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3. Die Entstehung der polnischen Bibliotheksgesetze

3.1 Die wesentlichen Meilensteine auf dem Weg zum Dekret

3.1.1 Der Ursprung der polnischen Bibliotheksgesetze

Die Wurzeln der polnischen Bibliothekspolitik liegen im späten 18. Jahrhundert, und zwar in der ersten Periode der Tätigkeit der Nationalen Erziehungskommission19 (Komisja Edukacji Narodowej, KEN) (Łodyński 1935, S. 6). Es war die Zeit der Reformprojekte des Königs Stanisław August Poniatowski, die auch das Bildungswesen in Polen-Litauen umfassten. Am 14. Oktober 1773 wurde durch den Teilungssejm die Nationale Erziehungskommission beru-fen (Volumina Legum T. 8, Rn. 266), mit dem Ziel, die Bürger nach einem neuen Vorbild zu erziehen und die Schulen20 an die Bedürfnisse des praktischen Lebens anzupassen (Wróblewska 1985, S. 588–589). Der Rechtsakt des Teilungssejms zur Gründung der Natio-nalen Erziehungskommission ist die Quelle des polnischen Bibliotheksrechts. Zarzębski misst ihm bezüglich der Festlegung einer einheitlichen Bibliothekspolitik sogar die Bedeutung eines Bibliotheksgesetzes bei (Zarzębski 1986, S. 279). Bibliotheken wurden darin nicht explizit genannt. Festgeschrieben wurde aber, dass Schulen und alles, was zur Vervollkommnung der Lehre dient, unter die Aufsicht der Nationalen Erziehungskommission fallen. (Zarzębski 1991a-2000, S. 67) Von diesem Zeitpunkt an standen auch alle Bibliotheken des polnisch-litauischen Staates, abgesehen von Kirchen- und Privatbibliotheken, unter der Obhut der Kommission (Łodyński 1935, S. 7).

Die weitestgehend autonom handelnde und mit eigenen finanziellen Mitteln ausgestattete Erziehungskommission setzte den Wunsch ihres Schöpfers, König Stanisław August Poniatowski, nach einer Erziehung des Volkes zu aufgeklärten Staatsbürgern äußerst

19 Die Nationale Erziehungskommission (1773-1794) bewirkte eine grundlegende Reform des polnischen Bildungssystems. Eine gute Voraussetzung hierfür schuf die Auflösung des Jesuitenordens durch den Papst, zumal die Kommission daraufhin sowohl die Aufsicht über das Schulwesen der Jesuiten als auch die Verwaltung der an den polnisch-litauischen Staat fallenden finanziellen Mittel übernahm (Kriegseisen 2017, S. 507). Die Nationale Erziehungskommission gilt als das erste historische Ministerium für Bildung und Erziehung der Welt (Wróblewska 1985, S. 586).

20 Der Begriff „Schulen“ umfasste damals auch die bedeutenden Akademien.

reich um (Kriegseisen 2017, S. 507). Die Einführung weltlicher Lehrer, das Konzept der Schulhierarchie, die Einführung neuer didaktischer Methoden und die durchgeführten Hoch-schulreformen im Geiste der Aufklärung zählen zu den ganz großen Verdiensten der Erzie-hungskommission (Wróblewska 1985, S. 594). Bibliotheken waren ein wesentlicher Bestand-teil der durchgeführten Bildungsreform (Łodyński 1935, S. 7).

3.1.1.1 Die ersten Bibliotheksrichtlinien

Die Impulse der Aufklärung kamen in den Bibliotheken zu voller Wirkung. Denn die Nationa-le Erziehungskommission nahm sich der Bibliotheken des polnisch-litauischen Staates mit besonderer Sorgfalt an. Drei Leitprinzipien lagen dem Handeln der Erziehungskommission zugrunde: 1. Die Aufgaben der Bibliotheken generieren sich ausschließlich aus den Aufgaben der Schulen, 2. Die Bibliotheken der Schulen und die öffentlichen Bibliotheken stellen eine Einheit dar, 3. Die Leitung der Einheit obliegt einem zentralen Organ (Łodyński 1935, S. 39).

Die Kommission schuf eine zentralistisch aufgebaute Organisation, in der sie die entschei-denden Kompetenzen, wie die Bibliotheksentwicklung, die Konservierung der Bestände, den Bestandszuwachs und die Zugänglichkeit von Bibliotheken in ihrer Hand behielt (Łodyński 1935, S. 10). Sie erließ wegweisende Anordnungen und Vorschriften für Bibliotheken. Diese bezogen sich u. a. auf die Aufgaben, die Organisation und die Finanzierung der Bibliotheken, die Benutzung und Zugänglichkeit von Bibliotheken der Schulen, die Ablieferung von Pflichtexemplaren, das Erfordernis der Errichtung von öffentlichen Bibliotheken, die Vorge-hensweise von Visitatoren von Bibliotheken sowie das Amt und den Status des Bibliothekars (Zarzębski 1991a-2000, S. 68–78). Die ersten rechtlichen Grundlagen für Bibliotheken und zugleich der Beginn einer einheitlichen Bibliothekspolitik sind somit mit den polnischen Gelehrten der Aufklärungsepoche wie Ignaz Potocki, Hugo Kołłataj, Joachim Litawor Chreptowicz, Andrzej Zamocki und Grzegorz Piramowicz verbunden (Zarzębski 1986, S. 280).

