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5. Die Realisierung der Bibliotheksgesetze

5.1 Die Realisierung des Dekrets über Bibliotheken und die

5.1.2 Die Auswirkungen des Stalinismus auf die Realisierung

5.1.2.1 Die wesentlichen politisch-gesellschaftlichen Änderungen und ihre unmittelbaren Folgen für das Bibliothekswesen

Mit der Vereinigung der Polnischen Sozialistischen Partei und der Polnischen Arbeiterpartei zur Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei am 15. Dezember 1948 erreichte der Prozess der schleichenden Umgestaltung des Landes nach stalinistischem Muster seinen Höhepunkt (Borodziej 2010, S. 277). Damit änderte sich die politisch-gesellschaftliche Situation im Land gravierend. In der Periode des Stalinismus erstreckte die PZPR schon bald ihre Kontrolle auf die bis dahin noch von der starken politischen Indoktrination verschonten Bereiche des gesell-schaftlichen Lebens, wozu auch das Bibliothekswesen gehörte. Die Weichen im Bibliotheks-wesen wurden zeitnah neu gestellt.

Besonders spürbar wurde dies in der Bibliothekswelt im Februar 1949. Im Zuge der durchge-führten Säuberungen wurde Grycz von seiner Position als Generaldirektor der Generaldirekti-on der Bibliotheken fristlos entlassen (Zarzębski 1995, S. 16). Auch Janiczek musste die Ge-neraldirektion der Bibliotheken verlassen (Zarzębski 1991a-2000, S. 37). Entsprechend der damaligen Personalpolitik in Polen (Borodziej 2010, S. 281) folgte auf Grycz für eine kurze Zeit Józef Skrzypek und dann Wanda Michalska, ein treues Mitglied der Staatspartei und von Beruf eine Schneiderin (Mężyński 1990, S. 21; Zarzębski 1995, S. 23). Dass die fehlende Qualifikation fatale Folgen für die weitere Entwicklung des Bibliothekswesens im Sinne des Dekrets hatte, (Zarzębski 1995, S. 23) bedarf keiner weiteren Darlegung. Zudem wurde Ende 1949 das Staatliche Buchinstitut in Lodz aufgelöst (Baumgart 1973, S. 244). Die Aufgaben

dieser Institution wurden zwischen der Nationalbibliothek, dem Institut für Literaturforschung (Instytut Badań Literackich, IBL) und dem Bildungsministerium aufgeteilt (Zarzębski 1991a-2000, S. 34–35).

Im Jahr 1950 hielt die ideologische Offensive Einzug in das elementare Handlungsfeld der Bibliotheken, den Bestandsaufbau. Am 1. Januar 1950 entstand die Zentrale Verlagskommis-sion (Centralna Komisja Wydawnicza, CKW)59, welche die Schaffung eines zentralen Ver-lagsapparats in die Wege leitete und die privaten Verlage schrittweise liquidierte. In dieser Zeit wurde zudem die zentrale Institution Das Haus des Buches (Dom Książki, DK) für den Buchhandel geschaffen, die eine Verstaatlichung des Buchhandels nach sich zog. (Biliński 1996a, S. 25) Die zentralistischen Tendenzen des staatlichen Systems nach dem stalinistischen Vorbild griffen auch in den bereits vorhandenen Bibliotheksbestand der Bibliotheken ein, denn es wurde sogar bestimmt, welche Bücher in den Bibliotheken vorhanden sein mussten und welche entfernt werden sollten (Biliński 1996a, S. 25).

Die bibliothekarischen Normativakte, die in den ersten Jahren dieser Periode erlassen wurden, spiegelten die vollzogene Staatsdoktrin wider. Inhaltlich zielten sie ab auf die eindeutige Prä-ferenz für Publikationen russischer Verlage, die zentralen Abonnements für Schulbibliotheken in den Propagandaverlagen des Zentralkomitees der PZPR, den eingeschränkten Eingang be-stimmter Publikationen in Bibliotheken und ihre Zugangsbeschränkung in der Benutzung so-wie die Registrierung und Einstellung von Mitarbeitern (Zarzębski 1991a-2000, S. 37).

