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5. Die Realisierung der Bibliotheksgesetze

5.1 Die Realisierung des Dekrets über Bibliotheken und die

5.1.1 Die Periode des Wiederaufbaus des Bibliothekswesens

5.1.1.2 Der Aufbau des landesweiten Netzes

Die Bibliothekare feierten die Verabschiedung des Dekrets als einen großen Sieg (Janiczek 1946c; Dąbrowska 1946). Doch der Aufbau des landesweiten Netzes der öffentlichen Biblio-theken, vor allem des Netzes der öffentlichen allgemeinen BiblioBiblio-theken, begann schleppend.

Etwa ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Dekrets machte Kozioł54 auf die Verzögerungen in der Realisierung der Bestimmungen aufmerksam. Unter den seinerzeitigen Rahmenbedingun-gen durchaus mutig berichtet er über die mangelnde Kontinuität in der Zuweisung der finan-ziellen Mittel. Er bemängelt die notdürftige personelle Ausstattung der Bibliotheken und be-klagt die unzureichende Unterstützung bei der Durchführung der bibliothekarischen Aktion seitens der territorialen Selbstverwaltungen. Den Fortschritt bei der Organisation der städti-schen Bibliotheken empfand er als zu gering. Kozioł erwähnt zwar die 240 auf Initiative der Schulverwaltung neu gegründeten Kreisbibliotheken als positive Entwicklung, fügt aber gleichzeitig hinzu, dass diese Bibliotheken leistungsschwach und nicht entwicklungsfähig waren. (Kozioł 1947) Die Betreuung dieser Bibliotheken wurde überwiegend Lehrern über-tragen, die diese Aufgabe neben ihren Unterrichtspflichten zu erfüllen hatten (Pawlikowska 1976b, S. 9).

Auf die Hauptprobleme des Bibliothekswesens der damaligen Zeit wies Grycz bereits kurz nach dem Inkrafttreten des Dekrets hin. Sehr ausführlich geht er auf die Höhe der benötigten Finanzmittel, den Mangel an gut ausgebildetem bibliothekarischen Personal und den Mangel an Büchern ein (Grycz 1946b, S. 7–11). Letzterer war der Zerstörung des Verlags- und wesens und auch der Papierknappheit geschuldet (Janiczek 1948, S. 156). Die geringe Buch-produktion der privaten Verlage und der neu entstandenen Verlagsgenossenschaften in den Jahren 1946/1947 deckte den Bedarf in den Bibliotheken nicht im Mindesten (Kołodziejska 1972, S. 123). Die für den Ausbau des Bibliotheksnetzes vorgesehenen Budgets der General-direktion der Bibliotheken reichten trotz jährlicher Erhöhungen nicht aus (Grycz 1961b, S. 78). Vor allem die Organisation der öffentlichen allgemeinen Bibliotheken, die zum großen Teil von den finanziellen Zuwendungen der territorialen Selbstverwaltungen abhängig waren, geriet ins Hintertreffen (Pawlikowska 1976b, S. 8). Allerdings kamen zusätzliche

54 Es handelt sich dabei um einen nicht namentlich gekennzeichneten Beitrag in der Zeitschrift „Bibliotekarz“.

Dass dieser Beitrag aber aus der Feder Koziołs stammt, ist den nachfolgenden sich auf den Artikel beziehenden Publikationen zu entnehmen (Zarzębski 1986, S. 288; Pawlikowska 1976b, S. 9).

rungsquellen, eingebettet in ein Propaganda-Konzept, hinzu. Grycz berichtet über landesweit durchgeführte Sammlungen finanzieller und materieller Art in den Jahren 1946 und 1947 für öffentliche allgemeine Bibliotheken und Schulbibliotheken sowie für die Versorgung der

„wiedergewonnen Gebiete“ mit polnischen Büchern. Eine Kontinuität im Aufbau des Netzes der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken konnte aber mit solchen Maßnahmen nicht erzielt werden. (Grycz 1961b, S. 79)

Die Problematik wurde von den Bibliothekaren nicht nur in der Fachliteratur thematisiert, sondern auch in der Tagespresse (Pawlikowska 1976b, S. 10–11). Sie erreichte breite Kreise.