3.1.1.2 Die Auswirkungen der Bibliotheksrichtlinien

Trotz schwieriger innen- und außenpolitischer Verhältnisse ließ die Nationale Erziehungs-kommission es nicht beim Verfassen von Regeln für Bibliotheken bewenden. Sie überwachte die Realisierung ihrer Richtlinien, indem sie in den Bibliotheken Kontrollen durchführen ließ.

Diese Kontrollen gaben Auskunft über den Zustand der Bibliotheken und die Umsetzung der Vorschriften und Anordnungen. Maßnahmen zur Verbesserung der räumlichen und personel-len Situation der Bibliotheken wurden ergriffen. Die Versorgung der Bibliotheken mit aktuel-ler an den neuen Fächerkanon angepasster Literatur übernahm die Kommission ebenfalls. In ihrem Fokus standen sogar die Aufstellung und die Verzeichnung der Sammlungen. Die strin-gente Vorgehensweise der Erziehungskommission war der schwierigen Situation der damali-gen Bibliotheken geschuldet. Sie befanden sich in einem desolaten Zustand. Dies traf selbst auf die Bibliotheken der bedeutenden Krakauer und Wilnaer Akademien zu, welche die Erzie-hungskommission einer Umgestaltung unterzog. Die Finanznot, der Personalmangel und die unzulänglichen räumlichen Verhältnisse hatten sich katastrophal ausgewirkt. Es war sogar zu ernsthaften Bestandsschäden aufgrund von Platzmangel, Unordnung sowie Schimmel- und Schädlingsbefall gekommen. (Łodyński 1935, S. 13–32)

Besondere Aufmerksamkeit widmete die Kommission der neu organisierten Bibliothek der Brüder Załuski21. Die qualitativ und zahlenmäßig kostbare Sammlung vertraute die Kommis-sion ihrem Mitglied Ignaz Potocki an. Die Bibliothek benötigte allerdings nicht nur wegen ihrer Größe umfangreichere Zuwendung. Hinzu kamen ihr verwahrloster Zustand, die unge-klärte rechtliche Situation der Bibliothek und die Erbschaftsansprüche der Familie Załuski.

Dieser ersten wissenschaftlichen (aber öffentlich zugänglichen) Bibliothek wurde in der Bibliothekslandschaft eine führende Funktion zugewiesen. Sie übernahm die Rolle der Natio-nalbibliothek und erhielt das Pflichtexemplarrecht des Königreichs Polen. (Zarzębski 1991a-2000, S. 21–22; Łodyński 1935, S. 13)

Das Engagement der Nationalen Erziehungskommission bewirkte eine Reihe positiver Neben-effekte. Die Bibliotheken bekamen eine herausragende Bedeutung. Höhere Wertschätzung gegenüber den bestehenden Sammlungen und die Sorge um deren Fortbestand führten zu um-fangreichen Ordnungsarbeiten in den Bibliotheken. (Łodyński 1935, S. 19) Die öffentlichen

21 Die Załuski-Bibliothek wurde im Jahr 1747 in Warschau für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Jahr 1774 übernahm sie die Rolle der Nationalbibliothek. Den Grundstock der Bibliothek bildete die bedeutende Sammlung der Brüder Józef Andrzej und Andrzej Stanisław Załuski. (Zarzębski 1991a-2000, S. 20–21) Im Jahr 1791 umfasste sie über 300.000 Bände (Łodyński 1935, S. 14). Nach der Schlacht bei Maciejowice und Praga am 3. und 4. November 1794 wurde der reiche Bibliotheksbestand auf Befehl Katharinas II. nach St.

Petersburg überführt und der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek einverleibt. Teile der Sammlung kamen 1921 nach Polen zurück. Sie wurden während der Bombardements 1939 teilweise beschädigt. Im Zuge des Brandkommandos nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im Oktober 1944 wurden sie weitestgehend vernichtet. (Zarzębski 1991a-2000, S. 22)

Bibliotheken wurden ebenfalls zum wichtigen Teil des Bildungssystems. Sie wurden aber vor allem öffentliches Gut und damit zum ersten Mal Sache des Staates. (Zarzębski 1991a-2000, S. 20)

Die Teilung Polen-Litauens im Jahr 1795 wirkte hemmend auf die weitere Entwicklung des polnischen Bibliothekswesens, auch wenn zunächst die Tätigkeit der Erziehungskommission in Herzogtum Warschau und in Kongresspolen fortgeführt wurde. Am 26. Januar 1807 wurde die Kammer für Bildung einberufen, der alle Schulen und im Jahr 1809 die Akademie in Krakau zusammen mit ihren Bibliotheken untergeordnet wurden. Im Jahr 1810 fielen alle wissenschaftlichen Sammlungen und alle öffentlichen Bibliotheken in die Zuständigkeit der nachfolgenden Direktion für Bildung. (Łodyński 1935, S. 40) Zum völligen Erliegen kamen die staatlichen Aktivitäten im bibliothekarischen Bereich nach dem Ausbruch des Aufstands 1830/31 (Kołodziejska 1967, S. 16).