Durch das Anwachsen des Staatsapparates (Borodziej 2010, S. 280), das u. a. auch zur Auf-spaltung des Ministeriums für Bildung führte, unterlag die administrative Zugehörigkeit der öffentlichen Bibliotheken einer gegensätzlichen Entwicklung. Denn die Verwaltung der drei Bibliothekstypen, die das landesweite Bibliotheksnetz bildeten, wurde dezentralisiert. Zwar wurden die im Dekret bestimmten Kompetenzen des Bildungsministers auf den Minister für Kultur und Kunst kraft des Gesetzes über die Übergabe der Zuständigkeit des Bildungsminis-ters für Bibliotheken und Bibliotheksbestände auf den Minister für Kultur und Kunst vom 31.

Oktober 1951 (Dz. U. von 1951 Nr. 58, Pos. 400) übertragen. Die Aufsicht über die Schul-bibliotheken behielt jedoch das Bildungsministerium. Die HochschulSchul-bibliotheken fielen in die

59 Zur Situation des polnischen Buches in den Jahren 1944 – 1955 ausführlich s. Kondek 1993; Kondek 1999.

Zuständigkeit des neu entstandenen Ministeriums für Hochschulwesen. (Kołodziejska 1972, S. 63)

Die Generaldirektion der Bibliotheken wurde in Zentralverwaltung der Bibliotheken (Centralny Zarząd Bibliotek) umbenannt und dem Ministerium für Kultur und Kunst unter-stellt, trotz der eingeschränkten Zuständigkeit im Bibliotheksbereich (Zarzębski 1991a-2000, S. 36). Die Zentralverwaltung der Bibliotheken wurde 1957 in das Departement für Biblio-theken (Departament Bibliotek) umgestaltet. Ein Jahr später wurde es zusammengelegt mit dem Departement für Kultur- und Bildungsarbeit (Departament Pracy Kulturalnej i Oświato-wej). Seine Zuständigkeit wurde begrenzt auf die Angelegenheiten der öffentlichen allgemei-nen Bibliotheken (Kołodziejska 1972, S. 63).

Im Jahr 1961 wurde dieser Sachstand durch das Gesetz über den Tätigkeitsbereich des Minis-ters für Kultur und Kunst vom 16. Februar 1961 (Dz. U. von 1961 Nr. 10, Pos. 53) untermau-ert. Das Gesetz bestimmte, dass der Minister für Kultur und Kunst die Aufsicht über die Or-ganisation und Tätigkeit der staatlichen allgemeinen Bibliotheken ausübt und die Grundsatz-entscheidungen über die Tätigkeit aller Bibliotheken im Land in Zusammenarbeit mit den anderen Ressorts trifft. (Kołodziejska 1972, S. 63)

Die stalinistische Realität führte somit zu einem Bedeutungsverlust des Dekrets. Eine Beru-fung auf die Regelungen des Dekrets war bereits nach 1949 „stillschweigend verboten“

(Zarzębski 2001, S. 4). Die administrative Dezentralisierung und das Fehlen eines übergeord-neten, die Realisierung der Bibliothekspolitik im Land überwachenden Organs, zog die Des-aktualisierung (Kołodziejska 1972, S. 63) einiger Bestimmungen des Dekrets nach sich. Mit Bedauern sahen die polnischen Bibliothekare machtlos zu, wie das so schwer erkämpfte und so mühsam ins Leben geführte Dekret aus ideologischen und politischen Gründen faktisch an Geltung verlor (Zarzębski 1986, S. 290; Biliński 2001, S. 18). Mit der Zeit wurde das Dekret für die polnischen Bibliothekare immer unwichtiger. Pawlikowska berichtet, dass mit dem Jahr 1950 die Anzahl der Artikel über das Dekret und seine Umsetzung kontinuierlich abnahm (Pawlikowska 1976b, S. 12).