Der Sejm und einzelne Politiker nahmen sich der Bibliotheken an. Osóbka-Morawski über-sandte am 19. April 1947 an die Woiwoden ein Rundschreiben zwecks Realisierung des Dekrets (Zarzębski 1991a-2000, Rn. 262). Auch der Sejm forderte eine beschleunigte Reali-sierung des Dekrets. Bierut55 brachte die Verbreitung der Kultur bei der Eröffnung der Radio-station in Breslau am 16. November 1947 zur Sprache. (Zarzębski 1986, S. 288–289) Grycz schreibt dem Engagement der politischen Kreise eine enorme Wirkung zu. Die Verbreitung des Buches erhielt in der Politik nach seiner Beobachtung eine sehr hohe Priorität. (Grycz 1961b, S. 79–80)

Etwa ein Jahr nach Koziołs kritischen Anmerkungen zur Situation der polnischen Bibliothe-ken lagen zuverlässige statistische Daten zum Stand des Bibliothekswesens im Land vor. Im Jahr 1948 wurde die zweite Registrierung von Bibliotheken nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs durchgeführt. Sie erfolgte auf der Grundlage der Verordnung des Bildungsminis-ters, die am 24. Januar 1948 erlassen wurde und neben der Registrierung von Bibliotheken und der wypożyczalnie dochodowe auch Berichte über deren Tätigkeit einforderte (Dz. U. von 1948 Nr. 5, Pos. 38).

Die Zahlen56 wertete Janiczek im Rahmen eines Zeitschriftenaufsatzes aus. Bis 1948 entstan-den mithilfe der territorialen Selbstverwaltungen (Grycz 1961b, S. 80) fünf Woiwodschafts-bibliotheken, und zwar in Warschau, Breslau, Stettin, Kielce und Krakau. Der

55 Im Jahr 1947 wurde Bierut vom Sejm zum Staatpräsidenten gewählt.

56 Unterschiede in den Zahlen im Vergleich zum „Kleinen Statistischem Jahrbuch“ für das Jahr 1948 ergeben sich dadurch, dass im „Kleinen Statistischem Jahrbuch“ Registrierungen bis zum 30.07.1948 berücksichtigt wurden im Aufsatz aber auch die noch danach zahlreich in den Ferienmonaten eingegangenen Registrierungen. (Janiczek 1948, S. 143)

stand der Woiwodschaftsbibliothek in Krakau konnte in der Gesamtauswertung wegen verspä-teter Registrierung nicht berücksichtigt werden. Die Woiwodschaftsbibliotheken in Warschau, Breslau und Stettin besaßen jeweils zwischen 2.000 und 3.000 Bänden. Die Woiwodschafts-bibliothek in Kielce bildete mit einem Bestand von über 40.000 Bänden eine Ausnahme. Der Bestand war allerdings nicht typisch für eine Woiwodschaftsbibliothek. Denn er setzte sich aus sehr wertvollen, sichergestellten Beständen der Gutsbibliotheken zusammen. Die Organi-sation weiterer Woiwodschaftsbibliotheken wurde im Jahr 1948 durch die Kanzlei des Staats-rates (Kancelaria Rady Państwa) gestoppt, weil vorrangig Bibliotheken entstehen sollten, die unmittelbar der Literaturversorgung der Bevölkerung dienen sollten. Es entstanden viele Kreisbibliotheken. Von den insgesamt 271 Kreisen hatten lediglich sieben Kreise keine Bibliothek registriert. Die vorhandenen 264 Kreisbibliotheken besaßen zusammen 707.329 Bände. Durchschnittlich hatte also jede von ihnen 2.600 Bände. Die schnelle Entwicklung dieses Bibliothekstyps ging auf konzeptionelle Vorüberlegungen seitens der Generaldirektion der Bibliotheken zurück (Grycz 1961b, S. 79). In erster Linie sollten Kreisbibliotheken als Fundament beim Aufbau des öffentlichen allgemeinen Bibliotheksnetzes entstehen und dabei eine führende Rolle übernehmen. Denn sie leisteten einen Beitrag beim Aufbau der Gemein-debibliotheken. Außerdem versorgten sie die Bevölkerung mit Literatur. Sie versandten ge-schlossene austauschbare Buchbestände in Kleinstädte und Dörfer. Das war ein Zugeständnis an den akuten Büchermangel. Einen Bestand von 1.883.974 Bänden wiesen die 254 städti-schen Bibliotheken auf. Den Selbstverwaltungen der Gemeinden fiel es schwer, finanzielle Mittel für Bibliotheken bereitzustellen. Die 446 Gemeindebibliotheken hatten einen Bestand von 152.748 Bänden. Das Netz der allgemeinen Bibliotheken bestand also damals aus insge-samt 986 Bibliotheken mit einem Geinsge-samtbestand von 2.792.445 Bänden. Bei einer Bevölke-rungszahl von 23.625.500 entfiel damals also auf zehn Einwohner ein Buch. (Janiczek 1948, S. 153–164)

