jahr 1928 aufgelöst und die wissenschaftlichen Bibliotheken wurden einem bibliothekarischen Referat des MWRiOP überlassen. Für die öffentlichen Bibliotheken war die Abteilung für außerschulische Bildung im MWRiOP zuständig. (Kołodziejska 1967, S. 72)

26 Zu den staatlichen Bibliotheken zählten zunächst ausschließlich Hochschulbibliotheken (Rygiel 1927, S. 10).

Mit der Neugestaltung des Bildungswesens wuchs die Zahl der Bibliotheken. Es wurden Bibliotheken an den neuen Hochschulen und wissenschaftlichen Institutionen gegründet. In den zahlreichen allgemeinen Grundschulen und Mittelschulen entstanden ebenfalls Bibliotheken. Zu weiteren Bibliotheksgründungen kam es im Zusammenhang mit der Bildung polnischer Behörden und Institutionen. Es entstanden sogar größere Bibliotheksnetze, wie z. B. das Netz der Bibliotheken im Ministerium für Außenpolitik und das Netz der Militärbibliotheken. Neben den Bibliotheken der gesellschaftlichen Institutionen gab es zunehmend öffentliche Kommunalbibliotheken. Im Jahr 1928 begann die Nationalbibliothek in Warschau als zentrale Bibliothek des Landes ihre Tätigkeit. (Janiczek 1946a, S. 1; Wodzinowska 1947, S. 12; Zarzębski 1991a-2000, S. 26–29)

Laut Janiczek war die Abteilung nicht in der Lage, die Tradition der Nationalen Erziehungs-kommission fortzusetzen. Ihr Kapitalfehler war nach seiner Einschätzung die fehlende Schaf-fung von rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für Bibliotheken als Grundvoraus-setzung für eine durchdachte Bibliothekspolitik. Der Erlass eines Bibliotheksgesetzes erschien nach seiner Darstellung den Bildungsaktivisten als der Rettungsanker. (Janiczek 1946c, S. 45) Bei der Erarbeitung der Gesetzentwürfe ließen sich die polnischen Bibliothekare von den zahlreichen Vorbildern aus dem Ausland inspirieren. Die Bibliotheksgesetze der Länder USA, England, Finnland, Dänemark, Belgien, Estland aber auch der Tschechoslowakei, Bulgariens und Litauens wurden immer wieder betrachtet und miteinander verglichen (Dąbrowska 1928, S. 253–277; Filipowska-Szemplińska 1928, S. 148–149). Bibliotheksgesetze waren in dieser Zeit populär.