5.1.2.2 Der Ausbau des Bibliothekswesens innerhalb der neuen organisatorischen Strukturen der Bibliotheken

Der Wiederaufbau des Bildungswesens des neu entstandenen Staates lief in diesem Zeitab-schnitt auf Hochtouren. Der Bedarf an Bildung war enorm. Das Analphabetentum sollte besei-tigt, das allgemeine Bildungsniveau angehoben und die Intelligenz neu geschaffen werden.

(Borodziej 2010, S. 275) Auf- und ausgebaut wurde neben dem Schulwesen auch das Hoch-schulwesen. Im ganzen Land entstand ein Netz von Universitäten, Technischen Hochschulen und Akademien. Die Zahl der Studenten wuchs. Es wurden neue Formen von Vereinigungen wissenschaftlicher Institutionen geschaffen. (Dobosiewicz 1955, S. 26–27) Dieser dynami-sche Prozess im Bildungswesen im Geiste des Marxismus-Leninismus-Stalinismus (Borodziej 2010, S. 291) und das in Folge eingetretene Wirtschaftswachstum sowie die allgemeine und kulturelle Entwicklung der Gesellschaft führten zum Anwachsen der Zahl der Bibliotheken (Zarzębski 1969, S. 7). Auch wenn die Entwicklung des polnischen Bibliothekswesens nach 1950 nicht gemäß allen Bestimmungen des Dekrets erfolgte, gestaltete die schöpferische Kraft des Dekrets dennoch den weiteren quantitativen und qualitativen Ausbau des Biblio-thekswesens in Polen (Dziesięciolecie ustawy o bibliotekach (Dyskusja w redakcji) 1978, S. 59). Trotz der damaligen starken politischen Indoktrination und der Zersplitterung der Bibliothekspolitik wird der Stand des Bibliothekswesens in diesen Jahren deshalb als erfolg-reich betrachtet (Zarzębski 1991a-2000, S. 48).

Nach den Ausführungen von Zarzębski etablierte sich das Netz der öffentlichen allgemeinen Bibliotheken und die Tätigkeit dieser Bibliotheken innerhalb des Netzes entwickelte sich wei-ter. Sie hatten mittlerweile eine solide Finanzierungsgrundlage. Bereits Mitte 1949 übernahm der Staat die Finanzierung der Woiwodschaftsbibliotheken und nach der Auflösung der selbstverwaltenden Strukturen des Staates auch aller weiteren öffentlichen allgemeinen Bibliotheken. Ausgebaut wurden das Netz der Schulbibliotheken und der pädagogischen Bibliotheken. Es entstand das separate Netz der Bibliotheken PAN. Es bildeten sich weitere Netze, wie das Netz der Fachbibliotheken sowie das Netz der Bibliotheken der Informations-einrichtungen in den einzelnen Wirtschaftsressorts. Aufgebaut wurde das Netz der Gewerk-schaftsbibliotheken. Auch das Netz der Militärbibliotheken wurde größer. (Zarzębski 1969, S. 8–9; Zarzębski 1991a-2000, S. 37–47) Dem hohen Bedarf an Bibliothekaren entsprechend entwickelte sich die Ausbildung für den bibliothekarischen Beruf. Es entstanden zahlreiche

Ausbildungsstätten,60 vor allem für die höhere und mittlere Qualifikationsebene (Zarzębski 1969, S. 9). Außerdem wurde die neue Berufsgruppe bibliotekarz dyplomowany geschaffen.

Die Angehörigen dieser Berufsgruppe erhielten den Rang eines wissenschaftsdidaktischen Beschäftigten (Zarzębski 1991a-2000, S. 47).

Während der Geltungsdauer des Dekrets wurden 40.000 Bibliotheken neu gegründet. Ihr Bibliotheksbestand wuchs auf 157.000.000 Bände an. (Pawlikowska 1976b, S. 12) Im Jahr 1968 gab es 51.000 Bibliotheken mit insgesamt 185.000.000 Medieneinheiten und einer jähr-lichen Ausleihe von 240.000.000 Bänden61 (Zarzębski 1969, S. 4).