Das Jahr 1948 war für den Aufbau des Netzes der öffentlichen allgemeinen Bibliotheken

„bahnbrechend“ (Grycz 1961b, S. 80). Es kamen Rundschreiben der Kanzlei des Staatsrates im Juli 1948 zwecks Gründung von Gemeindebibliotheken und im November 1948 zwecks Schaffung von Bibliotheksausleihstellen (Zarzębski 1986, S. 289).

Grycz berichtet, dass aus dem Investitionsfonds 380 Millionen zł57 für den Aufbau von Bibliotheken bereitgestellt wurden. 80 Millionen zł waren für Bibliothekseinrichtung be-stimmt und 300 zł Millionen für die Gründung von Gemeindebibliotheken. Initiativen des Komitees für die Verbreitung des Buches (Komitet Upowszechnienia Książki, KUK) und des Komitees der Minister für Kulturangelegenheiten (Komitet Ministrów do Spraw Kultury, KMSK) kamen hinzu. (Grycz 1961b, S. 81)

Die anschließende Aktion der Generaldirektion der Bibliotheken geht in die bibliothekarische Literatur Polens als ein „organisatorisches Meisterstück“ (Zarzębski 1991a-2000, S. 35) ein.

Die Generaldirektion der Bibliotheken sorgte dafür, dass innerhalb von vier Monaten 1600 Gemeindebibliotheken entstanden und 20.000 Ausleihstellen in Betrieb genommen werden konnten. Eröffnet wurden sie in einem gemeinsamen Festakt am 16. Januar 1949 (Janiczek 1949, S. 5). Sie erhielten insgesamt 1.250.000 Bücher (Janiczek 1949, S. 5). Jede Gemeinde-bibliothek bekam 455 zentral eingekaufte Bücher mit den dazugehörigen Katalogkarten. Die Generaldirektion der Bibliotheken plante und organisierte bibliothekarische Schulungen.

Denn mit einer weiteren Abordnung von Lehrern, wie sie im Fall der personellen Besetzung von Kreisbibliotheken zur Anwendung kam, war nicht zu rechnen (Kołodziejska 1972, S. 125). Um die neu entstandenen Bibliotheken mit bibliothekarisch ausgebildetem Personal besetzen zu können, wurden 1.800 Kandidaten in sechstägigen Lehrgängen für die Leitung der neuen Gemeindebibliotheken und 18.000 Kandidaten in 308 zweitägigen Kursen ausge-bildet (Janiczek 1949, S. 9). Die Vermittlung solider Grundlagen für die bibliothekarische Tätigkeit sollte in entsprechenden Ausbildungsstätten erfolgen, deren Organisation noch an-stand (Kołodziejska 1972, S. 127).

Zusammen mit dem Wiederaufbau des polnischen Schulwesens bildete sich das Netz der Schulbibliotheken. Die Organisation und die Verwaltung dieses Bibliothekstyps wurden in einer gesonderten Rechtsverordnung geregelt. Festgelegt wurden Entgeltregelungen für die Führung und Betreuung von Schulbibliotheken. Eingeführt wurde ein zentrales System für den Einkauf und die Erschließung der Bücher für diese Bibliotheken. Im Bildungsministerium wurde eine Kommission zur Qualifizierung von Büchern für Schulbibliotheken und

57 Gemessen an der Einwohnerzahl von Polen bedeutete dies eine staatliche Leistung von 15,90 zł (złoty:

polnische Währung) für jeden Einwohner. Dies entsprach dem Preis von einem Schulheft in Warschau im Jahr 1947 (Główny Urząd Statystyczny Rzeczypospolitej Polskiej 1947, S. 130).

ne Bibliotheken berufen. Die Literaturversorgung dieser Bibliotheken in den „wiedergewon-nenen Gebieten“ erhielt einen besonderen Stellenwert. (Zarzębski 1991a-2000, S. 36) Aller-dings verlief die Entwicklung der Schulbibliotheken ebenfalls nicht ohne Schwierigkeiten und Hindernisse. Janiczek beklagt, dass sich im Jahr 1948 das Netz der Schulbibliotheken noch nicht mit dem Netz der Schulen deckte. Zwar stieg die Zahl der Schulbibliotheken von 7.071 in 1945/46 auf 10.835 in 1947/48 und ihr Bestand wuchs von 1.476.000 Bänden auf 3.537.000 Bände an. Doch er erläutert, dass lediglich 42,8 % der allgemeinen Schulen eine Schulbibliothek hatten. Die fehlende eindeutige Benennung des Unterhaltsträgers von Schul-bibliotheken im Dekret führt er als Ursache hierfür an. (Janiczek 1948, S. 145–152)

Die durch den Staat getragenen öffentlichen wissenschaftlichen Bibliotheken konnten ihre Tätigkeit zügig aufnehmen. Sie bedurften keiner besonderen organisatorischen Maßnahmen.

(Pawlikowska 1976a, S. 12) Hochschulbibliotheken erhielten einen neuen rechtlichen Status gemäß dem Dekret über die Organisation der Wissenschaft und des Hochschulwesens vom 28. Oktober 1947 (Dz. U. von 1947 Nr. 66, Pos. 415). Die Zahl der öffentlichen wissenschaft-lichen Bibliotheken wuchs laut der im Jahr 1948 durchgeführten Registrierung stark an. Sie erhöhte sich von 177 Bibliotheken mit einem Gesamtbestand von 7.905.500 Bänden im Jahr 194658 auf 524 Bibliotheken mit 10.822.376 Bänden im Jahr 1947. Die Interpretation der Zahlen ist jedoch schwierig. Denn der enorme Unterschied in der Anzahl der Bibliotheken und der Bände ist zu einem Teil auf die Zuordnung von Fakultätsbibliotheken und Institutsbibliotheken zu den Hochschulbibliotheken zurückzuführen. Zu einem weiteren Teil ist dafür auch die Ergänzung der Bestände der Hochschulbibliotheken aus den sichergestellten Beständen der Gutsbibliotheken und der deutschen Bibliotheken ursächlich. (Janiczek 1948, S. 166–170)

Janiczek stellt auch Zahlen für die Bibliotheken außerhalb des landesweiten Netzes zusam-men. Gemäß Dekret waren diese Bibliotheken im Rahmen ihrer Satzungen tätig. Allerdings unterlagen sie der im Dekret geregelten Registrierungspflicht. Sie konnten an das Netz der öffentlichen Bibliotheken angeschlossen werden und der Bildungsminister übte über diese Bibliotheken im Bereich der fachlichen Betreuung die Aufsicht aus. Im Wesentlichen waren

58 Die Teilnahme an der Registrierung im Jahr 1946 war freiwillig und wurde unter schwierigen Bedingungen durchgeführt. Ein Anspruch auf Vollständigkeit konnte deshalb nicht erhoben werden (Janiczek 1948, S. 140).

es Bibliotheken, die gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen angehörten, z. B. den polnischen Gewerkschaften, der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, dem Polnischen Ju-gendverband, der Bäuerlichen Selbsthilfe. Zu dieser Gruppe gehörten aber auch Bibliotheken in Krankenhäusern, Strafanstalten, Erholungsheimen und Kulturhäusern der Jugend. Insge-samt besaßen diese 2.168 Bibliotheken 1.870.477 Bände. (Janiczek 1948)